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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Juden und Europa

Das aber ist nicht nur eine Gesundung, sondern zugleich eine Gefahr, der
man, wenn sie auch nicht zu vermeiden ist, doch ins Auge sehen muß.

Wenn die Juden ein besonders begabtes und lebensfähiges Volk sind: als
Volk des Landes sind sie es gerade nicht, sondern als Volk des Buches. Als
politisches Volk haben sie es schon einmal, und zwar an derselben Stelle, schlecht
gemacht. Nun hoffen wir zwar, daß es ihnen ein zweites, vielmehr ein drittes
Mal besser glücken werde. Wir hoffen nämlich, daß sie als ein europäisches
Volk in einer europäisch gewordenen Welt, im Schutze eben dieses Europas,
werden Wurzel schlagen und gedeihen können. Aber bewiesen ist das nicht.
Bewiesen ist vielmehr, daß das Volk, dem Bibel und Talmud schlechtweg bindende
Gesetze waren und das sein gesamtes Leben unter ein strenges Ritual stellte,
sich unter den ungünstigsten äußeren Verhältnissen erhalten hat. Die Kraft der
Juden, die sich bewährt hat, lag im Gesetz. Oder sagen wir mit einem weiteren
Begriff: in der Idee.

Man kann den Wert eines Menschen bestimmen nach seinem Verhältnis
zur Idee, nämlich danach, welche Macht das bloß Ideelle über ihn hat, ob er
einer Idee dienen, sich ihr opfern, ob er sein Leben von der Idee leiten lassen
kann. Dabei ist ihr Inhalt für den sittlichen Wert des Menschen gleichgültig
und nur für seine Intelligenz und sein Wissen bezeichnend.

Dasselbe gilt nun auch für Nationen, und da scheint mir ganz unzweifel¬
haft, daß, wenn nicht der Wert, so doch die Eigenart der Juden darin besteht,
daß sie vor anderen Völkern ein Volk der Idee sind. Bei den Juden hat von
jeher die Idee, das Unwirkliche, der Geist eine ungeheure, oft verhängnisvolle
Rolle gespielt, es hat das Leben des einzelnen wie des Ganzen gleich einer realen
Macht geführt, ja, das Unreale war wirklicher als das Wirkliche. Von den
Juden ist die Gerechtigkeit Gottes erfunden worden. Von den Juden: die
Griechen kannten sie nicht; ihre Götter waren so ungerecht, von Liebe und Haß,
Gunst und Zufall so abhängig wie nur möglich. Erfunden: denn gesehen hat
sie noch niemand. Daß es den Guten gut und den Schlechten schlecht gehe, ist
eine bloße Idee. Die nüchterne Erfahrung beweist das Gegenteil, und um
Gottes Gerechtigkeit dieser Erfahrung zum Trotz aufrecht zu erhalten, mußte
man ein Jenseits erfinden, in dem der Ausgleich erfolge, oder sich damit trösten,
daß der menschliche Verstand nicht hinreiche, um Gottes Wege zu begreifen.
Den Frommen, der trotz unverdienten Mißgeschicks nicht an der göttlichen Güte
zweifelt, haben wir "freien Geister" also nicht zunächst ob seiner Torheit und
intellektuellen Unreinlichkeit gering zu schätzen, sondern wir haben die Kraft zu
bewundern, mit der die Idee in ihm mächtig ist. Schließlich hat die Gerechtig¬
keit Gottes nur als Idee, als Gegensatz zu jeder Erfahrung überhaupt einen
Wert. Denn gesetzt, man könnte sie erfahren, gesetzt, es ließe sich auf empirischem
Wege, sozusagen experimentell feststellen, daß die Guten am Ende ihren Lohn
und die Schlechten ihre Strafe finden -- was hätte dann alles Gutsein für
einen Wert?


Die Juden und Europa

Das aber ist nicht nur eine Gesundung, sondern zugleich eine Gefahr, der
man, wenn sie auch nicht zu vermeiden ist, doch ins Auge sehen muß.

Wenn die Juden ein besonders begabtes und lebensfähiges Volk sind: als
Volk des Landes sind sie es gerade nicht, sondern als Volk des Buches. Als
politisches Volk haben sie es schon einmal, und zwar an derselben Stelle, schlecht
gemacht. Nun hoffen wir zwar, daß es ihnen ein zweites, vielmehr ein drittes
Mal besser glücken werde. Wir hoffen nämlich, daß sie als ein europäisches
Volk in einer europäisch gewordenen Welt, im Schutze eben dieses Europas,
werden Wurzel schlagen und gedeihen können. Aber bewiesen ist das nicht.
Bewiesen ist vielmehr, daß das Volk, dem Bibel und Talmud schlechtweg bindende
Gesetze waren und das sein gesamtes Leben unter ein strenges Ritual stellte,
sich unter den ungünstigsten äußeren Verhältnissen erhalten hat. Die Kraft der
Juden, die sich bewährt hat, lag im Gesetz. Oder sagen wir mit einem weiteren
Begriff: in der Idee.

Man kann den Wert eines Menschen bestimmen nach seinem Verhältnis
zur Idee, nämlich danach, welche Macht das bloß Ideelle über ihn hat, ob er
einer Idee dienen, sich ihr opfern, ob er sein Leben von der Idee leiten lassen
kann. Dabei ist ihr Inhalt für den sittlichen Wert des Menschen gleichgültig
und nur für seine Intelligenz und sein Wissen bezeichnend.

Dasselbe gilt nun auch für Nationen, und da scheint mir ganz unzweifel¬
haft, daß, wenn nicht der Wert, so doch die Eigenart der Juden darin besteht,
daß sie vor anderen Völkern ein Volk der Idee sind. Bei den Juden hat von
jeher die Idee, das Unwirkliche, der Geist eine ungeheure, oft verhängnisvolle
Rolle gespielt, es hat das Leben des einzelnen wie des Ganzen gleich einer realen
Macht geführt, ja, das Unreale war wirklicher als das Wirkliche. Von den
Juden ist die Gerechtigkeit Gottes erfunden worden. Von den Juden: die
Griechen kannten sie nicht; ihre Götter waren so ungerecht, von Liebe und Haß,
Gunst und Zufall so abhängig wie nur möglich. Erfunden: denn gesehen hat
sie noch niemand. Daß es den Guten gut und den Schlechten schlecht gehe, ist
eine bloße Idee. Die nüchterne Erfahrung beweist das Gegenteil, und um
Gottes Gerechtigkeit dieser Erfahrung zum Trotz aufrecht zu erhalten, mußte
man ein Jenseits erfinden, in dem der Ausgleich erfolge, oder sich damit trösten,
daß der menschliche Verstand nicht hinreiche, um Gottes Wege zu begreifen.
Den Frommen, der trotz unverdienten Mißgeschicks nicht an der göttlichen Güte
zweifelt, haben wir „freien Geister" also nicht zunächst ob seiner Torheit und
intellektuellen Unreinlichkeit gering zu schätzen, sondern wir haben die Kraft zu
bewundern, mit der die Idee in ihm mächtig ist. Schließlich hat die Gerechtig¬
keit Gottes nur als Idee, als Gegensatz zu jeder Erfahrung überhaupt einen
Wert. Denn gesetzt, man könnte sie erfahren, gesetzt, es ließe sich auf empirischem
Wege, sozusagen experimentell feststellen, daß die Guten am Ende ihren Lohn
und die Schlechten ihre Strafe finden — was hätte dann alles Gutsein für
einen Wert?


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[0560] Die Juden und Europa Das aber ist nicht nur eine Gesundung, sondern zugleich eine Gefahr, der man, wenn sie auch nicht zu vermeiden ist, doch ins Auge sehen muß. Wenn die Juden ein besonders begabtes und lebensfähiges Volk sind: als Volk des Landes sind sie es gerade nicht, sondern als Volk des Buches. Als politisches Volk haben sie es schon einmal, und zwar an derselben Stelle, schlecht gemacht. Nun hoffen wir zwar, daß es ihnen ein zweites, vielmehr ein drittes Mal besser glücken werde. Wir hoffen nämlich, daß sie als ein europäisches Volk in einer europäisch gewordenen Welt, im Schutze eben dieses Europas, werden Wurzel schlagen und gedeihen können. Aber bewiesen ist das nicht. Bewiesen ist vielmehr, daß das Volk, dem Bibel und Talmud schlechtweg bindende Gesetze waren und das sein gesamtes Leben unter ein strenges Ritual stellte, sich unter den ungünstigsten äußeren Verhältnissen erhalten hat. Die Kraft der Juden, die sich bewährt hat, lag im Gesetz. Oder sagen wir mit einem weiteren Begriff: in der Idee. Man kann den Wert eines Menschen bestimmen nach seinem Verhältnis zur Idee, nämlich danach, welche Macht das bloß Ideelle über ihn hat, ob er einer Idee dienen, sich ihr opfern, ob er sein Leben von der Idee leiten lassen kann. Dabei ist ihr Inhalt für den sittlichen Wert des Menschen gleichgültig und nur für seine Intelligenz und sein Wissen bezeichnend. Dasselbe gilt nun auch für Nationen, und da scheint mir ganz unzweifel¬ haft, daß, wenn nicht der Wert, so doch die Eigenart der Juden darin besteht, daß sie vor anderen Völkern ein Volk der Idee sind. Bei den Juden hat von jeher die Idee, das Unwirkliche, der Geist eine ungeheure, oft verhängnisvolle Rolle gespielt, es hat das Leben des einzelnen wie des Ganzen gleich einer realen Macht geführt, ja, das Unreale war wirklicher als das Wirkliche. Von den Juden ist die Gerechtigkeit Gottes erfunden worden. Von den Juden: die Griechen kannten sie nicht; ihre Götter waren so ungerecht, von Liebe und Haß, Gunst und Zufall so abhängig wie nur möglich. Erfunden: denn gesehen hat sie noch niemand. Daß es den Guten gut und den Schlechten schlecht gehe, ist eine bloße Idee. Die nüchterne Erfahrung beweist das Gegenteil, und um Gottes Gerechtigkeit dieser Erfahrung zum Trotz aufrecht zu erhalten, mußte man ein Jenseits erfinden, in dem der Ausgleich erfolge, oder sich damit trösten, daß der menschliche Verstand nicht hinreiche, um Gottes Wege zu begreifen. Den Frommen, der trotz unverdienten Mißgeschicks nicht an der göttlichen Güte zweifelt, haben wir „freien Geister" also nicht zunächst ob seiner Torheit und intellektuellen Unreinlichkeit gering zu schätzen, sondern wir haben die Kraft zu bewundern, mit der die Idee in ihm mächtig ist. Schließlich hat die Gerechtig¬ keit Gottes nur als Idee, als Gegensatz zu jeder Erfahrung überhaupt einen Wert. Denn gesetzt, man könnte sie erfahren, gesetzt, es ließe sich auf empirischem Wege, sozusagen experimentell feststellen, daß die Guten am Ende ihren Lohn und die Schlechten ihre Strafe finden — was hätte dann alles Gutsein für einen Wert?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/560>, abgerufen am 20.10.2024.