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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Juden und Europa

rechte waren auch die bis dahin verachteten Juden in den Orden der "Menschheit",
wie man sagte, der Kulturmenschheit, wie man meinte, d. h. in die Gemeinschaft
Europas aufgenommen worden. Das erste Beispiel eines Ghettojuden, der es
durch Selbstzucht zum Europäer gebracht hatte, bot unter dem verwunderten
Beifall von Juden und Christen Moses Mendelssohn dar. Seitdem drängten
sich die neuen Schüler massenweise zur europäischen Kultur. Europäer zu
werden, das ist letzten Endes das Ziel und der Stolz der Assimilation, in ihren
Anfängen so gut wie heute. Man emanzipierte sich von den uneuropäischen
Volkssitten oder -Unsitten, legte die unterscheidende Tracht ab, lernte deutsch oder
französisch oder englisch schreiben und sprechen; man emanzipierte sich auch von
dem alttestamentlichen Jehova und dem rabbinischen Ritual und machte das
Judentum europafähig, demselben Zuge der Aufklärung folgend, der auch die
christliche Religion zum Bekennen eines fast unpersönlichen höchsten Wesens und
zur allgemeinen Moralität ohne bestimmte Vorschriften vergeistigte oder ver¬
flüchtigte. Äußeres Kennzeichen, sozusagen das Diplom für erreichte Europawürde,
war die Verleihung der unbeschränkten staatsbürgerlichen Rechte in den jeweiligen
Heimatstaaten. Und um den Anspruch auf solche Einfügung theoretisch zu er¬
weisen, erklärte man das Judentum als bloße Religion, versteht sich das
Judentum in geläuterter Fassung, wie es liberale Rabbiner in Reformtempeln
ausbeuteten, in welcher Gestalt es sich nun wirklich von der ebenso gedeuteten
christlichen Religion durch kaum mehr als den Namen unterschied.

Der Stolz auf unser Europäertum sitzt uns Juden allen noch heutigen
Tages tief im Blute. Die uns Semiten und Asiaten nennen, wissen sehr gut
unsere empfindlichste Stelle zu treffen. Wir beweisen mit diesem Stolz und
dieser Empfindlichkeit das Gegenteil von dem, was wir beweisen wollen: daß
die Würde neu und ungewohnt ist, daß wir die Parvenus in Europa sind.
Daß sämtliche Juden, plötzlich in Palästina vereinigt, nicht Europa, nicht
Kultur, sondern Unkultur wären, ein bloßer Haufe ganz disparater Elemente,
das ist die Tragik im Zionismus, das ist es, warum sich zu ihm bekennen für
uns Westeuropäer ein Opfer bedeutet. Daß man sie um ihre Würde als
Europäer bringen wolle, dieser Verdacht reizt unsere jüdischen Gegner so heftig
gegen uns auf; diese Furcht hält sie von uns fern. Sie ahnen nicht, daß sie
es sind, die noch immer an einem alten, schon veralteten Ideale hängen; sie
erkennen nicht die Zeichen der Zeit, welche vom Humanismus und Welt¬
bürgertum fortgeschritten ist zum Individualismus und Nationalismus; sie merken
nichts davon, daß wir Nationaljuden, die wir die neue geistige Orientierung
als gute Schüler auf uns selber angewendet haben, die europäischeren Juden sind.
Sie wollen sich auch nicht eingestehen, daß sie in doppeltem Sinne für eine verlorene
Sache fechten: nicht nur, weil sie auf einer überwundenen Entwicklungsstufe Europas
stehengeblieben sind, sondern auch, weil das Judentum, in ihrem Sinne als bloße Re¬
ligion gefaßt, tot ist. Denn ein höchstes göttliches Wesen und das allgemeine Sitten-
gesetz. etwa in Kants Sinne, auf welche beiden Begriffe man jetzt das "mosaische


Grenzboten III 1913 35
Die Juden und Europa

rechte waren auch die bis dahin verachteten Juden in den Orden der „Menschheit",
wie man sagte, der Kulturmenschheit, wie man meinte, d. h. in die Gemeinschaft
Europas aufgenommen worden. Das erste Beispiel eines Ghettojuden, der es
durch Selbstzucht zum Europäer gebracht hatte, bot unter dem verwunderten
Beifall von Juden und Christen Moses Mendelssohn dar. Seitdem drängten
sich die neuen Schüler massenweise zur europäischen Kultur. Europäer zu
werden, das ist letzten Endes das Ziel und der Stolz der Assimilation, in ihren
Anfängen so gut wie heute. Man emanzipierte sich von den uneuropäischen
Volkssitten oder -Unsitten, legte die unterscheidende Tracht ab, lernte deutsch oder
französisch oder englisch schreiben und sprechen; man emanzipierte sich auch von
dem alttestamentlichen Jehova und dem rabbinischen Ritual und machte das
Judentum europafähig, demselben Zuge der Aufklärung folgend, der auch die
christliche Religion zum Bekennen eines fast unpersönlichen höchsten Wesens und
zur allgemeinen Moralität ohne bestimmte Vorschriften vergeistigte oder ver¬
flüchtigte. Äußeres Kennzeichen, sozusagen das Diplom für erreichte Europawürde,
war die Verleihung der unbeschränkten staatsbürgerlichen Rechte in den jeweiligen
Heimatstaaten. Und um den Anspruch auf solche Einfügung theoretisch zu er¬
weisen, erklärte man das Judentum als bloße Religion, versteht sich das
Judentum in geläuterter Fassung, wie es liberale Rabbiner in Reformtempeln
ausbeuteten, in welcher Gestalt es sich nun wirklich von der ebenso gedeuteten
christlichen Religion durch kaum mehr als den Namen unterschied.

Der Stolz auf unser Europäertum sitzt uns Juden allen noch heutigen
Tages tief im Blute. Die uns Semiten und Asiaten nennen, wissen sehr gut
unsere empfindlichste Stelle zu treffen. Wir beweisen mit diesem Stolz und
dieser Empfindlichkeit das Gegenteil von dem, was wir beweisen wollen: daß
die Würde neu und ungewohnt ist, daß wir die Parvenus in Europa sind.
Daß sämtliche Juden, plötzlich in Palästina vereinigt, nicht Europa, nicht
Kultur, sondern Unkultur wären, ein bloßer Haufe ganz disparater Elemente,
das ist die Tragik im Zionismus, das ist es, warum sich zu ihm bekennen für
uns Westeuropäer ein Opfer bedeutet. Daß man sie um ihre Würde als
Europäer bringen wolle, dieser Verdacht reizt unsere jüdischen Gegner so heftig
gegen uns auf; diese Furcht hält sie von uns fern. Sie ahnen nicht, daß sie
es sind, die noch immer an einem alten, schon veralteten Ideale hängen; sie
erkennen nicht die Zeichen der Zeit, welche vom Humanismus und Welt¬
bürgertum fortgeschritten ist zum Individualismus und Nationalismus; sie merken
nichts davon, daß wir Nationaljuden, die wir die neue geistige Orientierung
als gute Schüler auf uns selber angewendet haben, die europäischeren Juden sind.
Sie wollen sich auch nicht eingestehen, daß sie in doppeltem Sinne für eine verlorene
Sache fechten: nicht nur, weil sie auf einer überwundenen Entwicklungsstufe Europas
stehengeblieben sind, sondern auch, weil das Judentum, in ihrem Sinne als bloße Re¬
ligion gefaßt, tot ist. Denn ein höchstes göttliches Wesen und das allgemeine Sitten-
gesetz. etwa in Kants Sinne, auf welche beiden Begriffe man jetzt das „mosaische


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[0557] Die Juden und Europa rechte waren auch die bis dahin verachteten Juden in den Orden der „Menschheit", wie man sagte, der Kulturmenschheit, wie man meinte, d. h. in die Gemeinschaft Europas aufgenommen worden. Das erste Beispiel eines Ghettojuden, der es durch Selbstzucht zum Europäer gebracht hatte, bot unter dem verwunderten Beifall von Juden und Christen Moses Mendelssohn dar. Seitdem drängten sich die neuen Schüler massenweise zur europäischen Kultur. Europäer zu werden, das ist letzten Endes das Ziel und der Stolz der Assimilation, in ihren Anfängen so gut wie heute. Man emanzipierte sich von den uneuropäischen Volkssitten oder -Unsitten, legte die unterscheidende Tracht ab, lernte deutsch oder französisch oder englisch schreiben und sprechen; man emanzipierte sich auch von dem alttestamentlichen Jehova und dem rabbinischen Ritual und machte das Judentum europafähig, demselben Zuge der Aufklärung folgend, der auch die christliche Religion zum Bekennen eines fast unpersönlichen höchsten Wesens und zur allgemeinen Moralität ohne bestimmte Vorschriften vergeistigte oder ver¬ flüchtigte. Äußeres Kennzeichen, sozusagen das Diplom für erreichte Europawürde, war die Verleihung der unbeschränkten staatsbürgerlichen Rechte in den jeweiligen Heimatstaaten. Und um den Anspruch auf solche Einfügung theoretisch zu er¬ weisen, erklärte man das Judentum als bloße Religion, versteht sich das Judentum in geläuterter Fassung, wie es liberale Rabbiner in Reformtempeln ausbeuteten, in welcher Gestalt es sich nun wirklich von der ebenso gedeuteten christlichen Religion durch kaum mehr als den Namen unterschied. Der Stolz auf unser Europäertum sitzt uns Juden allen noch heutigen Tages tief im Blute. Die uns Semiten und Asiaten nennen, wissen sehr gut unsere empfindlichste Stelle zu treffen. Wir beweisen mit diesem Stolz und dieser Empfindlichkeit das Gegenteil von dem, was wir beweisen wollen: daß die Würde neu und ungewohnt ist, daß wir die Parvenus in Europa sind. Daß sämtliche Juden, plötzlich in Palästina vereinigt, nicht Europa, nicht Kultur, sondern Unkultur wären, ein bloßer Haufe ganz disparater Elemente, das ist die Tragik im Zionismus, das ist es, warum sich zu ihm bekennen für uns Westeuropäer ein Opfer bedeutet. Daß man sie um ihre Würde als Europäer bringen wolle, dieser Verdacht reizt unsere jüdischen Gegner so heftig gegen uns auf; diese Furcht hält sie von uns fern. Sie ahnen nicht, daß sie es sind, die noch immer an einem alten, schon veralteten Ideale hängen; sie erkennen nicht die Zeichen der Zeit, welche vom Humanismus und Welt¬ bürgertum fortgeschritten ist zum Individualismus und Nationalismus; sie merken nichts davon, daß wir Nationaljuden, die wir die neue geistige Orientierung als gute Schüler auf uns selber angewendet haben, die europäischeren Juden sind. Sie wollen sich auch nicht eingestehen, daß sie in doppeltem Sinne für eine verlorene Sache fechten: nicht nur, weil sie auf einer überwundenen Entwicklungsstufe Europas stehengeblieben sind, sondern auch, weil das Judentum, in ihrem Sinne als bloße Re¬ ligion gefaßt, tot ist. Denn ein höchstes göttliches Wesen und das allgemeine Sitten- gesetz. etwa in Kants Sinne, auf welche beiden Begriffe man jetzt das „mosaische Grenzboten III 1913 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/557>, abgerufen am 19.10.2024.