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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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sein, nur kann bei nichtsouveränen Staaten die Ausübung der aktiven Be¬
fugnisse völkerrechtlicher Persönlichkeit eingeschränkt sein, sofern ihr staatsrecht¬
licher Untertanengehorsam in Betracht kommt.

Das Völkerrecht ist für die gegenwärtig herrschende, streng positivistische
Theorie noch immer kein Weltrecht. Es gilt nicht für alle sich irgendwo auf
dem Erdball befindenden Stammesverbände. Das ehemals angenommene,
"natürliche" Völkerrecht, welches die Grundsätze des Naturrechts, wie auf die
gegenseitigen Beziehungen der Einzelindividuen, so auch auf die aller Nationen
und Stammesverbände der Erde ausdehnen wollte, ist infolge der Aufklärungs¬
arbeit der "historischen Schule" längst aus dem Glciübenskreis von Theorie
und Völkerpraxis verschwunden. Das Völkerrecht ist lediglich die Verkehrsrechts¬
ordnung der anerkannten Kulturstaaten der Erde. Das Wort "Kulturstaat"
geht hier allein auf solche Staatsverbande, welche in fortgeschrittener Entwicklung
"eine annähernd gleiche Stufe des innerstaatlichen Rechts- und Wirtschaftslebens,
wie auch namentlich der moralischen Anschauungen über Gut und Böse, Recht
und Unrecht, über Pflichterfüllung" erlangt haben (Heilborn). Eine derartige,
durch ein positives Völkerrechtssustem zusammengehaltene Kulturstaatenge¬
meinschaft ist, wie bereits angedeutet, erst ein Produkt der letzten Jahrhunderte.
Die Zeit der Antike machten der nationale Eigendünkel der damaligen
Kulturvölker und die einreißende Weltherrschaftstendenz des Römertums für
den Völkerrechtsgedankcn an sich unfruchtbar. Erst gegen Ausgang des Mittel¬
alters waren im christlichen Europa die Grundlagen gegeben, aus welchen das
Völkerrecht der modernen Kulturstaaten erwachsen ist. Unter dem Einfluß
christlich-romanisch-germanischer Kultur war in Europa eine Mehrheit von
selbständigen Staatsverbänden entstanden, welche auf dem Fuße der Gleich¬
ordnung dauernden Verkehr miteinander pflegten und mit der Zeit sich auch
bewußt wurden, daß diesem Verkehr eine aus rechtlicher Gemeinüberzeugung
fließende Rechtsordnung zugrunde liege. Zu diesem romanisch-germanischen
Staatenkreise traten alsbald die slavischen Staaten als neue Verkehrsrechtsgenossen
hinzu. So war das Völkerrecht noch um die Wende des achtzehnten zum neun¬
zehnten Jahrhundert an sich ein "christliches" oder "europäisches" Völkerrecht,
wenngleich nunmehr auch die selbständig werdenden Kolonien in Amerika der
Völkerrechtsgemeinschaft sich anschlössen. Erst als 185K auf dem Pariser
Kongreß die Türkei offiziell in die Völkerrechtsgemeinschaft aufgenommen war,
streifte letztere grundsätzlich den Charakter einer christlichen Staatengemeinschaft
ab und stellte sich auf den Boden allgemein-menschlicher Kultur. Damit war
auch die Bahn erschlossen, daß gegen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts
Japan unter allgemeiner Anerkennung vollberechtigtes Glied der Völkerrechts¬
gemeinschaft werden konnte. Ob darüber hinaus auch Persien, Siam, China
zu den Vollgenossen der Völkerrechtsgemeinschaft zählen, ist streitig. Die
herrschende Meinung verneint das und rechnet diese drei Staaten zu den so¬
genannten halbzivilifierten Staaten, für welche gegenüber den anerkannten Kultur-


Internationales Roche und internationale Rechtsgemeinschaft

sein, nur kann bei nichtsouveränen Staaten die Ausübung der aktiven Be¬
fugnisse völkerrechtlicher Persönlichkeit eingeschränkt sein, sofern ihr staatsrecht¬
licher Untertanengehorsam in Betracht kommt.

Das Völkerrecht ist für die gegenwärtig herrschende, streng positivistische
Theorie noch immer kein Weltrecht. Es gilt nicht für alle sich irgendwo auf
dem Erdball befindenden Stammesverbände. Das ehemals angenommene,
„natürliche" Völkerrecht, welches die Grundsätze des Naturrechts, wie auf die
gegenseitigen Beziehungen der Einzelindividuen, so auch auf die aller Nationen
und Stammesverbände der Erde ausdehnen wollte, ist infolge der Aufklärungs¬
arbeit der „historischen Schule" längst aus dem Glciübenskreis von Theorie
und Völkerpraxis verschwunden. Das Völkerrecht ist lediglich die Verkehrsrechts¬
ordnung der anerkannten Kulturstaaten der Erde. Das Wort „Kulturstaat"
geht hier allein auf solche Staatsverbande, welche in fortgeschrittener Entwicklung
„eine annähernd gleiche Stufe des innerstaatlichen Rechts- und Wirtschaftslebens,
wie auch namentlich der moralischen Anschauungen über Gut und Böse, Recht
und Unrecht, über Pflichterfüllung" erlangt haben (Heilborn). Eine derartige,
durch ein positives Völkerrechtssustem zusammengehaltene Kulturstaatenge¬
meinschaft ist, wie bereits angedeutet, erst ein Produkt der letzten Jahrhunderte.
Die Zeit der Antike machten der nationale Eigendünkel der damaligen
Kulturvölker und die einreißende Weltherrschaftstendenz des Römertums für
den Völkerrechtsgedankcn an sich unfruchtbar. Erst gegen Ausgang des Mittel¬
alters waren im christlichen Europa die Grundlagen gegeben, aus welchen das
Völkerrecht der modernen Kulturstaaten erwachsen ist. Unter dem Einfluß
christlich-romanisch-germanischer Kultur war in Europa eine Mehrheit von
selbständigen Staatsverbänden entstanden, welche auf dem Fuße der Gleich¬
ordnung dauernden Verkehr miteinander pflegten und mit der Zeit sich auch
bewußt wurden, daß diesem Verkehr eine aus rechtlicher Gemeinüberzeugung
fließende Rechtsordnung zugrunde liege. Zu diesem romanisch-germanischen
Staatenkreise traten alsbald die slavischen Staaten als neue Verkehrsrechtsgenossen
hinzu. So war das Völkerrecht noch um die Wende des achtzehnten zum neun¬
zehnten Jahrhundert an sich ein „christliches" oder „europäisches" Völkerrecht,
wenngleich nunmehr auch die selbständig werdenden Kolonien in Amerika der
Völkerrechtsgemeinschaft sich anschlössen. Erst als 185K auf dem Pariser
Kongreß die Türkei offiziell in die Völkerrechtsgemeinschaft aufgenommen war,
streifte letztere grundsätzlich den Charakter einer christlichen Staatengemeinschaft
ab und stellte sich auf den Boden allgemein-menschlicher Kultur. Damit war
auch die Bahn erschlossen, daß gegen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts
Japan unter allgemeiner Anerkennung vollberechtigtes Glied der Völkerrechts¬
gemeinschaft werden konnte. Ob darüber hinaus auch Persien, Siam, China
zu den Vollgenossen der Völkerrechtsgemeinschaft zählen, ist streitig. Die
herrschende Meinung verneint das und rechnet diese drei Staaten zu den so¬
genannten halbzivilifierten Staaten, für welche gegenüber den anerkannten Kultur-


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[0550] Internationales Roche und internationale Rechtsgemeinschaft sein, nur kann bei nichtsouveränen Staaten die Ausübung der aktiven Be¬ fugnisse völkerrechtlicher Persönlichkeit eingeschränkt sein, sofern ihr staatsrecht¬ licher Untertanengehorsam in Betracht kommt. Das Völkerrecht ist für die gegenwärtig herrschende, streng positivistische Theorie noch immer kein Weltrecht. Es gilt nicht für alle sich irgendwo auf dem Erdball befindenden Stammesverbände. Das ehemals angenommene, „natürliche" Völkerrecht, welches die Grundsätze des Naturrechts, wie auf die gegenseitigen Beziehungen der Einzelindividuen, so auch auf die aller Nationen und Stammesverbände der Erde ausdehnen wollte, ist infolge der Aufklärungs¬ arbeit der „historischen Schule" längst aus dem Glciübenskreis von Theorie und Völkerpraxis verschwunden. Das Völkerrecht ist lediglich die Verkehrsrechts¬ ordnung der anerkannten Kulturstaaten der Erde. Das Wort „Kulturstaat" geht hier allein auf solche Staatsverbande, welche in fortgeschrittener Entwicklung „eine annähernd gleiche Stufe des innerstaatlichen Rechts- und Wirtschaftslebens, wie auch namentlich der moralischen Anschauungen über Gut und Böse, Recht und Unrecht, über Pflichterfüllung" erlangt haben (Heilborn). Eine derartige, durch ein positives Völkerrechtssustem zusammengehaltene Kulturstaatenge¬ meinschaft ist, wie bereits angedeutet, erst ein Produkt der letzten Jahrhunderte. Die Zeit der Antike machten der nationale Eigendünkel der damaligen Kulturvölker und die einreißende Weltherrschaftstendenz des Römertums für den Völkerrechtsgedankcn an sich unfruchtbar. Erst gegen Ausgang des Mittel¬ alters waren im christlichen Europa die Grundlagen gegeben, aus welchen das Völkerrecht der modernen Kulturstaaten erwachsen ist. Unter dem Einfluß christlich-romanisch-germanischer Kultur war in Europa eine Mehrheit von selbständigen Staatsverbänden entstanden, welche auf dem Fuße der Gleich¬ ordnung dauernden Verkehr miteinander pflegten und mit der Zeit sich auch bewußt wurden, daß diesem Verkehr eine aus rechtlicher Gemeinüberzeugung fließende Rechtsordnung zugrunde liege. Zu diesem romanisch-germanischen Staatenkreise traten alsbald die slavischen Staaten als neue Verkehrsrechtsgenossen hinzu. So war das Völkerrecht noch um die Wende des achtzehnten zum neun¬ zehnten Jahrhundert an sich ein „christliches" oder „europäisches" Völkerrecht, wenngleich nunmehr auch die selbständig werdenden Kolonien in Amerika der Völkerrechtsgemeinschaft sich anschlössen. Erst als 185K auf dem Pariser Kongreß die Türkei offiziell in die Völkerrechtsgemeinschaft aufgenommen war, streifte letztere grundsätzlich den Charakter einer christlichen Staatengemeinschaft ab und stellte sich auf den Boden allgemein-menschlicher Kultur. Damit war auch die Bahn erschlossen, daß gegen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Japan unter allgemeiner Anerkennung vollberechtigtes Glied der Völkerrechts¬ gemeinschaft werden konnte. Ob darüber hinaus auch Persien, Siam, China zu den Vollgenossen der Völkerrechtsgemeinschaft zählen, ist streitig. Die herrschende Meinung verneint das und rechnet diese drei Staaten zu den so¬ genannten halbzivilifierten Staaten, für welche gegenüber den anerkannten Kultur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/550>, abgerufen am 20.10.2024.