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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

mitteile Kenntnis", die Süntel verwirft. Das
ist die Autorität, die wir brauchen; sie ist
genau betrachtet stets eine Art Überlieferung,
während aller Verstandesunterricht offenbar
zur Anarchie führt. Die Menschheit kann
eben die Erfahrung des Abwesenden (und
Vergangenen) immer nur auf fremde Auto¬
rität, auf mittelbare Überlieferung hin machen,
aber auch die unmittelbare zerstreute Erfah¬
rung des Gegenwärtigen durch das Experiment
muß sie aus zeitökonomischen wie psycholo¬
gischen Gründen immer sehr beschränken. In
diesem Sinne gehören auch die Lehrer der
Realien zu den "Philologen"; sie werden den
Vorzug, inhaltlich neue Erkenntnis zu ge¬
winnen, ohne Neid meist anderen gönnen,
da ihre Stärke darin besteht, Bildung zu
vermitteln, bei der es darauf ankommt, den
Kreis menschlicher Vorstellungsarten forment
zu durchlaufen, um so das menschliche Ge¬
schlecht zu reicherem und tieferem Verständnis
seiner selbst zu führen.

3.

"Welcher Lehrer spricht
Die Wahrheit uns direkt ins Angesicht?
[Spaltenumbruch]
Ein jeder weiß zu mehren, wie zu
mindern,
Bald ernst, bald heiter klug zu frommen
Kindern."

Diese Kunst der Unterscheidung zwischen
Wichtigem und Unwichtigem, zwischen Abso¬
luten und Trcmsitorischem sollen praktische
Fachleute besser verstehen als Lehrer von
Beruf? Das ist in der Tat neu, es zu be¬
weisen dürfte schwer fallen.
4. "Jedes gute Buch, und besonders die der
Alten, versteht und genießt niemand, als wer
sie supplieren kann. Wer etwas weiß, findet
unendlich mehr in ihnen als derjenige, der
erst lernen will" -- ein Trost für die ge¬
scholtenen Bücherfreunde,
ö. "Die neuere Zeit schützt sich selbst zu hoch,
wegen der großen Masse Stoffes, den sie um¬
faßt. Der Hauptvorzug des Menschen beruht
aber nur darauf, inwiefern er den Stoff zu
behandeln und zu beherrschen weiß."

Leicht ließe sich diese Reihe von Zitaten
oder Gedanken noch vermehren, wie sie aus
Faust und der Farbenlehre in mir auftauchten,
als ich Sunkels Artikel las, doch ich will den

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

mitteile Kenntnis", die Süntel verwirft. Das
ist die Autorität, die wir brauchen; sie ist
genau betrachtet stets eine Art Überlieferung,
während aller Verstandesunterricht offenbar
zur Anarchie führt. Die Menschheit kann
eben die Erfahrung des Abwesenden (und
Vergangenen) immer nur auf fremde Auto¬
rität, auf mittelbare Überlieferung hin machen,
aber auch die unmittelbare zerstreute Erfah¬
rung des Gegenwärtigen durch das Experiment
muß sie aus zeitökonomischen wie psycholo¬
gischen Gründen immer sehr beschränken. In
diesem Sinne gehören auch die Lehrer der
Realien zu den „Philologen"; sie werden den
Vorzug, inhaltlich neue Erkenntnis zu ge¬
winnen, ohne Neid meist anderen gönnen,
da ihre Stärke darin besteht, Bildung zu
vermitteln, bei der es darauf ankommt, den
Kreis menschlicher Vorstellungsarten forment
zu durchlaufen, um so das menschliche Ge¬
schlecht zu reicherem und tieferem Verständnis
seiner selbst zu führen.

3.

„Welcher Lehrer spricht
Die Wahrheit uns direkt ins Angesicht?
[Spaltenumbruch]
Ein jeder weiß zu mehren, wie zu
mindern,
Bald ernst, bald heiter klug zu frommen
Kindern."

Diese Kunst der Unterscheidung zwischen
Wichtigem und Unwichtigem, zwischen Abso¬
luten und Trcmsitorischem sollen praktische
Fachleute besser verstehen als Lehrer von
Beruf? Das ist in der Tat neu, es zu be¬
weisen dürfte schwer fallen.
4. „Jedes gute Buch, und besonders die der
Alten, versteht und genießt niemand, als wer
sie supplieren kann. Wer etwas weiß, findet
unendlich mehr in ihnen als derjenige, der
erst lernen will" — ein Trost für die ge¬
scholtenen Bücherfreunde,
ö. „Die neuere Zeit schützt sich selbst zu hoch,
wegen der großen Masse Stoffes, den sie um¬
faßt. Der Hauptvorzug des Menschen beruht
aber nur darauf, inwiefern er den Stoff zu
behandeln und zu beherrschen weiß."

Leicht ließe sich diese Reihe von Zitaten
oder Gedanken noch vermehren, wie sie aus
Faust und der Farbenlehre in mir auftauchten,
als ich Sunkels Artikel las, doch ich will den

[Ende Spaltensatz]


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[0539] Maßgebliches und Unmaßgebliches mitteile Kenntnis", die Süntel verwirft. Das ist die Autorität, die wir brauchen; sie ist genau betrachtet stets eine Art Überlieferung, während aller Verstandesunterricht offenbar zur Anarchie führt. Die Menschheit kann eben die Erfahrung des Abwesenden (und Vergangenen) immer nur auf fremde Auto¬ rität, auf mittelbare Überlieferung hin machen, aber auch die unmittelbare zerstreute Erfah¬ rung des Gegenwärtigen durch das Experiment muß sie aus zeitökonomischen wie psycholo¬ gischen Gründen immer sehr beschränken. In diesem Sinne gehören auch die Lehrer der Realien zu den „Philologen"; sie werden den Vorzug, inhaltlich neue Erkenntnis zu ge¬ winnen, ohne Neid meist anderen gönnen, da ihre Stärke darin besteht, Bildung zu vermitteln, bei der es darauf ankommt, den Kreis menschlicher Vorstellungsarten forment zu durchlaufen, um so das menschliche Ge¬ schlecht zu reicherem und tieferem Verständnis seiner selbst zu führen. 3. „Welcher Lehrer spricht Die Wahrheit uns direkt ins Angesicht? Ein jeder weiß zu mehren, wie zu mindern, Bald ernst, bald heiter klug zu frommen Kindern." Diese Kunst der Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, zwischen Abso¬ luten und Trcmsitorischem sollen praktische Fachleute besser verstehen als Lehrer von Beruf? Das ist in der Tat neu, es zu be¬ weisen dürfte schwer fallen. 4. „Jedes gute Buch, und besonders die der Alten, versteht und genießt niemand, als wer sie supplieren kann. Wer etwas weiß, findet unendlich mehr in ihnen als derjenige, der erst lernen will" — ein Trost für die ge¬ scholtenen Bücherfreunde, ö. „Die neuere Zeit schützt sich selbst zu hoch, wegen der großen Masse Stoffes, den sie um¬ faßt. Der Hauptvorzug des Menschen beruht aber nur darauf, inwiefern er den Stoff zu behandeln und zu beherrschen weiß." Leicht ließe sich diese Reihe von Zitaten oder Gedanken noch vermehren, wie sie aus Faust und der Farbenlehre in mir auftauchten, als ich Sunkels Artikel las, doch ich will den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/539>, abgerufen am 28.12.2024.