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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

"Gut!" dachte er. "Geh du zurück in deine enge Welt."

Gelassen ging er die Treppe wieder hinauf, packte seine paar Sachen zu¬
sammen, nahm den Pappkarton und verließ das Haus . . .




Pastor Tannebaum klopfte leise an die Tür von Herrn von Wenkendorffs
Arbeitszimmer. Das "Herein" war kaum zu hören.

"Wegen der Sargschrift komme ich, und ich dachte an das Gleichnis vom
getreuen Knecht -- wenn es dem Herrn Baron recht ist..."

"Lassen Sie mir noch eine halbe Stunde Zeit, lieber Herr Pastor!" sagte
Herr von Wenkendorff mit einer belegten Stimme. "Ich schicke Ihnen dann
Bescheid, und auch die Daten schicke ich mit!"

Pastor Tannebaum entschuldigte sich wegen der Störung und verließ den
Raum wieder ebenso leise wie er gekommen war.

Herr von Wenkendorff fuhr fort, in der Mappe zu blättern, die vor ihm
auf der Platte des alten roten Mahagonisekretärs lag. Er bewahrte alle seine
Angehörigen betreffenden Schriftstücke auf. Jetzt kam er zu den Papieren des
Försters Sandberg. Da die Kirchenbücher bei der Einäscherung des Gotteshauses
ein Raub der Flammen geworden waren, hatte Pastor Tannebaum den Guts¬
herrn um die Lehmstaken des Verstorbenen gebeten.

Herr von Wenkendorff war gleichzeitig der Vormund und der Pate Sand¬
bergs gewesen und hatte seine Pflichten treu erfüllt. Das Lebensschifflein dieses
verwaisten Estenkindes war von einem guten Steuermann gelenkt worden. Und,
wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sich der junge Mann auf einen
ganz anderen Platz stellen können, als für den ihn seine Geburt bestimmt zu
haben schien.

Hier lag das Abgangszeugnis aus dem Alexandergmnnasium in Reval,
das dem sekundärer Sandberg mehr als gewöhnliche Begabung und Fleiß
bescheinigte. Er hätte spielend das Maturum bestanden, aber er überraschte
seinen ahnungslosen Vormund mit dem eigensinnigen Wunsch, das Gymnasium
vorzeitig zu verlassen.

Nach den Gründen gefragt, war keine befriedigende Erklärung aus ihm
herauszubringen.

Der Försterberuf, den er ergreifen wollte, entsprach seinem Hang zur Ein¬
samkeit. So ließ ihn sein Vormund gewähren und hatte es nicht zu bereuen.
Sternburgs berühmte Forstkultur war zum großen Teil Sandbergs Verdienst.

Wie sprach die Vergangenheit aus diesen vergilbten Papieren zu dem alten
Mann, der jetzt in ihnen blätterte!

Linda Sandberg, Tochter des Schulmeisters Thomas Sandberg! Wieder
steht sie im Wald am grauen Opferstein unter der alten Eiche und wartet auf
ihn, wie sie es so oft in den zwei Jahren getan hatte. Dem Finkenruf ant¬
wortet der langgezogene Pfiff des Habichts. Und der Habicht hat den armen
kleinen Finken schließlich doch gemordet. . . .


Sturm

„Gut!" dachte er. „Geh du zurück in deine enge Welt."

Gelassen ging er die Treppe wieder hinauf, packte seine paar Sachen zu¬
sammen, nahm den Pappkarton und verließ das Haus . . .




Pastor Tannebaum klopfte leise an die Tür von Herrn von Wenkendorffs
Arbeitszimmer. Das „Herein" war kaum zu hören.

„Wegen der Sargschrift komme ich, und ich dachte an das Gleichnis vom
getreuen Knecht — wenn es dem Herrn Baron recht ist..."

„Lassen Sie mir noch eine halbe Stunde Zeit, lieber Herr Pastor!" sagte
Herr von Wenkendorff mit einer belegten Stimme. „Ich schicke Ihnen dann
Bescheid, und auch die Daten schicke ich mit!"

Pastor Tannebaum entschuldigte sich wegen der Störung und verließ den
Raum wieder ebenso leise wie er gekommen war.

Herr von Wenkendorff fuhr fort, in der Mappe zu blättern, die vor ihm
auf der Platte des alten roten Mahagonisekretärs lag. Er bewahrte alle seine
Angehörigen betreffenden Schriftstücke auf. Jetzt kam er zu den Papieren des
Försters Sandberg. Da die Kirchenbücher bei der Einäscherung des Gotteshauses
ein Raub der Flammen geworden waren, hatte Pastor Tannebaum den Guts¬
herrn um die Lehmstaken des Verstorbenen gebeten.

Herr von Wenkendorff war gleichzeitig der Vormund und der Pate Sand¬
bergs gewesen und hatte seine Pflichten treu erfüllt. Das Lebensschifflein dieses
verwaisten Estenkindes war von einem guten Steuermann gelenkt worden. Und,
wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sich der junge Mann auf einen
ganz anderen Platz stellen können, als für den ihn seine Geburt bestimmt zu
haben schien.

Hier lag das Abgangszeugnis aus dem Alexandergmnnasium in Reval,
das dem sekundärer Sandberg mehr als gewöhnliche Begabung und Fleiß
bescheinigte. Er hätte spielend das Maturum bestanden, aber er überraschte
seinen ahnungslosen Vormund mit dem eigensinnigen Wunsch, das Gymnasium
vorzeitig zu verlassen.

Nach den Gründen gefragt, war keine befriedigende Erklärung aus ihm
herauszubringen.

Der Försterberuf, den er ergreifen wollte, entsprach seinem Hang zur Ein¬
samkeit. So ließ ihn sein Vormund gewähren und hatte es nicht zu bereuen.
Sternburgs berühmte Forstkultur war zum großen Teil Sandbergs Verdienst.

Wie sprach die Vergangenheit aus diesen vergilbten Papieren zu dem alten
Mann, der jetzt in ihnen blätterte!

Linda Sandberg, Tochter des Schulmeisters Thomas Sandberg! Wieder
steht sie im Wald am grauen Opferstein unter der alten Eiche und wartet auf
ihn, wie sie es so oft in den zwei Jahren getan hatte. Dem Finkenruf ant¬
wortet der langgezogene Pfiff des Habichts. Und der Habicht hat den armen
kleinen Finken schließlich doch gemordet. . . .


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[0524] Sturm „Gut!" dachte er. „Geh du zurück in deine enge Welt." Gelassen ging er die Treppe wieder hinauf, packte seine paar Sachen zu¬ sammen, nahm den Pappkarton und verließ das Haus . . . Pastor Tannebaum klopfte leise an die Tür von Herrn von Wenkendorffs Arbeitszimmer. Das „Herein" war kaum zu hören. „Wegen der Sargschrift komme ich, und ich dachte an das Gleichnis vom getreuen Knecht — wenn es dem Herrn Baron recht ist..." „Lassen Sie mir noch eine halbe Stunde Zeit, lieber Herr Pastor!" sagte Herr von Wenkendorff mit einer belegten Stimme. „Ich schicke Ihnen dann Bescheid, und auch die Daten schicke ich mit!" Pastor Tannebaum entschuldigte sich wegen der Störung und verließ den Raum wieder ebenso leise wie er gekommen war. Herr von Wenkendorff fuhr fort, in der Mappe zu blättern, die vor ihm auf der Platte des alten roten Mahagonisekretärs lag. Er bewahrte alle seine Angehörigen betreffenden Schriftstücke auf. Jetzt kam er zu den Papieren des Försters Sandberg. Da die Kirchenbücher bei der Einäscherung des Gotteshauses ein Raub der Flammen geworden waren, hatte Pastor Tannebaum den Guts¬ herrn um die Lehmstaken des Verstorbenen gebeten. Herr von Wenkendorff war gleichzeitig der Vormund und der Pate Sand¬ bergs gewesen und hatte seine Pflichten treu erfüllt. Das Lebensschifflein dieses verwaisten Estenkindes war von einem guten Steuermann gelenkt worden. Und, wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sich der junge Mann auf einen ganz anderen Platz stellen können, als für den ihn seine Geburt bestimmt zu haben schien. Hier lag das Abgangszeugnis aus dem Alexandergmnnasium in Reval, das dem sekundärer Sandberg mehr als gewöhnliche Begabung und Fleiß bescheinigte. Er hätte spielend das Maturum bestanden, aber er überraschte seinen ahnungslosen Vormund mit dem eigensinnigen Wunsch, das Gymnasium vorzeitig zu verlassen. Nach den Gründen gefragt, war keine befriedigende Erklärung aus ihm herauszubringen. Der Försterberuf, den er ergreifen wollte, entsprach seinem Hang zur Ein¬ samkeit. So ließ ihn sein Vormund gewähren und hatte es nicht zu bereuen. Sternburgs berühmte Forstkultur war zum großen Teil Sandbergs Verdienst. Wie sprach die Vergangenheit aus diesen vergilbten Papieren zu dem alten Mann, der jetzt in ihnen blätterte! Linda Sandberg, Tochter des Schulmeisters Thomas Sandberg! Wieder steht sie im Wald am grauen Opferstein unter der alten Eiche und wartet auf ihn, wie sie es so oft in den zwei Jahren getan hatte. Dem Finkenruf ant¬ wortet der langgezogene Pfiff des Habichts. Und der Habicht hat den armen kleinen Finken schließlich doch gemordet. . . .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/524>, abgerufen am 21.10.2024.