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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Über den Ursprung des Lebens

Die wissenschaftliche Erfahrung hat wohl die unermeßliche Mannigfaltigkeit
der Ausgestaltung des "Lebens in der Natur" in allen Fällen bis auf die Zelle
als Grundform zurückzuführen vermocht und gezeigt, daß auch die verwickeltsten
Organisationen des Lebens aus der Zelle entstanden sind, aber alle Versuche,
die Entstehung der Zelle aus der anorganischen Natur nachzuweisen, haben zur
Verneinung dieser Möglichkeit und zu der Gewißheit geführt, daß das Leben
in der Natur nur aus Lebendigem entsteht, sei es Samen, Eizelle, Sporen oder Keim.

Eine entsprechende Selbständigkeit gegenüber der anorganischen Natur be¬
tätigt das Leben in der Natur auch hinsichtlich des Erlöschens, hinsichtlich des Todes.

Die unermeßliche Mannigfaltigkeit des Lebens in der Natur ist zurückzu¬
führen auf die Mannigfaltigkeit des Differenzierungsvermögens des Proto¬
plasmas in der Zelle. Die Betätigung dieses Vermögens in steter Wechsel¬
wirkung mit der Umgebung ist das Wesen der Lebensvorgänge und kennzeichnet
das innere Wirkungsvermögen, welches alles Lebendige erfüllt, als Trieb zur
Betätigung. Als Betängungstrieb, nicht als Erhaltungstrieb, ist der der Lebens¬
substanz innewohnende Trieb zu verstehen, wie ja überhaupt ein Erhaltungstrieb
in der Natur, wo alles Veränderung und Abwandlung des Bestehenden ist,
keinem Gebilde innewohnen kann. Das wäre eine natürliche Ursache, der keine
Wirkung entspricht.

Der Betätigungstrieb der Lebewesen erweist sich in seinem Wirkungsver¬
mögen, im Gegensatz zu dem Wirkungsvermögen der lebsosen Substanz, welches
streng konstanter Gesetzlichkeit folgt, nicht als konstant, sondern als veränderlich.
Das innere Betätigungsvermögen, welches die Lebewesen gestaltet, bewegt, ernährt
und fortpflanzt, wächst aus minimalem Anfang bis zu einem Höhepunkt und
nimmt nach dessen Erreichung wieder ab bis zum völligen Erlöschen. Die
äußeren Lebensbedingungen können zwar hierauf fördernd und hemmend ein¬
wirken, aber jenen Verlauf vermögen sie nicht aufzuheben. Der innere Trieb
erschöpft sich selbst durch seine Betätigung.

Wie Zunahme und Wachstum nicht ohne Zufluß und Aufnahme von Wirkungs¬
vermögen in der Form der Ernährung möglich ist, so ist die Abnahme mit Ver¬
ausgabung von Wirkungsvermögen an die Umgebung verbunden, die wir als
Ausscheidungen von Substanz, als Überwindung von Widerständen, welche die
Umgebung der Lebensbetätigung entgegensetzt, und als Fortpflanzung wahr¬
nehmen: die Durchführung dieser Prozesse bis zur endlichen völligen Erschöpfung
des Betätigungstriebes muß als die innere Ursache des Todes erkannt werden.

Diese innere Ursache führt freilich zunächst nur zum Erlöschen des indi¬
viduellen Lebens; das Leben in der Natur besteht doch weiter, indem es ver¬
möge der Fortpflanzung in unzähligen Generationen fortgesetzt wird und der
Tod der Individuen für das Emporkommen neuer Individuen und Arten günstigere
Bedingungen schafft. Indes auch die Arten, die wir als umfassendere In¬
dividualitäten begreifen können, finden ebensowohl in den Veränderungen der
äußeren Lebensbedingungen, wie in dem endlichen Versagen des Betätigungs-


Über den Ursprung des Lebens

Die wissenschaftliche Erfahrung hat wohl die unermeßliche Mannigfaltigkeit
der Ausgestaltung des „Lebens in der Natur" in allen Fällen bis auf die Zelle
als Grundform zurückzuführen vermocht und gezeigt, daß auch die verwickeltsten
Organisationen des Lebens aus der Zelle entstanden sind, aber alle Versuche,
die Entstehung der Zelle aus der anorganischen Natur nachzuweisen, haben zur
Verneinung dieser Möglichkeit und zu der Gewißheit geführt, daß das Leben
in der Natur nur aus Lebendigem entsteht, sei es Samen, Eizelle, Sporen oder Keim.

Eine entsprechende Selbständigkeit gegenüber der anorganischen Natur be¬
tätigt das Leben in der Natur auch hinsichtlich des Erlöschens, hinsichtlich des Todes.

Die unermeßliche Mannigfaltigkeit des Lebens in der Natur ist zurückzu¬
führen auf die Mannigfaltigkeit des Differenzierungsvermögens des Proto¬
plasmas in der Zelle. Die Betätigung dieses Vermögens in steter Wechsel¬
wirkung mit der Umgebung ist das Wesen der Lebensvorgänge und kennzeichnet
das innere Wirkungsvermögen, welches alles Lebendige erfüllt, als Trieb zur
Betätigung. Als Betängungstrieb, nicht als Erhaltungstrieb, ist der der Lebens¬
substanz innewohnende Trieb zu verstehen, wie ja überhaupt ein Erhaltungstrieb
in der Natur, wo alles Veränderung und Abwandlung des Bestehenden ist,
keinem Gebilde innewohnen kann. Das wäre eine natürliche Ursache, der keine
Wirkung entspricht.

Der Betätigungstrieb der Lebewesen erweist sich in seinem Wirkungsver¬
mögen, im Gegensatz zu dem Wirkungsvermögen der lebsosen Substanz, welches
streng konstanter Gesetzlichkeit folgt, nicht als konstant, sondern als veränderlich.
Das innere Betätigungsvermögen, welches die Lebewesen gestaltet, bewegt, ernährt
und fortpflanzt, wächst aus minimalem Anfang bis zu einem Höhepunkt und
nimmt nach dessen Erreichung wieder ab bis zum völligen Erlöschen. Die
äußeren Lebensbedingungen können zwar hierauf fördernd und hemmend ein¬
wirken, aber jenen Verlauf vermögen sie nicht aufzuheben. Der innere Trieb
erschöpft sich selbst durch seine Betätigung.

Wie Zunahme und Wachstum nicht ohne Zufluß und Aufnahme von Wirkungs¬
vermögen in der Form der Ernährung möglich ist, so ist die Abnahme mit Ver¬
ausgabung von Wirkungsvermögen an die Umgebung verbunden, die wir als
Ausscheidungen von Substanz, als Überwindung von Widerständen, welche die
Umgebung der Lebensbetätigung entgegensetzt, und als Fortpflanzung wahr¬
nehmen: die Durchführung dieser Prozesse bis zur endlichen völligen Erschöpfung
des Betätigungstriebes muß als die innere Ursache des Todes erkannt werden.

Diese innere Ursache führt freilich zunächst nur zum Erlöschen des indi¬
viduellen Lebens; das Leben in der Natur besteht doch weiter, indem es ver¬
möge der Fortpflanzung in unzähligen Generationen fortgesetzt wird und der
Tod der Individuen für das Emporkommen neuer Individuen und Arten günstigere
Bedingungen schafft. Indes auch die Arten, die wir als umfassendere In¬
dividualitäten begreifen können, finden ebensowohl in den Veränderungen der
äußeren Lebensbedingungen, wie in dem endlichen Versagen des Betätigungs-


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[0505] Über den Ursprung des Lebens Die wissenschaftliche Erfahrung hat wohl die unermeßliche Mannigfaltigkeit der Ausgestaltung des „Lebens in der Natur" in allen Fällen bis auf die Zelle als Grundform zurückzuführen vermocht und gezeigt, daß auch die verwickeltsten Organisationen des Lebens aus der Zelle entstanden sind, aber alle Versuche, die Entstehung der Zelle aus der anorganischen Natur nachzuweisen, haben zur Verneinung dieser Möglichkeit und zu der Gewißheit geführt, daß das Leben in der Natur nur aus Lebendigem entsteht, sei es Samen, Eizelle, Sporen oder Keim. Eine entsprechende Selbständigkeit gegenüber der anorganischen Natur be¬ tätigt das Leben in der Natur auch hinsichtlich des Erlöschens, hinsichtlich des Todes. Die unermeßliche Mannigfaltigkeit des Lebens in der Natur ist zurückzu¬ führen auf die Mannigfaltigkeit des Differenzierungsvermögens des Proto¬ plasmas in der Zelle. Die Betätigung dieses Vermögens in steter Wechsel¬ wirkung mit der Umgebung ist das Wesen der Lebensvorgänge und kennzeichnet das innere Wirkungsvermögen, welches alles Lebendige erfüllt, als Trieb zur Betätigung. Als Betängungstrieb, nicht als Erhaltungstrieb, ist der der Lebens¬ substanz innewohnende Trieb zu verstehen, wie ja überhaupt ein Erhaltungstrieb in der Natur, wo alles Veränderung und Abwandlung des Bestehenden ist, keinem Gebilde innewohnen kann. Das wäre eine natürliche Ursache, der keine Wirkung entspricht. Der Betätigungstrieb der Lebewesen erweist sich in seinem Wirkungsver¬ mögen, im Gegensatz zu dem Wirkungsvermögen der lebsosen Substanz, welches streng konstanter Gesetzlichkeit folgt, nicht als konstant, sondern als veränderlich. Das innere Betätigungsvermögen, welches die Lebewesen gestaltet, bewegt, ernährt und fortpflanzt, wächst aus minimalem Anfang bis zu einem Höhepunkt und nimmt nach dessen Erreichung wieder ab bis zum völligen Erlöschen. Die äußeren Lebensbedingungen können zwar hierauf fördernd und hemmend ein¬ wirken, aber jenen Verlauf vermögen sie nicht aufzuheben. Der innere Trieb erschöpft sich selbst durch seine Betätigung. Wie Zunahme und Wachstum nicht ohne Zufluß und Aufnahme von Wirkungs¬ vermögen in der Form der Ernährung möglich ist, so ist die Abnahme mit Ver¬ ausgabung von Wirkungsvermögen an die Umgebung verbunden, die wir als Ausscheidungen von Substanz, als Überwindung von Widerständen, welche die Umgebung der Lebensbetätigung entgegensetzt, und als Fortpflanzung wahr¬ nehmen: die Durchführung dieser Prozesse bis zur endlichen völligen Erschöpfung des Betätigungstriebes muß als die innere Ursache des Todes erkannt werden. Diese innere Ursache führt freilich zunächst nur zum Erlöschen des indi¬ viduellen Lebens; das Leben in der Natur besteht doch weiter, indem es ver¬ möge der Fortpflanzung in unzähligen Generationen fortgesetzt wird und der Tod der Individuen für das Emporkommen neuer Individuen und Arten günstigere Bedingungen schafft. Indes auch die Arten, die wir als umfassendere In¬ dividualitäten begreifen können, finden ebensowohl in den Veränderungen der äußeren Lebensbedingungen, wie in dem endlichen Versagen des Betätigungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/505>, abgerufen am 20.10.2024.