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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Über den Ursprung des Lebens

das "Leben in der Natur" die Folge darstellt. Die Betätigung des "Lebens
an sich" wird so zur Quelle der Erkenntnis des "Lebens in der Natur".

Diese Betätigung des Lebens setzt indes Wahrnehmungen, Erregungen der
äußeren Sinne durch fremde Einwirkung voraus, die wir zwar nur in den
Formen von Raum und Zeit, wie sie unserer Wahrnehmung innewohnen, er¬
fassen können, denen jedoch eine dem Leben an sich fremde Wirklichkeit zugrunde
liegen muß, soll nicht die Natur lediglich Einbildung des erkennenden Wesens sein.

Die Natur darf demzufolge auT der Begründung des "Lebens in der Natur"
nicht ausgeschaltet, die Quellen des "Lebens in der Natur" können nicht nur
in der Betätigung des "Lebens an sich", sie müssen auch in der Natur gesucht
werden. Diese Konkurrenz läßt sich begreifen als die des Erkenntnis- und des
Realgrundes. Das "Leben an sich" ist der Grund, aus dem wir das Leben
in der Natur erkennen, die Natur schließt die wirkenden Ursachen in sich, aus
denen es entsteht.

Die Betätigung des "Lebens an sich" als Erkenntnisgrund des "Lebens
in der Natur" ist an die Schranken von Raum und Zeit nicht gebunden; die
durch die Natur als Realgrund bedingte Begrenztheit des "Lebens in der
Natur" nach Dauer und Ausdehnung gilt für den Erkenntnisgrund nicht. Der
aus der Betätigung des "Lebens an sich" entspringende Erkenntnisgrund schließt
diese Begrenzung aus; er gestattet, ja er fordert die Anfangslosigkeit und die
Endlosigkeit des "Lebens in der Natur". Die in der Wahrnehmung gegebene
Entstehung und Vernichtung des "Lebens in der Natur" ist aus dem Erkenntnis¬
grund nicht zu begründen.

Diese Nichtübereinstimmung der Erkenntnis einerseits aus der Wahr¬
nehmung, anderseits aus dem begreifenden Denken, muß betont werden. Auf
ihrer Nichtbeachtung beruhen zumeist die Widersprüche in der Auffassung und
Beurteilung des Lebens. --

Wie stellt nun die wissenschaftliche Naturerkenntnis die Begrenzung des
"Lebens in der Natur" in Zeit und Raum dar?

Wir sahen bereits: die Lebenserscheinungen bilden keinen notwendigen und
dauernden Bestandteil der Natur, sondern in Dauer und Ausdehnung begrenzte
Episoden, deren Eintritt und Wiedererlöschen von bestimmbaren Zuständen und
Vorgängen in der leblosen Natur, also von äußeren Bedingungen abhängig
erscheint. Hiermit ist indes noch nicht die Ursache des Lebens in der Natur
und seines Wiedererlöschens, des Todes, erwiesen.

Wenn es auch möglich geworden ist, gewisse die Lebenssubstanz aufbauende
organische Verbindungen künstlich herzustellen, so ist damit doch noch nicht das
Leben geschaffen. Wir stellten bereits fest, daß Leben erst dann gegeben sei,
wenn sich die Lebenssubstanz in dem Sinne individualisiert, daß ein inneres
Wirkungsvermögen ein Fürsichsein ermöglicht, sowie innerhalb dessen die Substanzen
und Energien der leblosen Natur der inneren Bestimmtheit des Einzelwesens,
seiner Eigenart entsprechend, einzuordnen und dienstbar zu machen.


Über den Ursprung des Lebens

das „Leben in der Natur" die Folge darstellt. Die Betätigung des „Lebens
an sich" wird so zur Quelle der Erkenntnis des „Lebens in der Natur".

Diese Betätigung des Lebens setzt indes Wahrnehmungen, Erregungen der
äußeren Sinne durch fremde Einwirkung voraus, die wir zwar nur in den
Formen von Raum und Zeit, wie sie unserer Wahrnehmung innewohnen, er¬
fassen können, denen jedoch eine dem Leben an sich fremde Wirklichkeit zugrunde
liegen muß, soll nicht die Natur lediglich Einbildung des erkennenden Wesens sein.

Die Natur darf demzufolge auT der Begründung des „Lebens in der Natur"
nicht ausgeschaltet, die Quellen des „Lebens in der Natur" können nicht nur
in der Betätigung des „Lebens an sich", sie müssen auch in der Natur gesucht
werden. Diese Konkurrenz läßt sich begreifen als die des Erkenntnis- und des
Realgrundes. Das „Leben an sich" ist der Grund, aus dem wir das Leben
in der Natur erkennen, die Natur schließt die wirkenden Ursachen in sich, aus
denen es entsteht.

Die Betätigung des „Lebens an sich" als Erkenntnisgrund des „Lebens
in der Natur" ist an die Schranken von Raum und Zeit nicht gebunden; die
durch die Natur als Realgrund bedingte Begrenztheit des „Lebens in der
Natur" nach Dauer und Ausdehnung gilt für den Erkenntnisgrund nicht. Der
aus der Betätigung des „Lebens an sich" entspringende Erkenntnisgrund schließt
diese Begrenzung aus; er gestattet, ja er fordert die Anfangslosigkeit und die
Endlosigkeit des „Lebens in der Natur". Die in der Wahrnehmung gegebene
Entstehung und Vernichtung des „Lebens in der Natur" ist aus dem Erkenntnis¬
grund nicht zu begründen.

Diese Nichtübereinstimmung der Erkenntnis einerseits aus der Wahr¬
nehmung, anderseits aus dem begreifenden Denken, muß betont werden. Auf
ihrer Nichtbeachtung beruhen zumeist die Widersprüche in der Auffassung und
Beurteilung des Lebens. —

Wie stellt nun die wissenschaftliche Naturerkenntnis die Begrenzung des
„Lebens in der Natur" in Zeit und Raum dar?

Wir sahen bereits: die Lebenserscheinungen bilden keinen notwendigen und
dauernden Bestandteil der Natur, sondern in Dauer und Ausdehnung begrenzte
Episoden, deren Eintritt und Wiedererlöschen von bestimmbaren Zuständen und
Vorgängen in der leblosen Natur, also von äußeren Bedingungen abhängig
erscheint. Hiermit ist indes noch nicht die Ursache des Lebens in der Natur
und seines Wiedererlöschens, des Todes, erwiesen.

Wenn es auch möglich geworden ist, gewisse die Lebenssubstanz aufbauende
organische Verbindungen künstlich herzustellen, so ist damit doch noch nicht das
Leben geschaffen. Wir stellten bereits fest, daß Leben erst dann gegeben sei,
wenn sich die Lebenssubstanz in dem Sinne individualisiert, daß ein inneres
Wirkungsvermögen ein Fürsichsein ermöglicht, sowie innerhalb dessen die Substanzen
und Energien der leblosen Natur der inneren Bestimmtheit des Einzelwesens,
seiner Eigenart entsprechend, einzuordnen und dienstbar zu machen.


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[0504] Über den Ursprung des Lebens das „Leben in der Natur" die Folge darstellt. Die Betätigung des „Lebens an sich" wird so zur Quelle der Erkenntnis des „Lebens in der Natur". Diese Betätigung des Lebens setzt indes Wahrnehmungen, Erregungen der äußeren Sinne durch fremde Einwirkung voraus, die wir zwar nur in den Formen von Raum und Zeit, wie sie unserer Wahrnehmung innewohnen, er¬ fassen können, denen jedoch eine dem Leben an sich fremde Wirklichkeit zugrunde liegen muß, soll nicht die Natur lediglich Einbildung des erkennenden Wesens sein. Die Natur darf demzufolge auT der Begründung des „Lebens in der Natur" nicht ausgeschaltet, die Quellen des „Lebens in der Natur" können nicht nur in der Betätigung des „Lebens an sich", sie müssen auch in der Natur gesucht werden. Diese Konkurrenz läßt sich begreifen als die des Erkenntnis- und des Realgrundes. Das „Leben an sich" ist der Grund, aus dem wir das Leben in der Natur erkennen, die Natur schließt die wirkenden Ursachen in sich, aus denen es entsteht. Die Betätigung des „Lebens an sich" als Erkenntnisgrund des „Lebens in der Natur" ist an die Schranken von Raum und Zeit nicht gebunden; die durch die Natur als Realgrund bedingte Begrenztheit des „Lebens in der Natur" nach Dauer und Ausdehnung gilt für den Erkenntnisgrund nicht. Der aus der Betätigung des „Lebens an sich" entspringende Erkenntnisgrund schließt diese Begrenzung aus; er gestattet, ja er fordert die Anfangslosigkeit und die Endlosigkeit des „Lebens in der Natur". Die in der Wahrnehmung gegebene Entstehung und Vernichtung des „Lebens in der Natur" ist aus dem Erkenntnis¬ grund nicht zu begründen. Diese Nichtübereinstimmung der Erkenntnis einerseits aus der Wahr¬ nehmung, anderseits aus dem begreifenden Denken, muß betont werden. Auf ihrer Nichtbeachtung beruhen zumeist die Widersprüche in der Auffassung und Beurteilung des Lebens. — Wie stellt nun die wissenschaftliche Naturerkenntnis die Begrenzung des „Lebens in der Natur" in Zeit und Raum dar? Wir sahen bereits: die Lebenserscheinungen bilden keinen notwendigen und dauernden Bestandteil der Natur, sondern in Dauer und Ausdehnung begrenzte Episoden, deren Eintritt und Wiedererlöschen von bestimmbaren Zuständen und Vorgängen in der leblosen Natur, also von äußeren Bedingungen abhängig erscheint. Hiermit ist indes noch nicht die Ursache des Lebens in der Natur und seines Wiedererlöschens, des Todes, erwiesen. Wenn es auch möglich geworden ist, gewisse die Lebenssubstanz aufbauende organische Verbindungen künstlich herzustellen, so ist damit doch noch nicht das Leben geschaffen. Wir stellten bereits fest, daß Leben erst dann gegeben sei, wenn sich die Lebenssubstanz in dem Sinne individualisiert, daß ein inneres Wirkungsvermögen ein Fürsichsein ermöglicht, sowie innerhalb dessen die Substanzen und Energien der leblosen Natur der inneren Bestimmtheit des Einzelwesens, seiner Eigenart entsprechend, einzuordnen und dienstbar zu machen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/504>, abgerufen am 20.10.2024.