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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Nach den Posener Kaisertagen

heiliger Weise gedacht wird, daß man dann weiter eigentlich nur von ihrer
Politischen Unfähigkeit und der Unzweckmäßigkeit ihrer Staatseinrichtungen spricht,
ohne zu erklären, wie und warum sie so geworden sind, und daß alle diese
üblen Eigenschaften der Polen nur als Folie dienen für die entgegengesetzten
Eigenschaften des preußischen Staats. Man nehme dazu die in den üblichen
Darstellungen meist recht bedenkliche Begründung der preußischen Politik bei den
Teilungen Polens, -- diese Theorie von dem Recht eines Staats, dem Nach¬
bar ein Stück Land wegzunehmen, weil dieser sich angeblich nicht selbst regieren
kann und nicht genug Ordnung bei sich hält. Solche Darstellung entspringt ja
patriotischer Absicht, und es mag ja wohl schwer sein, für die Besonderheit
dieser merkwürdigen geschichtlichen Vorgänge einen volkstümlich verständlichen
Ausdruck zu finden. Aber man macht oft genug die Erfahrung, daß auch ge¬
bildete und kenntnisreiche Leute über die Umstände, die die Teilungspolitik für
Preußen zu einer Pflicht im dringenden Staatsinteresse machten, im Unklaren
sind und sich mit dem Endurteil beruhigen, daß die Teilungsmächte einen:
Volk von so unendlicher politischer Verluniptheit nur eine Wohltat erwiesen,
wenn sie mit seiner Selbständigkeit Schluß machten und ihm gestatteten, unter
fremdem Zepter weiter zu leben. Woraus dann für die Polen folgt, daß sie
nach diesem unrühmlichen Ende auch wirklich nichts besseres tun können, als .
Vernunft anzunehmen und treue Untertanen ihrer neuen Herren zu werden.
Und viele sind eben überzeugt, daß die Polen das auch wirklich tun werden,
wenn man sie nur nicht schikaniert und ruhig polnisch sprechen läßt. Optimisten
meinen, sie würden auch das mit der Zeit ganz von selber lassen, wenn man
sie gewähren lasse. Aber das alles soll angeblich nur zu erreichen sein, wenn
man eben die Polen, die Vernunft annehmen wollen, recht freundlich und ent¬
gegenkommend behandle.

Leider sind das alles Gedankenkonstruktionen, die in der Wirklichkeit nicht
den geringsten Boden haben. Es ist außerordentlich bedauerlich, daß in diesen
Fragen so viele Leute ihre Urteile aus der Praxis zu schöpfen glauben, wenn
sie ihnen nur die nächsten Erfahrungen aus der Gegenwart und aus der
unmittelbaren Umgebung zugrunde legen. Diese mögen ja sehr wertvoll sein,
wenn es gilt, aus den Eigenschaften polnischer Arbeiter möglichsten Nutzen für
die Bewirtschaftung eines Gutes zu ziehen. Aber sie genügen nicht, um das
Verhältnis von Deutschtum und Polentum im allgemeinen zu beurteilen. Ein
solches Urteil muß allerdings auch aus der praktischen Erfahrung geschöpft sein,
aber aus der Erfahrung von Jahrhunderten, die in der geschichtlichen Entwicklung
der Völker niedergelegt ist. Viele Leute machen sich nicht klar, daß das auch
zur "Praxis" gehört und nicht unterschätzt werden darf. Das Entscheidende
dieser in der Geschichte wurzelnden Erfahrungen ist, daß die Polen noch heute
alle die charakteristischen Eigenschaften bewahrt haben, die ihnen die Bezeichnung
einer Nation sichern. Ist das aber der Fall, so ist es ein Unding, daß eine
solche Nation mit achthundertjähriger Geschichte und reichentwickeltem Geistes-


Nach den Posener Kaisertagen

heiliger Weise gedacht wird, daß man dann weiter eigentlich nur von ihrer
Politischen Unfähigkeit und der Unzweckmäßigkeit ihrer Staatseinrichtungen spricht,
ohne zu erklären, wie und warum sie so geworden sind, und daß alle diese
üblen Eigenschaften der Polen nur als Folie dienen für die entgegengesetzten
Eigenschaften des preußischen Staats. Man nehme dazu die in den üblichen
Darstellungen meist recht bedenkliche Begründung der preußischen Politik bei den
Teilungen Polens, — diese Theorie von dem Recht eines Staats, dem Nach¬
bar ein Stück Land wegzunehmen, weil dieser sich angeblich nicht selbst regieren
kann und nicht genug Ordnung bei sich hält. Solche Darstellung entspringt ja
patriotischer Absicht, und es mag ja wohl schwer sein, für die Besonderheit
dieser merkwürdigen geschichtlichen Vorgänge einen volkstümlich verständlichen
Ausdruck zu finden. Aber man macht oft genug die Erfahrung, daß auch ge¬
bildete und kenntnisreiche Leute über die Umstände, die die Teilungspolitik für
Preußen zu einer Pflicht im dringenden Staatsinteresse machten, im Unklaren
sind und sich mit dem Endurteil beruhigen, daß die Teilungsmächte einen:
Volk von so unendlicher politischer Verluniptheit nur eine Wohltat erwiesen,
wenn sie mit seiner Selbständigkeit Schluß machten und ihm gestatteten, unter
fremdem Zepter weiter zu leben. Woraus dann für die Polen folgt, daß sie
nach diesem unrühmlichen Ende auch wirklich nichts besseres tun können, als .
Vernunft anzunehmen und treue Untertanen ihrer neuen Herren zu werden.
Und viele sind eben überzeugt, daß die Polen das auch wirklich tun werden,
wenn man sie nur nicht schikaniert und ruhig polnisch sprechen läßt. Optimisten
meinen, sie würden auch das mit der Zeit ganz von selber lassen, wenn man
sie gewähren lasse. Aber das alles soll angeblich nur zu erreichen sein, wenn
man eben die Polen, die Vernunft annehmen wollen, recht freundlich und ent¬
gegenkommend behandle.

Leider sind das alles Gedankenkonstruktionen, die in der Wirklichkeit nicht
den geringsten Boden haben. Es ist außerordentlich bedauerlich, daß in diesen
Fragen so viele Leute ihre Urteile aus der Praxis zu schöpfen glauben, wenn
sie ihnen nur die nächsten Erfahrungen aus der Gegenwart und aus der
unmittelbaren Umgebung zugrunde legen. Diese mögen ja sehr wertvoll sein,
wenn es gilt, aus den Eigenschaften polnischer Arbeiter möglichsten Nutzen für
die Bewirtschaftung eines Gutes zu ziehen. Aber sie genügen nicht, um das
Verhältnis von Deutschtum und Polentum im allgemeinen zu beurteilen. Ein
solches Urteil muß allerdings auch aus der praktischen Erfahrung geschöpft sein,
aber aus der Erfahrung von Jahrhunderten, die in der geschichtlichen Entwicklung
der Völker niedergelegt ist. Viele Leute machen sich nicht klar, daß das auch
zur „Praxis" gehört und nicht unterschätzt werden darf. Das Entscheidende
dieser in der Geschichte wurzelnden Erfahrungen ist, daß die Polen noch heute
alle die charakteristischen Eigenschaften bewahrt haben, die ihnen die Bezeichnung
einer Nation sichern. Ist das aber der Fall, so ist es ein Unding, daß eine
solche Nation mit achthundertjähriger Geschichte und reichentwickeltem Geistes-


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[0498] Nach den Posener Kaisertagen heiliger Weise gedacht wird, daß man dann weiter eigentlich nur von ihrer Politischen Unfähigkeit und der Unzweckmäßigkeit ihrer Staatseinrichtungen spricht, ohne zu erklären, wie und warum sie so geworden sind, und daß alle diese üblen Eigenschaften der Polen nur als Folie dienen für die entgegengesetzten Eigenschaften des preußischen Staats. Man nehme dazu die in den üblichen Darstellungen meist recht bedenkliche Begründung der preußischen Politik bei den Teilungen Polens, — diese Theorie von dem Recht eines Staats, dem Nach¬ bar ein Stück Land wegzunehmen, weil dieser sich angeblich nicht selbst regieren kann und nicht genug Ordnung bei sich hält. Solche Darstellung entspringt ja patriotischer Absicht, und es mag ja wohl schwer sein, für die Besonderheit dieser merkwürdigen geschichtlichen Vorgänge einen volkstümlich verständlichen Ausdruck zu finden. Aber man macht oft genug die Erfahrung, daß auch ge¬ bildete und kenntnisreiche Leute über die Umstände, die die Teilungspolitik für Preußen zu einer Pflicht im dringenden Staatsinteresse machten, im Unklaren sind und sich mit dem Endurteil beruhigen, daß die Teilungsmächte einen: Volk von so unendlicher politischer Verluniptheit nur eine Wohltat erwiesen, wenn sie mit seiner Selbständigkeit Schluß machten und ihm gestatteten, unter fremdem Zepter weiter zu leben. Woraus dann für die Polen folgt, daß sie nach diesem unrühmlichen Ende auch wirklich nichts besseres tun können, als . Vernunft anzunehmen und treue Untertanen ihrer neuen Herren zu werden. Und viele sind eben überzeugt, daß die Polen das auch wirklich tun werden, wenn man sie nur nicht schikaniert und ruhig polnisch sprechen läßt. Optimisten meinen, sie würden auch das mit der Zeit ganz von selber lassen, wenn man sie gewähren lasse. Aber das alles soll angeblich nur zu erreichen sein, wenn man eben die Polen, die Vernunft annehmen wollen, recht freundlich und ent¬ gegenkommend behandle. Leider sind das alles Gedankenkonstruktionen, die in der Wirklichkeit nicht den geringsten Boden haben. Es ist außerordentlich bedauerlich, daß in diesen Fragen so viele Leute ihre Urteile aus der Praxis zu schöpfen glauben, wenn sie ihnen nur die nächsten Erfahrungen aus der Gegenwart und aus der unmittelbaren Umgebung zugrunde legen. Diese mögen ja sehr wertvoll sein, wenn es gilt, aus den Eigenschaften polnischer Arbeiter möglichsten Nutzen für die Bewirtschaftung eines Gutes zu ziehen. Aber sie genügen nicht, um das Verhältnis von Deutschtum und Polentum im allgemeinen zu beurteilen. Ein solches Urteil muß allerdings auch aus der praktischen Erfahrung geschöpft sein, aber aus der Erfahrung von Jahrhunderten, die in der geschichtlichen Entwicklung der Völker niedergelegt ist. Viele Leute machen sich nicht klar, daß das auch zur „Praxis" gehört und nicht unterschätzt werden darf. Das Entscheidende dieser in der Geschichte wurzelnden Erfahrungen ist, daß die Polen noch heute alle die charakteristischen Eigenschaften bewahrt haben, die ihnen die Bezeichnung einer Nation sichern. Ist das aber der Fall, so ist es ein Unding, daß eine solche Nation mit achthundertjähriger Geschichte und reichentwickeltem Geistes-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/498>, abgerufen am 29.12.2024.