Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Nach den posener Raisertagen

diesem Gebiet. Wenn über ein so einfaches und selbstverständliches Ziel über¬
haupt Meinungsverschiedenheiten bestehen, so erklärt sich das nur daraus, daß
weite Kreise unserer Landsleute über Art und Grad der Gefährdung unseres
Besitzstandes im Osten nicht unterrichtet sind. Und so ist es in Wahrheit.
Worin liegen nun die Gründe dieser auffallenden Erscheinung?

Zunächst und vor allem wohl in einem Empfinden, das bei dem preußischen
Staatsbürger berechtigt ist und ihm Ehre macht, nämlich in dem Vertrauen auf
die preußische Staatsgewalt und den preußischen Staatsgedanken. Diese Frucht
einer eigenartigen Geschichte und Erziehung läßt dem Gedanken, daß ein fremdes,
auf unserem Boden in der Minderzahl befindliches Volkstum eine Gefahr für
uns bedeute, sehr wenig Raum. Man darf nicht vergessen, daß die Zeit noch
gar nicht so weit hinter uns liegt, wo in unseren östlichen Provinzen der Ge¬
danke, daß man etwas für "das Deutschtum" tun oder gar Opfer bringen
müsse, in weiten und einflußreichen Kreisen der Bevölkerung auf völlige Ver-
ständnislosigkeit gestoßen wäre. Diese Kreise umfaßten nicht nur den ländlichen
Grundbesitz, sondern auch den größten Teil des Bürgertums. Gewiß, man war
sich des nationalen Gegensatzes bewußt, der, auf Charaktereigentümlichkeiten be¬
ruhend, einen intimeren Verkehr mit den Polen und ein wirkliches Vertrauens¬
verhältnis nur in engen Grenzen aufkommen ließ; sie fühlten sich unter diesen
Verhältnissen als Deutsche nach Sprache und Sitte, und es fanden sich genug
Vertreter und Freunde geistiger Interessen, die ihre Zugehörigkeit zur deutschen
Nation sehr viel tiefer erfaßten. Aber das ganze politische Streben blieb in
den Begriffen "König und Vaterland" beschlossen, wobei als Vaterland nur der
preußische Staat angesehen wurde. Sie haben es dann allmählich anders ge¬
lernt: als "König und Vaterland" durch "Kaiser und Reich" ergänzt und
erweitert wurden und sie sich den Einflüssen der neuen Zeit nicht mehr entziehen
konnten. Aber man unterschätzt die zähe Beharrlichkeit in der Geistesverfassung
dieser Kreise, wenn man sich nicht klar macht, daß noch immer starke Wurzel¬
fasern in die Vergangenheit hinüberreichen, in der man in politischer Beziehung
nur ein Preußentmn, noch kein Deutschtum kannte. Preußentum in diesem
Sinne ist aber etwas ganz anderes als etwa der "Partikularismus" der Bayern,
Sachsen usw.; es hat nichts mit einem Stammesgefühl zu tun, sondern ist
historisch gezüchtetes Staatsgefühl und ganz ausschließlich politischer Färbung.
Noch heute steht der Großgrundbesitzer in den Ostmarken und -- nachdrücklich
sei es hinzugefügt -- auch der wohlhabende Bürger, der in einem kleinen
Kreise einen beherrschenden und führenden Einfluß übt, durchaus nicht ein,
warum die von ihnen beherrschten Schichten verdeutscht werden sollen. Sie
glauben den Polen gegenüber ihre Autorität genügend wahren zu können, und
nach oben hin bürgt ihre eigene Staatstreue nach ihrer Meinung dem Staate
genügend dafür, daß sein Interesse gewahrt wird. Dagegen wirkt, wie sie
glauben, der Kampf gegen das Polentum im Sinne des Ostmarkenvereins
lockernd auf von altersher bestehende und durch historische Entwicklung be-


Nach den posener Raisertagen

diesem Gebiet. Wenn über ein so einfaches und selbstverständliches Ziel über¬
haupt Meinungsverschiedenheiten bestehen, so erklärt sich das nur daraus, daß
weite Kreise unserer Landsleute über Art und Grad der Gefährdung unseres
Besitzstandes im Osten nicht unterrichtet sind. Und so ist es in Wahrheit.
Worin liegen nun die Gründe dieser auffallenden Erscheinung?

Zunächst und vor allem wohl in einem Empfinden, das bei dem preußischen
Staatsbürger berechtigt ist und ihm Ehre macht, nämlich in dem Vertrauen auf
die preußische Staatsgewalt und den preußischen Staatsgedanken. Diese Frucht
einer eigenartigen Geschichte und Erziehung läßt dem Gedanken, daß ein fremdes,
auf unserem Boden in der Minderzahl befindliches Volkstum eine Gefahr für
uns bedeute, sehr wenig Raum. Man darf nicht vergessen, daß die Zeit noch
gar nicht so weit hinter uns liegt, wo in unseren östlichen Provinzen der Ge¬
danke, daß man etwas für „das Deutschtum" tun oder gar Opfer bringen
müsse, in weiten und einflußreichen Kreisen der Bevölkerung auf völlige Ver-
ständnislosigkeit gestoßen wäre. Diese Kreise umfaßten nicht nur den ländlichen
Grundbesitz, sondern auch den größten Teil des Bürgertums. Gewiß, man war
sich des nationalen Gegensatzes bewußt, der, auf Charaktereigentümlichkeiten be¬
ruhend, einen intimeren Verkehr mit den Polen und ein wirkliches Vertrauens¬
verhältnis nur in engen Grenzen aufkommen ließ; sie fühlten sich unter diesen
Verhältnissen als Deutsche nach Sprache und Sitte, und es fanden sich genug
Vertreter und Freunde geistiger Interessen, die ihre Zugehörigkeit zur deutschen
Nation sehr viel tiefer erfaßten. Aber das ganze politische Streben blieb in
den Begriffen „König und Vaterland" beschlossen, wobei als Vaterland nur der
preußische Staat angesehen wurde. Sie haben es dann allmählich anders ge¬
lernt: als „König und Vaterland" durch „Kaiser und Reich" ergänzt und
erweitert wurden und sie sich den Einflüssen der neuen Zeit nicht mehr entziehen
konnten. Aber man unterschätzt die zähe Beharrlichkeit in der Geistesverfassung
dieser Kreise, wenn man sich nicht klar macht, daß noch immer starke Wurzel¬
fasern in die Vergangenheit hinüberreichen, in der man in politischer Beziehung
nur ein Preußentmn, noch kein Deutschtum kannte. Preußentum in diesem
Sinne ist aber etwas ganz anderes als etwa der „Partikularismus" der Bayern,
Sachsen usw.; es hat nichts mit einem Stammesgefühl zu tun, sondern ist
historisch gezüchtetes Staatsgefühl und ganz ausschließlich politischer Färbung.
Noch heute steht der Großgrundbesitzer in den Ostmarken und — nachdrücklich
sei es hinzugefügt — auch der wohlhabende Bürger, der in einem kleinen
Kreise einen beherrschenden und führenden Einfluß übt, durchaus nicht ein,
warum die von ihnen beherrschten Schichten verdeutscht werden sollen. Sie
glauben den Polen gegenüber ihre Autorität genügend wahren zu können, und
nach oben hin bürgt ihre eigene Staatstreue nach ihrer Meinung dem Staate
genügend dafür, daß sein Interesse gewahrt wird. Dagegen wirkt, wie sie
glauben, der Kampf gegen das Polentum im Sinne des Ostmarkenvereins
lockernd auf von altersher bestehende und durch historische Entwicklung be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0496" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326666"/>
          <fw type="header" place="top"> Nach den posener Raisertagen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2402" prev="#ID_2401"> diesem Gebiet. Wenn über ein so einfaches und selbstverständliches Ziel über¬<lb/>
haupt Meinungsverschiedenheiten bestehen, so erklärt sich das nur daraus, daß<lb/>
weite Kreise unserer Landsleute über Art und Grad der Gefährdung unseres<lb/>
Besitzstandes im Osten nicht unterrichtet sind. Und so ist es in Wahrheit.<lb/>
Worin liegen nun die Gründe dieser auffallenden Erscheinung?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2403" next="#ID_2404"> Zunächst und vor allem wohl in einem Empfinden, das bei dem preußischen<lb/>
Staatsbürger berechtigt ist und ihm Ehre macht, nämlich in dem Vertrauen auf<lb/>
die preußische Staatsgewalt und den preußischen Staatsgedanken. Diese Frucht<lb/>
einer eigenartigen Geschichte und Erziehung läßt dem Gedanken, daß ein fremdes,<lb/>
auf unserem Boden in der Minderzahl befindliches Volkstum eine Gefahr für<lb/>
uns bedeute, sehr wenig Raum. Man darf nicht vergessen, daß die Zeit noch<lb/>
gar nicht so weit hinter uns liegt, wo in unseren östlichen Provinzen der Ge¬<lb/>
danke, daß man etwas für &#x201E;das Deutschtum" tun oder gar Opfer bringen<lb/>
müsse, in weiten und einflußreichen Kreisen der Bevölkerung auf völlige Ver-<lb/>
ständnislosigkeit gestoßen wäre. Diese Kreise umfaßten nicht nur den ländlichen<lb/>
Grundbesitz, sondern auch den größten Teil des Bürgertums. Gewiß, man war<lb/>
sich des nationalen Gegensatzes bewußt, der, auf Charaktereigentümlichkeiten be¬<lb/>
ruhend, einen intimeren Verkehr mit den Polen und ein wirkliches Vertrauens¬<lb/>
verhältnis nur in engen Grenzen aufkommen ließ; sie fühlten sich unter diesen<lb/>
Verhältnissen als Deutsche nach Sprache und Sitte, und es fanden sich genug<lb/>
Vertreter und Freunde geistiger Interessen, die ihre Zugehörigkeit zur deutschen<lb/>
Nation sehr viel tiefer erfaßten. Aber das ganze politische Streben blieb in<lb/>
den Begriffen &#x201E;König und Vaterland" beschlossen, wobei als Vaterland nur der<lb/>
preußische Staat angesehen wurde. Sie haben es dann allmählich anders ge¬<lb/>
lernt: als &#x201E;König und Vaterland" durch &#x201E;Kaiser und Reich" ergänzt und<lb/>
erweitert wurden und sie sich den Einflüssen der neuen Zeit nicht mehr entziehen<lb/>
konnten. Aber man unterschätzt die zähe Beharrlichkeit in der Geistesverfassung<lb/>
dieser Kreise, wenn man sich nicht klar macht, daß noch immer starke Wurzel¬<lb/>
fasern in die Vergangenheit hinüberreichen, in der man in politischer Beziehung<lb/>
nur ein Preußentmn, noch kein Deutschtum kannte. Preußentum in diesem<lb/>
Sinne ist aber etwas ganz anderes als etwa der &#x201E;Partikularismus" der Bayern,<lb/>
Sachsen usw.; es hat nichts mit einem Stammesgefühl zu tun, sondern ist<lb/>
historisch gezüchtetes Staatsgefühl und ganz ausschließlich politischer Färbung.<lb/>
Noch heute steht der Großgrundbesitzer in den Ostmarken und &#x2014; nachdrücklich<lb/>
sei es hinzugefügt &#x2014; auch der wohlhabende Bürger, der in einem kleinen<lb/>
Kreise einen beherrschenden und führenden Einfluß übt, durchaus nicht ein,<lb/>
warum die von ihnen beherrschten Schichten verdeutscht werden sollen. Sie<lb/>
glauben den Polen gegenüber ihre Autorität genügend wahren zu können, und<lb/>
nach oben hin bürgt ihre eigene Staatstreue nach ihrer Meinung dem Staate<lb/>
genügend dafür, daß sein Interesse gewahrt wird. Dagegen wirkt, wie sie<lb/>
glauben, der Kampf gegen das Polentum im Sinne des Ostmarkenvereins<lb/>
lockernd auf von altersher bestehende und durch historische Entwicklung be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0496] Nach den posener Raisertagen diesem Gebiet. Wenn über ein so einfaches und selbstverständliches Ziel über¬ haupt Meinungsverschiedenheiten bestehen, so erklärt sich das nur daraus, daß weite Kreise unserer Landsleute über Art und Grad der Gefährdung unseres Besitzstandes im Osten nicht unterrichtet sind. Und so ist es in Wahrheit. Worin liegen nun die Gründe dieser auffallenden Erscheinung? Zunächst und vor allem wohl in einem Empfinden, das bei dem preußischen Staatsbürger berechtigt ist und ihm Ehre macht, nämlich in dem Vertrauen auf die preußische Staatsgewalt und den preußischen Staatsgedanken. Diese Frucht einer eigenartigen Geschichte und Erziehung läßt dem Gedanken, daß ein fremdes, auf unserem Boden in der Minderzahl befindliches Volkstum eine Gefahr für uns bedeute, sehr wenig Raum. Man darf nicht vergessen, daß die Zeit noch gar nicht so weit hinter uns liegt, wo in unseren östlichen Provinzen der Ge¬ danke, daß man etwas für „das Deutschtum" tun oder gar Opfer bringen müsse, in weiten und einflußreichen Kreisen der Bevölkerung auf völlige Ver- ständnislosigkeit gestoßen wäre. Diese Kreise umfaßten nicht nur den ländlichen Grundbesitz, sondern auch den größten Teil des Bürgertums. Gewiß, man war sich des nationalen Gegensatzes bewußt, der, auf Charaktereigentümlichkeiten be¬ ruhend, einen intimeren Verkehr mit den Polen und ein wirkliches Vertrauens¬ verhältnis nur in engen Grenzen aufkommen ließ; sie fühlten sich unter diesen Verhältnissen als Deutsche nach Sprache und Sitte, und es fanden sich genug Vertreter und Freunde geistiger Interessen, die ihre Zugehörigkeit zur deutschen Nation sehr viel tiefer erfaßten. Aber das ganze politische Streben blieb in den Begriffen „König und Vaterland" beschlossen, wobei als Vaterland nur der preußische Staat angesehen wurde. Sie haben es dann allmählich anders ge¬ lernt: als „König und Vaterland" durch „Kaiser und Reich" ergänzt und erweitert wurden und sie sich den Einflüssen der neuen Zeit nicht mehr entziehen konnten. Aber man unterschätzt die zähe Beharrlichkeit in der Geistesverfassung dieser Kreise, wenn man sich nicht klar macht, daß noch immer starke Wurzel¬ fasern in die Vergangenheit hinüberreichen, in der man in politischer Beziehung nur ein Preußentmn, noch kein Deutschtum kannte. Preußentum in diesem Sinne ist aber etwas ganz anderes als etwa der „Partikularismus" der Bayern, Sachsen usw.; es hat nichts mit einem Stammesgefühl zu tun, sondern ist historisch gezüchtetes Staatsgefühl und ganz ausschließlich politischer Färbung. Noch heute steht der Großgrundbesitzer in den Ostmarken und — nachdrücklich sei es hinzugefügt — auch der wohlhabende Bürger, der in einem kleinen Kreise einen beherrschenden und führenden Einfluß übt, durchaus nicht ein, warum die von ihnen beherrschten Schichten verdeutscht werden sollen. Sie glauben den Polen gegenüber ihre Autorität genügend wahren zu können, und nach oben hin bürgt ihre eigene Staatstreue nach ihrer Meinung dem Staate genügend dafür, daß sein Interesse gewahrt wird. Dagegen wirkt, wie sie glauben, der Kampf gegen das Polentum im Sinne des Ostmarkenvereins lockernd auf von altersher bestehende und durch historische Entwicklung be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/496
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/496>, abgerufen am 21.10.2024.