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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

wirrte sie in diesem Augenblick alle Einzelheiten, die ihr gestern unklar geblieben
waren.

Der Roman war zum Leben geworden: als Bauernmädchen verkleidet
hatte die Frau, durch die sich Edda aus dem Herzen des geliebten Mannes
verdrängt wußte, den Weg zu ihm gefunden -- trotz Nacht und Fremde, trotz
Brand und Mord, geleitet von der gleichen Macht, unter deren Zwang sich Edda
selbst aufs Pferd geschwungen hatte.

Wahrhaftig: wie ein rettender Engel war sie erschienen. Und vor dieser
Tatsache fühlte das junge Mädchen seinen Haß an Glut, seine Enttäuschung an
Bitternis verlieren.

Wenn auch die Eifersucht noch an ihr zehrte, so gab sie sich doch nicht in
ohnmächtigem Neide kund, sondern löste jenes mütterliche Empfinden aus, das
in jeder echten Liebe enthalten ist. Ein Wetteifer, zu helfen, packte sie. Hilfe
tat not. Jedes andere Gefühl mußte hinter dieser Forderung zurücktreten.

Liebe allein, mag sie noch so groß und heiß sein, kann ein Wundfieber
nicht verhüten. Der Unterricht, den Edda bei Doktor Schlosser in der Kranken¬
pflege genommen hatte, bewährte sich jetzt nicht zum erstenmal. Aber noch nie¬
mals gleich segensreich.

Von den Strapazen und Qualen der letzten Stunden waren Loljas
Kräfte längst erschöpft. Auch war sie unerfahren in allen praktischen Dingen.

Edda ließ sich laues Wasser und reine Leinewand besorgen und näherte
sich dem Schmerzenslager Wolff Joachims mit leiser Frage: "Darf ich helfen?"

Ein dankbarer Blick war Antwort genug. Ohne weiteres räumte Lolja
dem fremden jungen Mädchen ihren Platz ein. Die übermenschliche An¬
spannung ihrer Nerven löste sich jetzt und bevor noch Edda ihre Kunst an dem
Verwundeten betätigen konnte, hatte sie sich der ohnmächtig Zusammenbrechenden
anzunehmen.

Nun lag das Paar in demselben Raum und Edda ging unermüdlich von
einem zum anderen. Hier rieb sie Stirn und Schläfen mit Branntwein, dort
wusch sie mit kundiger Hand vorsichtig die böse Wunde aus.

Wolff Joachim hatte sie erkannt, und unter ihrem stillen Walten kam ein
köstliches Gefühl der Geborgenheit über ihn. Ein mattes Lächeln flog über
sein bleiches Gesicht. Er versuchte sich durch Handbewegungen zu verständigen,
die zu Lolja hinüberdeuteten. Eine flehende Bitte sprach daraus und wurde
verstanden.

"Ich weiß alles! Sie können beruhigt sein, Wolff Joachim. Lolja schläft.
Es wird für sie gesorgt."

Übermannt von großer Schwäche, einer Folge des starken Blutverlustes, fiel
der Verwundete jetzt in einen tiefen Schlaf. So fand ihn Doktor Schlosser.

"Gut gemacht, Baroneßl" sagte er, als er sich den Verband ansah. "Jetzt
wollen wir ihn ruhig schlafen lassen. Aber nun sagen Sie bloß, Herr von der
Borke, wie ist Ihr Sohn zu der Verwundung gekommen?"


Sturm

wirrte sie in diesem Augenblick alle Einzelheiten, die ihr gestern unklar geblieben
waren.

Der Roman war zum Leben geworden: als Bauernmädchen verkleidet
hatte die Frau, durch die sich Edda aus dem Herzen des geliebten Mannes
verdrängt wußte, den Weg zu ihm gefunden — trotz Nacht und Fremde, trotz
Brand und Mord, geleitet von der gleichen Macht, unter deren Zwang sich Edda
selbst aufs Pferd geschwungen hatte.

Wahrhaftig: wie ein rettender Engel war sie erschienen. Und vor dieser
Tatsache fühlte das junge Mädchen seinen Haß an Glut, seine Enttäuschung an
Bitternis verlieren.

Wenn auch die Eifersucht noch an ihr zehrte, so gab sie sich doch nicht in
ohnmächtigem Neide kund, sondern löste jenes mütterliche Empfinden aus, das
in jeder echten Liebe enthalten ist. Ein Wetteifer, zu helfen, packte sie. Hilfe
tat not. Jedes andere Gefühl mußte hinter dieser Forderung zurücktreten.

Liebe allein, mag sie noch so groß und heiß sein, kann ein Wundfieber
nicht verhüten. Der Unterricht, den Edda bei Doktor Schlosser in der Kranken¬
pflege genommen hatte, bewährte sich jetzt nicht zum erstenmal. Aber noch nie¬
mals gleich segensreich.

Von den Strapazen und Qualen der letzten Stunden waren Loljas
Kräfte längst erschöpft. Auch war sie unerfahren in allen praktischen Dingen.

Edda ließ sich laues Wasser und reine Leinewand besorgen und näherte
sich dem Schmerzenslager Wolff Joachims mit leiser Frage: „Darf ich helfen?"

Ein dankbarer Blick war Antwort genug. Ohne weiteres räumte Lolja
dem fremden jungen Mädchen ihren Platz ein. Die übermenschliche An¬
spannung ihrer Nerven löste sich jetzt und bevor noch Edda ihre Kunst an dem
Verwundeten betätigen konnte, hatte sie sich der ohnmächtig Zusammenbrechenden
anzunehmen.

Nun lag das Paar in demselben Raum und Edda ging unermüdlich von
einem zum anderen. Hier rieb sie Stirn und Schläfen mit Branntwein, dort
wusch sie mit kundiger Hand vorsichtig die böse Wunde aus.

Wolff Joachim hatte sie erkannt, und unter ihrem stillen Walten kam ein
köstliches Gefühl der Geborgenheit über ihn. Ein mattes Lächeln flog über
sein bleiches Gesicht. Er versuchte sich durch Handbewegungen zu verständigen,
die zu Lolja hinüberdeuteten. Eine flehende Bitte sprach daraus und wurde
verstanden.

„Ich weiß alles! Sie können beruhigt sein, Wolff Joachim. Lolja schläft.
Es wird für sie gesorgt."

Übermannt von großer Schwäche, einer Folge des starken Blutverlustes, fiel
der Verwundete jetzt in einen tiefen Schlaf. So fand ihn Doktor Schlosser.

„Gut gemacht, Baroneßl" sagte er, als er sich den Verband ansah. „Jetzt
wollen wir ihn ruhig schlafen lassen. Aber nun sagen Sie bloß, Herr von der
Borke, wie ist Ihr Sohn zu der Verwundung gekommen?"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/480>, abgerufen am 29.12.2024.