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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

Sie hatten einen schweren Arbeitstag hinter sich. Zum Kämpfen waren sie
beordert, statt dessen hatten sie heute zum Spaten und zur Axt greifen müssen.
Das neue Abenteuer gab den Ermüdeten frischen Mut.

Gleich hinter dem Krug zeigten sich die ersten Spuren des Ereignisses:
Bauern führten allerlei Vieh am Strick, rannten hinter scheu gewordenen und
durchgehenden Pferden her oder trieben ganze Rudel von Schafen die Land¬
straße entlang.

Der Wind hatte die Flammen erst auf den Wirtschaftshof und dann ins
Dorf getragen. Die strohgedeckten Holzhütten brannten nieder wie Zunder.

Wer ein schlechtes Gewissen hatte, blieb ängstlich stehen, als die Dragoner
auftauchten, oder verschwand im Walde. Aber weder die Junker noch die Sol¬
daten achteten auf die Vorüberziehenden, sondern trabten weiter.

Neben den verglimmenden Mauerresten standen die Weiber und die Kinder
der Hofleute und jammerten laut. Sie stoben schreiend auseinander, als die
Reiter heransprengten und streckten beschwörend ihre Hände aus:

"Wir sind nicht schuld -- wir waren nicht dabei!"

Irgendwo hinter dem Haus, im Garten, oder noch weiter auf dem Feld
draußen in den Strohschobern hatten sie ihre Männer versteckt. Wie die Säcke
hatten sie die Berauschten von der Brandstätte schleifen müssen.

Aber manche lagen noch da, von stürzenden Gebälk getroffen, halb tot
oder immer noch sinnlos vor Trunkenheit. Das waren die Fremden, um deren
Schicksal niemand zitterte, und von denen man nicht wußte, woher sie gekommen
waren. Auf sie wiesen die Weiber und schrien: "Die sind schuld an allem!"

Sie sahen haßerfüllt zu, wie sie gefesselt wurden.

Die Brennerei stand unversehrt. Man hatte Wolff Joachim ins Kondor
getragen und dort auf Stroh gebettet. Er stöhnte vor Schmerz, denn an der
Stelle des Ohres klaffte eine tiefe Wunde. Es war bis auf die Wurzel aus¬
gerissen.

Baron Alexander hatte Edda auf Zehenspitzen an das Schmerzenslager
geführt. Sie sah das fremde Mädchen sich um den geliebten Mann bemühen
und hörte es leise zu ihm sprechen: "Ich bin ja hier -- deine Lolja!" Sie
streichelte ihm die Hand, die nach ihr tastete -- sie beugte sich über seine Augen
und küßte sie.

Erbleichend war Edda in der Tür stehengeblieben: "Wer ist das?" hauchte
sie tonlos. Der alte Baron legte den Finger an die Lippen und zog Edda
vorsichtig zurück.

"Ich weiß es nicht! Aber ist sie nicht fabelhaft schön? Wir sahen sie
mittags in Charlottenhof. Sie ist zu Fuß gegangen. Und hier fand ich sie
wieder -- eine Madonna ist sie, ein göttliches Wunder, und zur rechten Zeit
ist sie gekommen. . ."

Edda ahnte, wer es war. Lolja war der Name, den Wolff Joachim
gestern am Telephon genannt hatte. Mit dem Scharfsinn der Eifersucht ent-


30"
Sturm

Sie hatten einen schweren Arbeitstag hinter sich. Zum Kämpfen waren sie
beordert, statt dessen hatten sie heute zum Spaten und zur Axt greifen müssen.
Das neue Abenteuer gab den Ermüdeten frischen Mut.

Gleich hinter dem Krug zeigten sich die ersten Spuren des Ereignisses:
Bauern führten allerlei Vieh am Strick, rannten hinter scheu gewordenen und
durchgehenden Pferden her oder trieben ganze Rudel von Schafen die Land¬
straße entlang.

Der Wind hatte die Flammen erst auf den Wirtschaftshof und dann ins
Dorf getragen. Die strohgedeckten Holzhütten brannten nieder wie Zunder.

Wer ein schlechtes Gewissen hatte, blieb ängstlich stehen, als die Dragoner
auftauchten, oder verschwand im Walde. Aber weder die Junker noch die Sol¬
daten achteten auf die Vorüberziehenden, sondern trabten weiter.

Neben den verglimmenden Mauerresten standen die Weiber und die Kinder
der Hofleute und jammerten laut. Sie stoben schreiend auseinander, als die
Reiter heransprengten und streckten beschwörend ihre Hände aus:

„Wir sind nicht schuld — wir waren nicht dabei!"

Irgendwo hinter dem Haus, im Garten, oder noch weiter auf dem Feld
draußen in den Strohschobern hatten sie ihre Männer versteckt. Wie die Säcke
hatten sie die Berauschten von der Brandstätte schleifen müssen.

Aber manche lagen noch da, von stürzenden Gebälk getroffen, halb tot
oder immer noch sinnlos vor Trunkenheit. Das waren die Fremden, um deren
Schicksal niemand zitterte, und von denen man nicht wußte, woher sie gekommen
waren. Auf sie wiesen die Weiber und schrien: „Die sind schuld an allem!"

Sie sahen haßerfüllt zu, wie sie gefesselt wurden.

Die Brennerei stand unversehrt. Man hatte Wolff Joachim ins Kondor
getragen und dort auf Stroh gebettet. Er stöhnte vor Schmerz, denn an der
Stelle des Ohres klaffte eine tiefe Wunde. Es war bis auf die Wurzel aus¬
gerissen.

Baron Alexander hatte Edda auf Zehenspitzen an das Schmerzenslager
geführt. Sie sah das fremde Mädchen sich um den geliebten Mann bemühen
und hörte es leise zu ihm sprechen: „Ich bin ja hier — deine Lolja!" Sie
streichelte ihm die Hand, die nach ihr tastete — sie beugte sich über seine Augen
und küßte sie.

Erbleichend war Edda in der Tür stehengeblieben: „Wer ist das?" hauchte
sie tonlos. Der alte Baron legte den Finger an die Lippen und zog Edda
vorsichtig zurück.

„Ich weiß es nicht! Aber ist sie nicht fabelhaft schön? Wir sahen sie
mittags in Charlottenhof. Sie ist zu Fuß gegangen. Und hier fand ich sie
wieder — eine Madonna ist sie, ein göttliches Wunder, und zur rechten Zeit
ist sie gekommen. . ."

Edda ahnte, wer es war. Lolja war der Name, den Wolff Joachim
gestern am Telephon genannt hatte. Mit dem Scharfsinn der Eifersucht ent-


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[0479] Sturm Sie hatten einen schweren Arbeitstag hinter sich. Zum Kämpfen waren sie beordert, statt dessen hatten sie heute zum Spaten und zur Axt greifen müssen. Das neue Abenteuer gab den Ermüdeten frischen Mut. Gleich hinter dem Krug zeigten sich die ersten Spuren des Ereignisses: Bauern führten allerlei Vieh am Strick, rannten hinter scheu gewordenen und durchgehenden Pferden her oder trieben ganze Rudel von Schafen die Land¬ straße entlang. Der Wind hatte die Flammen erst auf den Wirtschaftshof und dann ins Dorf getragen. Die strohgedeckten Holzhütten brannten nieder wie Zunder. Wer ein schlechtes Gewissen hatte, blieb ängstlich stehen, als die Dragoner auftauchten, oder verschwand im Walde. Aber weder die Junker noch die Sol¬ daten achteten auf die Vorüberziehenden, sondern trabten weiter. Neben den verglimmenden Mauerresten standen die Weiber und die Kinder der Hofleute und jammerten laut. Sie stoben schreiend auseinander, als die Reiter heransprengten und streckten beschwörend ihre Hände aus: „Wir sind nicht schuld — wir waren nicht dabei!" Irgendwo hinter dem Haus, im Garten, oder noch weiter auf dem Feld draußen in den Strohschobern hatten sie ihre Männer versteckt. Wie die Säcke hatten sie die Berauschten von der Brandstätte schleifen müssen. Aber manche lagen noch da, von stürzenden Gebälk getroffen, halb tot oder immer noch sinnlos vor Trunkenheit. Das waren die Fremden, um deren Schicksal niemand zitterte, und von denen man nicht wußte, woher sie gekommen waren. Auf sie wiesen die Weiber und schrien: „Die sind schuld an allem!" Sie sahen haßerfüllt zu, wie sie gefesselt wurden. Die Brennerei stand unversehrt. Man hatte Wolff Joachim ins Kondor getragen und dort auf Stroh gebettet. Er stöhnte vor Schmerz, denn an der Stelle des Ohres klaffte eine tiefe Wunde. Es war bis auf die Wurzel aus¬ gerissen. Baron Alexander hatte Edda auf Zehenspitzen an das Schmerzenslager geführt. Sie sah das fremde Mädchen sich um den geliebten Mann bemühen und hörte es leise zu ihm sprechen: „Ich bin ja hier — deine Lolja!" Sie streichelte ihm die Hand, die nach ihr tastete — sie beugte sich über seine Augen und küßte sie. Erbleichend war Edda in der Tür stehengeblieben: „Wer ist das?" hauchte sie tonlos. Der alte Baron legte den Finger an die Lippen und zog Edda vorsichtig zurück. „Ich weiß es nicht! Aber ist sie nicht fabelhaft schön? Wir sahen sie mittags in Charlottenhof. Sie ist zu Fuß gegangen. Und hier fand ich sie wieder — eine Madonna ist sie, ein göttliches Wunder, und zur rechten Zeit ist sie gekommen. . ." Edda ahnte, wer es war. Lolja war der Name, den Wolff Joachim gestern am Telephon genannt hatte. Mit dem Scharfsinn der Eifersucht ent- 30»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/479>, abgerufen am 19.10.2024.