Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ist Tierpsychologie möglich?

rung, die Psychologie solle über das subjektive Erleben anderer Wesen Kunde
geben? Sie besagt, daß zur Psychologie als Wissenschaft die Erkenntnis einer
fremden Seele in ihrem Eigensein, unabhängig davon, daß sie Gegenstand einer
Erkenntnis ist, nötig sei. Was Vermorn von der Tierpsychologie fordert, würde
allgemein heißen: die Erkenntnis der Gegenstände der Erkenntnis -- unab¬
hängig von der Erkenntnis, in ihrem Eigensein, ihrem Fürsichsein, die Erkenntnis
eines Dinges an sich fordern. Das ist natürlich unerfüllbar, und vor dieser
eben widerspruchshaltigen Forderung halten weder Physik noch Chemie, weder
Philologie noch Geschichte, noch überhaupt, wie wir sahen, empirische Wissen¬
schaften stand, denn auch sie geben keine Erkenntnisse von Objekten in deren
Eigensein.

Wie also alle Erfahrungswissenschaften nur möglich sind als Wissenschaften
von Erscheinungen, so dürfen wir auch von der Menschen- und Tierpsychologie
nicht mehr verlangen als von diesen. Demnach muß die Antwort auf die
Frage: Wie ist Tierpsychologie möglich? lauten: Phänomenal, als Wissenschaft
von Erscheinungen, denn man kann keine Erkenntnisse von einem Objekt erwarten
anders als eben von einem Objekt, als Gegenstand einer Erfahrung, d. h. als
Erscheinung. Wenn es also Tierpsychologie und anthropologische Psychologie
im Sinne Verworns einfach deshalb nicht geben kann, weil es keine extrasub¬
jektive psychische Erscheinungen als Gegenstände möglicher Erfahrung gibt, so
ist wohl aber Menschen- und Tierpsychologie möglich wie irgendeine Natur¬
wissenschaft möglich ist, und zwar deshalb, weil Naturwissenschaft und Psycho¬
logie nur Deutungsarten derselben Phänomene sind, und zwar die Psychologie
nach der Analogie subjektiver Erlebniserfahrung.

Wie nun ein Detektiv das Seelenleben eines Verbrechers, den er sucht,
konstruiert nach Analogie seiner eigenen Innenwelt und ihn auf Grund eines
angenommenen möglichen Motivs an einem anderen Orte findet, wo er ihn
dingfest machen kann, so ist mit diesem Effekt noch gar nicht gesagt, ob das
betreffende fingierte Motiv Misch das Wirksame war, ist auch ganz gleichgültig
in Ansehung des erreichten Zweckes: der Effekt wurde mit Hilfe eines kon¬
struierten Seelenprozesses möglich, so wie mit Hilfe der Gravitationsformel die
Berechnung der Himmelserscheinungen möglich ist. Und so mit der Tierpsycho¬
logie: sie ist als Wissenschaft nicht undenkbar, nicht in dem Sinne, daß sie uns
sagt, was das Tier an sich erlebt, aber in dem Sinne, daß sie durch eine
Seelenkonstruktion, die sich der psychologischen Ausdrücke unserer Erlebniswelt
oder eigener Symbole bedienen mag, erlaubt die Handlungen der Tiere (von
Tierarten und -individuen) in ein System zu bringen, und damit berechenbar
M machen. "Oder eigener Symbole" sage ich. nicht als ob ich die praktische
Ausführung dieses Gedankens vorschlagen möchte, sondern zur Charakterisierung
der logischen Funktion der psychologischen Ausdrücke.

Nicht, daß die Elberfelder Pferde Wurzeln ausgezogen hätten in dem Sinne
U'le sich in uns der psychologische Prozeß des anihmetischen Wurzelausziehens


Ist Tierpsychologie möglich?

rung, die Psychologie solle über das subjektive Erleben anderer Wesen Kunde
geben? Sie besagt, daß zur Psychologie als Wissenschaft die Erkenntnis einer
fremden Seele in ihrem Eigensein, unabhängig davon, daß sie Gegenstand einer
Erkenntnis ist, nötig sei. Was Vermorn von der Tierpsychologie fordert, würde
allgemein heißen: die Erkenntnis der Gegenstände der Erkenntnis — unab¬
hängig von der Erkenntnis, in ihrem Eigensein, ihrem Fürsichsein, die Erkenntnis
eines Dinges an sich fordern. Das ist natürlich unerfüllbar, und vor dieser
eben widerspruchshaltigen Forderung halten weder Physik noch Chemie, weder
Philologie noch Geschichte, noch überhaupt, wie wir sahen, empirische Wissen¬
schaften stand, denn auch sie geben keine Erkenntnisse von Objekten in deren
Eigensein.

Wie also alle Erfahrungswissenschaften nur möglich sind als Wissenschaften
von Erscheinungen, so dürfen wir auch von der Menschen- und Tierpsychologie
nicht mehr verlangen als von diesen. Demnach muß die Antwort auf die
Frage: Wie ist Tierpsychologie möglich? lauten: Phänomenal, als Wissenschaft
von Erscheinungen, denn man kann keine Erkenntnisse von einem Objekt erwarten
anders als eben von einem Objekt, als Gegenstand einer Erfahrung, d. h. als
Erscheinung. Wenn es also Tierpsychologie und anthropologische Psychologie
im Sinne Verworns einfach deshalb nicht geben kann, weil es keine extrasub¬
jektive psychische Erscheinungen als Gegenstände möglicher Erfahrung gibt, so
ist wohl aber Menschen- und Tierpsychologie möglich wie irgendeine Natur¬
wissenschaft möglich ist, und zwar deshalb, weil Naturwissenschaft und Psycho¬
logie nur Deutungsarten derselben Phänomene sind, und zwar die Psychologie
nach der Analogie subjektiver Erlebniserfahrung.

Wie nun ein Detektiv das Seelenleben eines Verbrechers, den er sucht,
konstruiert nach Analogie seiner eigenen Innenwelt und ihn auf Grund eines
angenommenen möglichen Motivs an einem anderen Orte findet, wo er ihn
dingfest machen kann, so ist mit diesem Effekt noch gar nicht gesagt, ob das
betreffende fingierte Motiv Misch das Wirksame war, ist auch ganz gleichgültig
in Ansehung des erreichten Zweckes: der Effekt wurde mit Hilfe eines kon¬
struierten Seelenprozesses möglich, so wie mit Hilfe der Gravitationsformel die
Berechnung der Himmelserscheinungen möglich ist. Und so mit der Tierpsycho¬
logie: sie ist als Wissenschaft nicht undenkbar, nicht in dem Sinne, daß sie uns
sagt, was das Tier an sich erlebt, aber in dem Sinne, daß sie durch eine
Seelenkonstruktion, die sich der psychologischen Ausdrücke unserer Erlebniswelt
oder eigener Symbole bedienen mag, erlaubt die Handlungen der Tiere (von
Tierarten und -individuen) in ein System zu bringen, und damit berechenbar
M machen. „Oder eigener Symbole" sage ich. nicht als ob ich die praktische
Ausführung dieses Gedankens vorschlagen möchte, sondern zur Charakterisierung
der logischen Funktion der psychologischen Ausdrücke.

Nicht, daß die Elberfelder Pferde Wurzeln ausgezogen hätten in dem Sinne
U'le sich in uns der psychologische Prozeß des anihmetischen Wurzelausziehens


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0475" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326645"/>
          <fw type="header" place="top"> Ist Tierpsychologie möglich?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2270" prev="#ID_2269"> rung, die Psychologie solle über das subjektive Erleben anderer Wesen Kunde<lb/>
geben? Sie besagt, daß zur Psychologie als Wissenschaft die Erkenntnis einer<lb/>
fremden Seele in ihrem Eigensein, unabhängig davon, daß sie Gegenstand einer<lb/>
Erkenntnis ist, nötig sei. Was Vermorn von der Tierpsychologie fordert, würde<lb/>
allgemein heißen: die Erkenntnis der Gegenstände der Erkenntnis &#x2014; unab¬<lb/>
hängig von der Erkenntnis, in ihrem Eigensein, ihrem Fürsichsein, die Erkenntnis<lb/>
eines Dinges an sich fordern. Das ist natürlich unerfüllbar, und vor dieser<lb/>
eben widerspruchshaltigen Forderung halten weder Physik noch Chemie, weder<lb/>
Philologie noch Geschichte, noch überhaupt, wie wir sahen, empirische Wissen¬<lb/>
schaften stand, denn auch sie geben keine Erkenntnisse von Objekten in deren<lb/>
Eigensein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2271"> Wie also alle Erfahrungswissenschaften nur möglich sind als Wissenschaften<lb/>
von Erscheinungen, so dürfen wir auch von der Menschen- und Tierpsychologie<lb/>
nicht mehr verlangen als von diesen. Demnach muß die Antwort auf die<lb/>
Frage: Wie ist Tierpsychologie möglich? lauten: Phänomenal, als Wissenschaft<lb/>
von Erscheinungen, denn man kann keine Erkenntnisse von einem Objekt erwarten<lb/>
anders als eben von einem Objekt, als Gegenstand einer Erfahrung, d. h. als<lb/>
Erscheinung. Wenn es also Tierpsychologie und anthropologische Psychologie<lb/>
im Sinne Verworns einfach deshalb nicht geben kann, weil es keine extrasub¬<lb/>
jektive psychische Erscheinungen als Gegenstände möglicher Erfahrung gibt, so<lb/>
ist wohl aber Menschen- und Tierpsychologie möglich wie irgendeine Natur¬<lb/>
wissenschaft möglich ist, und zwar deshalb, weil Naturwissenschaft und Psycho¬<lb/>
logie nur Deutungsarten derselben Phänomene sind, und zwar die Psychologie<lb/>
nach der Analogie subjektiver Erlebniserfahrung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2272"> Wie nun ein Detektiv das Seelenleben eines Verbrechers, den er sucht,<lb/>
konstruiert nach Analogie seiner eigenen Innenwelt und ihn auf Grund eines<lb/>
angenommenen möglichen Motivs an einem anderen Orte findet, wo er ihn<lb/>
dingfest machen kann, so ist mit diesem Effekt noch gar nicht gesagt, ob das<lb/>
betreffende fingierte Motiv Misch das Wirksame war, ist auch ganz gleichgültig<lb/>
in Ansehung des erreichten Zweckes: der Effekt wurde mit Hilfe eines kon¬<lb/>
struierten Seelenprozesses möglich, so wie mit Hilfe der Gravitationsformel die<lb/>
Berechnung der Himmelserscheinungen möglich ist. Und so mit der Tierpsycho¬<lb/>
logie: sie ist als Wissenschaft nicht undenkbar, nicht in dem Sinne, daß sie uns<lb/>
sagt, was das Tier an sich erlebt, aber in dem Sinne, daß sie durch eine<lb/>
Seelenkonstruktion, die sich der psychologischen Ausdrücke unserer Erlebniswelt<lb/>
oder eigener Symbole bedienen mag, erlaubt die Handlungen der Tiere (von<lb/>
Tierarten und -individuen) in ein System zu bringen, und damit berechenbar<lb/>
M machen. &#x201E;Oder eigener Symbole" sage ich. nicht als ob ich die praktische<lb/>
Ausführung dieses Gedankens vorschlagen möchte, sondern zur Charakterisierung<lb/>
der logischen Funktion der psychologischen Ausdrücke.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2273" next="#ID_2274"> Nicht, daß die Elberfelder Pferde Wurzeln ausgezogen hätten in dem Sinne<lb/>
U'le sich in uns der psychologische Prozeß des anihmetischen Wurzelausziehens</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0475] Ist Tierpsychologie möglich? rung, die Psychologie solle über das subjektive Erleben anderer Wesen Kunde geben? Sie besagt, daß zur Psychologie als Wissenschaft die Erkenntnis einer fremden Seele in ihrem Eigensein, unabhängig davon, daß sie Gegenstand einer Erkenntnis ist, nötig sei. Was Vermorn von der Tierpsychologie fordert, würde allgemein heißen: die Erkenntnis der Gegenstände der Erkenntnis — unab¬ hängig von der Erkenntnis, in ihrem Eigensein, ihrem Fürsichsein, die Erkenntnis eines Dinges an sich fordern. Das ist natürlich unerfüllbar, und vor dieser eben widerspruchshaltigen Forderung halten weder Physik noch Chemie, weder Philologie noch Geschichte, noch überhaupt, wie wir sahen, empirische Wissen¬ schaften stand, denn auch sie geben keine Erkenntnisse von Objekten in deren Eigensein. Wie also alle Erfahrungswissenschaften nur möglich sind als Wissenschaften von Erscheinungen, so dürfen wir auch von der Menschen- und Tierpsychologie nicht mehr verlangen als von diesen. Demnach muß die Antwort auf die Frage: Wie ist Tierpsychologie möglich? lauten: Phänomenal, als Wissenschaft von Erscheinungen, denn man kann keine Erkenntnisse von einem Objekt erwarten anders als eben von einem Objekt, als Gegenstand einer Erfahrung, d. h. als Erscheinung. Wenn es also Tierpsychologie und anthropologische Psychologie im Sinne Verworns einfach deshalb nicht geben kann, weil es keine extrasub¬ jektive psychische Erscheinungen als Gegenstände möglicher Erfahrung gibt, so ist wohl aber Menschen- und Tierpsychologie möglich wie irgendeine Natur¬ wissenschaft möglich ist, und zwar deshalb, weil Naturwissenschaft und Psycho¬ logie nur Deutungsarten derselben Phänomene sind, und zwar die Psychologie nach der Analogie subjektiver Erlebniserfahrung. Wie nun ein Detektiv das Seelenleben eines Verbrechers, den er sucht, konstruiert nach Analogie seiner eigenen Innenwelt und ihn auf Grund eines angenommenen möglichen Motivs an einem anderen Orte findet, wo er ihn dingfest machen kann, so ist mit diesem Effekt noch gar nicht gesagt, ob das betreffende fingierte Motiv Misch das Wirksame war, ist auch ganz gleichgültig in Ansehung des erreichten Zweckes: der Effekt wurde mit Hilfe eines kon¬ struierten Seelenprozesses möglich, so wie mit Hilfe der Gravitationsformel die Berechnung der Himmelserscheinungen möglich ist. Und so mit der Tierpsycho¬ logie: sie ist als Wissenschaft nicht undenkbar, nicht in dem Sinne, daß sie uns sagt, was das Tier an sich erlebt, aber in dem Sinne, daß sie durch eine Seelenkonstruktion, die sich der psychologischen Ausdrücke unserer Erlebniswelt oder eigener Symbole bedienen mag, erlaubt die Handlungen der Tiere (von Tierarten und -individuen) in ein System zu bringen, und damit berechenbar M machen. „Oder eigener Symbole" sage ich. nicht als ob ich die praktische Ausführung dieses Gedankens vorschlagen möchte, sondern zur Charakterisierung der logischen Funktion der psychologischen Ausdrücke. Nicht, daß die Elberfelder Pferde Wurzeln ausgezogen hätten in dem Sinne U'le sich in uns der psychologische Prozeß des anihmetischen Wurzelausziehens

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/475
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/475>, abgerufen am 19.10.2024.