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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Mit und ohne Waffen

Es ist selbstverständlich, daß Rußland viel daran liegen mußte, den
Bulgaren gerade in westlicheren Distrikten einiges zukommen zu lassen, um sie
in der östlicheren, d. h. aus der Nähe Konstantinopels (des Schlüssels der
Meerengen) nach Möglichkeit fortdrücken zu können. Wenn aber die russische
Diplomatie diesen noch so lebhaft gehegten Wunsch durch einen so energischen
Einspruch, wie der Bukarester Beschluß es war, vernichtet sah, handelte sie am
weisesten, indem sie möglichst schnell verstummte und hinterher so tut, als ob
nichts vorgefallen wäre. Kawala kann nicht die Parole für die Auslösung
verhängnisvoller politischer Konsequenzen werden. Das sollte man sich zu sagen
wissen, so orbi wie urbi. Durch die Sentimentalitäten und Geschmacklosigkeiten,
mit welchen Frankreich zurzeit in der Kawalafrage seine von der russischen
Richtlinie selbstverständlich abweichenden Sonderintercssen bemäntelt, wird Ru߬
land nur ein Bärendienst geleistet.

Ganz unqualifizierbar aber ist das Verhalten der russischen Presse, die in
diesen kritischen Tagen eine unrühmliche Einigkeit zustande brachte: in unverant¬
wortlicher staatswissenschaftlicher Unkenntnis, wie auch in großer patriotischer
Taktlosigkeit geschah alles, was irgend dazu beitragen konnte, die Kawalafrage
möglichst aufzubauschen.




Wie alle Äußerungen des Lebens der Staaten untereinander, steht auch
das Balkandrama von 1912 bis 1913 mit seiner" gesamten Zubehör im Banne
der großen Metamorphose, für die der 23. Januar 1860 entscheidend gewesen
ist; damals schloß England den sogenannten Cobden-Vertrag mit Frankreich.
Und diese Grundsteinlegung des Freihandels darf zwanglos als die Besiegelung
einer definitiven Wandlung aller Außenpolitik in der Weltwirtschaft angesehen
werden.

Die Führung der Politik präjudiziert aber dementsprechend einen großen
Schatz spezieller Kenntnisse, ihre eigene Technik und viel Talent. Weder die
Vereidigung auf beliebige Parteikatechismcn, noch der vollständigste Gesinnungs¬
kodex kann der Außenpolitik die nötigen Richtlinien eröffnen.

Die Promptheit aber und das Tempo aller diplomatischen Willensaktionen
steht in direkt proportionalen Verhältnis zur Vollständigkeit der vorhandenen
Kriegsbereitschaft auf der ganzen Linie, also auch Kriegsbereitschaft in den
inneren Verhältnissen, in Finanzen, Wirtschaft usw.

Und schließlich: die Alternative "Krieg oder Frieden" wird füglich für alle
Kulturvölker immer mehr abhängig von staatswissenschaftlicher und wirtschaftlichen
Gesichtspunkten, ganz abgesehen vom jeweiligen militärischen Nüstungszustande
oder strategischen Können. Jedenfalls hat diese Alternative ebensowenig mit
der vermeintlichen Brüderlichkeit der Menschen und Völker zu schaffen, wie mit
einem Enthusiasmus für das "erfrischende Stahlbad".


Mit und ohne Waffen

Es ist selbstverständlich, daß Rußland viel daran liegen mußte, den
Bulgaren gerade in westlicheren Distrikten einiges zukommen zu lassen, um sie
in der östlicheren, d. h. aus der Nähe Konstantinopels (des Schlüssels der
Meerengen) nach Möglichkeit fortdrücken zu können. Wenn aber die russische
Diplomatie diesen noch so lebhaft gehegten Wunsch durch einen so energischen
Einspruch, wie der Bukarester Beschluß es war, vernichtet sah, handelte sie am
weisesten, indem sie möglichst schnell verstummte und hinterher so tut, als ob
nichts vorgefallen wäre. Kawala kann nicht die Parole für die Auslösung
verhängnisvoller politischer Konsequenzen werden. Das sollte man sich zu sagen
wissen, so orbi wie urbi. Durch die Sentimentalitäten und Geschmacklosigkeiten,
mit welchen Frankreich zurzeit in der Kawalafrage seine von der russischen
Richtlinie selbstverständlich abweichenden Sonderintercssen bemäntelt, wird Ru߬
land nur ein Bärendienst geleistet.

Ganz unqualifizierbar aber ist das Verhalten der russischen Presse, die in
diesen kritischen Tagen eine unrühmliche Einigkeit zustande brachte: in unverant¬
wortlicher staatswissenschaftlicher Unkenntnis, wie auch in großer patriotischer
Taktlosigkeit geschah alles, was irgend dazu beitragen konnte, die Kawalafrage
möglichst aufzubauschen.




Wie alle Äußerungen des Lebens der Staaten untereinander, steht auch
das Balkandrama von 1912 bis 1913 mit seiner» gesamten Zubehör im Banne
der großen Metamorphose, für die der 23. Januar 1860 entscheidend gewesen
ist; damals schloß England den sogenannten Cobden-Vertrag mit Frankreich.
Und diese Grundsteinlegung des Freihandels darf zwanglos als die Besiegelung
einer definitiven Wandlung aller Außenpolitik in der Weltwirtschaft angesehen
werden.

Die Führung der Politik präjudiziert aber dementsprechend einen großen
Schatz spezieller Kenntnisse, ihre eigene Technik und viel Talent. Weder die
Vereidigung auf beliebige Parteikatechismcn, noch der vollständigste Gesinnungs¬
kodex kann der Außenpolitik die nötigen Richtlinien eröffnen.

Die Promptheit aber und das Tempo aller diplomatischen Willensaktionen
steht in direkt proportionalen Verhältnis zur Vollständigkeit der vorhandenen
Kriegsbereitschaft auf der ganzen Linie, also auch Kriegsbereitschaft in den
inneren Verhältnissen, in Finanzen, Wirtschaft usw.

Und schließlich: die Alternative „Krieg oder Frieden" wird füglich für alle
Kulturvölker immer mehr abhängig von staatswissenschaftlicher und wirtschaftlichen
Gesichtspunkten, ganz abgesehen vom jeweiligen militärischen Nüstungszustande
oder strategischen Können. Jedenfalls hat diese Alternative ebensowenig mit
der vermeintlichen Brüderlichkeit der Menschen und Völker zu schaffen, wie mit
einem Enthusiasmus für das „erfrischende Stahlbad".


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[0462] Mit und ohne Waffen Es ist selbstverständlich, daß Rußland viel daran liegen mußte, den Bulgaren gerade in westlicheren Distrikten einiges zukommen zu lassen, um sie in der östlicheren, d. h. aus der Nähe Konstantinopels (des Schlüssels der Meerengen) nach Möglichkeit fortdrücken zu können. Wenn aber die russische Diplomatie diesen noch so lebhaft gehegten Wunsch durch einen so energischen Einspruch, wie der Bukarester Beschluß es war, vernichtet sah, handelte sie am weisesten, indem sie möglichst schnell verstummte und hinterher so tut, als ob nichts vorgefallen wäre. Kawala kann nicht die Parole für die Auslösung verhängnisvoller politischer Konsequenzen werden. Das sollte man sich zu sagen wissen, so orbi wie urbi. Durch die Sentimentalitäten und Geschmacklosigkeiten, mit welchen Frankreich zurzeit in der Kawalafrage seine von der russischen Richtlinie selbstverständlich abweichenden Sonderintercssen bemäntelt, wird Ru߬ land nur ein Bärendienst geleistet. Ganz unqualifizierbar aber ist das Verhalten der russischen Presse, die in diesen kritischen Tagen eine unrühmliche Einigkeit zustande brachte: in unverant¬ wortlicher staatswissenschaftlicher Unkenntnis, wie auch in großer patriotischer Taktlosigkeit geschah alles, was irgend dazu beitragen konnte, die Kawalafrage möglichst aufzubauschen. Wie alle Äußerungen des Lebens der Staaten untereinander, steht auch das Balkandrama von 1912 bis 1913 mit seiner» gesamten Zubehör im Banne der großen Metamorphose, für die der 23. Januar 1860 entscheidend gewesen ist; damals schloß England den sogenannten Cobden-Vertrag mit Frankreich. Und diese Grundsteinlegung des Freihandels darf zwanglos als die Besiegelung einer definitiven Wandlung aller Außenpolitik in der Weltwirtschaft angesehen werden. Die Führung der Politik präjudiziert aber dementsprechend einen großen Schatz spezieller Kenntnisse, ihre eigene Technik und viel Talent. Weder die Vereidigung auf beliebige Parteikatechismcn, noch der vollständigste Gesinnungs¬ kodex kann der Außenpolitik die nötigen Richtlinien eröffnen. Die Promptheit aber und das Tempo aller diplomatischen Willensaktionen steht in direkt proportionalen Verhältnis zur Vollständigkeit der vorhandenen Kriegsbereitschaft auf der ganzen Linie, also auch Kriegsbereitschaft in den inneren Verhältnissen, in Finanzen, Wirtschaft usw. Und schließlich: die Alternative „Krieg oder Frieden" wird füglich für alle Kulturvölker immer mehr abhängig von staatswissenschaftlicher und wirtschaftlichen Gesichtspunkten, ganz abgesehen vom jeweiligen militärischen Nüstungszustande oder strategischen Können. Jedenfalls hat diese Alternative ebensowenig mit der vermeintlichen Brüderlichkeit der Menschen und Völker zu schaffen, wie mit einem Enthusiasmus für das „erfrischende Stahlbad".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/462>, abgerufen am 28.12.2024.