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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Mit und ohne Waffen

besitz in Rußland -- in keiner Weise konstruierbar sei"). Diese fachmännisch
einwandsfreie Schrift wirkte überzeugend und für das Projekt entscheidend.

Die Frage über den Verbleib des neuen Proletariats war also theoretisch
gelöst. Wie stand es aber mit der Praxis? Mit anderen Worten: war Ru߬
land in industrieller Hinsicht bereits soweit vorgeschritten, daß es entsprechende
Verwendung für das frei werdende Menschenmaterial hatte?

Freilich war der ehemalige Finanzminister Graf Witte als Autorität auf
dem Gebiete des russischen Wirtschaftslebens überhaupt der Ansicht, daß der
heutige Stand der russischen Industrie die genügende Garantie biete für einen
Verbleib der enterbten Glieder der Bauernfamilien. Die Folge lehrte, daß er
nicht recht hatte, -- noch nicht""). Auch alle Anstrengungen, das disponible
Menschenmaterial zur Kolonisierung Sibiriens zu verwenden, reichen nicht aus.
Es wird alljährlich noch ein großer Prozentsatz nach Amerika abgegeben. Bisher
ist das Auswanderungswesen nach beiden Richtungen nicht wesentlich von Erfolg
gekrönt.

Aus Sibirien kehrt nach den bisher zur Verfügung stehenden Berichten etwa
die Hälfte zurück; aus dem Westen -- anscheinend noch mehr.

Imi übrigen fällt die Qualität der Rückwanderer ebenso schwer in die Wag¬
schale wie ihre Quantität; der Zustand, in dem sie sich dem Vaterlande wieder
zur Verfügung stellen, ist ein nach Möglichkeit kläglicher.

Das, worauf es in diesem Zusammenhang ankommt, ist also der Umstand,
daß Rußland einen großen Prozentsatz seiner Bevölkerung noch nicht in seiner
Wirtschaft unterzubringen vermag. Zu dieser an sich schon folgenschweren Tat¬
sache kommt noch die zeitweilige, aber bis heute sehr bemerkbare sittliche Ent¬
artung nach der Revolution von 1905. Aus beiden Faktoren setzt sich die fatale
Erscheinung zusammen, die zurzeit als Hooliganwesen eine so bedeutungsvolle
Rolle auf allen Gebieten des russischen Lebens spielt.

Die Menge der Individuen, die nichts zu verlieren haben, ist groß und
offenkundig, ja, sie ist ein Faktor, mit dem wohl oder übel im ernstesten Sinne
gerechnet wird. Der Krieg ist die von dieser Menge mit Sehnsucht erwartete
Gelegenheit, bei der sie sich ausdrücklich aufgefordert fühlt, an den "herrschaft¬
lichen Tisch" zu treten. Tausende harren dieser Erlösung. Kurz gesagt:
Krieg bedeutet heute für Nußland die Gefahr einer Revolution;
auch ohne das leichtsinnige Spiel der Reaktion mit dem glimmen¬
den Feuer.




") Alexander Baron Meyendorsf: "KrestzansKi ävor." (Der bäuerliche Huf.) Peters¬
burg 1909.
Es sei auf meine Ausführungen in Heft 40 vom Jahre 1912 verwiesen, mit denen
ich Dr. Lindes optimistischen Auffassungen von den Folgen der Stolypinschen Agrarreform
entgegentrat; ich habe auf Grund Persönlicher, an Ort und Stelle gewonnener Eindrücke
festgestellt, daß Rußland seit jener Agrarreform überhaupt erst ein im westeuropäischen
G. El. Sinne als revolutionär anzusprechendes Proletariat bekommen hat.
Mit und ohne Waffen

besitz in Rußland — in keiner Weise konstruierbar sei"). Diese fachmännisch
einwandsfreie Schrift wirkte überzeugend und für das Projekt entscheidend.

Die Frage über den Verbleib des neuen Proletariats war also theoretisch
gelöst. Wie stand es aber mit der Praxis? Mit anderen Worten: war Ru߬
land in industrieller Hinsicht bereits soweit vorgeschritten, daß es entsprechende
Verwendung für das frei werdende Menschenmaterial hatte?

Freilich war der ehemalige Finanzminister Graf Witte als Autorität auf
dem Gebiete des russischen Wirtschaftslebens überhaupt der Ansicht, daß der
heutige Stand der russischen Industrie die genügende Garantie biete für einen
Verbleib der enterbten Glieder der Bauernfamilien. Die Folge lehrte, daß er
nicht recht hatte, — noch nicht""). Auch alle Anstrengungen, das disponible
Menschenmaterial zur Kolonisierung Sibiriens zu verwenden, reichen nicht aus.
Es wird alljährlich noch ein großer Prozentsatz nach Amerika abgegeben. Bisher
ist das Auswanderungswesen nach beiden Richtungen nicht wesentlich von Erfolg
gekrönt.

Aus Sibirien kehrt nach den bisher zur Verfügung stehenden Berichten etwa
die Hälfte zurück; aus dem Westen — anscheinend noch mehr.

Imi übrigen fällt die Qualität der Rückwanderer ebenso schwer in die Wag¬
schale wie ihre Quantität; der Zustand, in dem sie sich dem Vaterlande wieder
zur Verfügung stellen, ist ein nach Möglichkeit kläglicher.

Das, worauf es in diesem Zusammenhang ankommt, ist also der Umstand,
daß Rußland einen großen Prozentsatz seiner Bevölkerung noch nicht in seiner
Wirtschaft unterzubringen vermag. Zu dieser an sich schon folgenschweren Tat¬
sache kommt noch die zeitweilige, aber bis heute sehr bemerkbare sittliche Ent¬
artung nach der Revolution von 1905. Aus beiden Faktoren setzt sich die fatale
Erscheinung zusammen, die zurzeit als Hooliganwesen eine so bedeutungsvolle
Rolle auf allen Gebieten des russischen Lebens spielt.

Die Menge der Individuen, die nichts zu verlieren haben, ist groß und
offenkundig, ja, sie ist ein Faktor, mit dem wohl oder übel im ernstesten Sinne
gerechnet wird. Der Krieg ist die von dieser Menge mit Sehnsucht erwartete
Gelegenheit, bei der sie sich ausdrücklich aufgefordert fühlt, an den „herrschaft¬
lichen Tisch" zu treten. Tausende harren dieser Erlösung. Kurz gesagt:
Krieg bedeutet heute für Nußland die Gefahr einer Revolution;
auch ohne das leichtsinnige Spiel der Reaktion mit dem glimmen¬
den Feuer.




") Alexander Baron Meyendorsf: „KrestzansKi ävor." (Der bäuerliche Huf.) Peters¬
burg 1909.
Es sei auf meine Ausführungen in Heft 40 vom Jahre 1912 verwiesen, mit denen
ich Dr. Lindes optimistischen Auffassungen von den Folgen der Stolypinschen Agrarreform
entgegentrat; ich habe auf Grund Persönlicher, an Ort und Stelle gewonnener Eindrücke
festgestellt, daß Rußland seit jener Agrarreform überhaupt erst ein im westeuropäischen
G. El. Sinne als revolutionär anzusprechendes Proletariat bekommen hat.
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[0460] Mit und ohne Waffen besitz in Rußland — in keiner Weise konstruierbar sei"). Diese fachmännisch einwandsfreie Schrift wirkte überzeugend und für das Projekt entscheidend. Die Frage über den Verbleib des neuen Proletariats war also theoretisch gelöst. Wie stand es aber mit der Praxis? Mit anderen Worten: war Ru߬ land in industrieller Hinsicht bereits soweit vorgeschritten, daß es entsprechende Verwendung für das frei werdende Menschenmaterial hatte? Freilich war der ehemalige Finanzminister Graf Witte als Autorität auf dem Gebiete des russischen Wirtschaftslebens überhaupt der Ansicht, daß der heutige Stand der russischen Industrie die genügende Garantie biete für einen Verbleib der enterbten Glieder der Bauernfamilien. Die Folge lehrte, daß er nicht recht hatte, — noch nicht""). Auch alle Anstrengungen, das disponible Menschenmaterial zur Kolonisierung Sibiriens zu verwenden, reichen nicht aus. Es wird alljährlich noch ein großer Prozentsatz nach Amerika abgegeben. Bisher ist das Auswanderungswesen nach beiden Richtungen nicht wesentlich von Erfolg gekrönt. Aus Sibirien kehrt nach den bisher zur Verfügung stehenden Berichten etwa die Hälfte zurück; aus dem Westen — anscheinend noch mehr. Imi übrigen fällt die Qualität der Rückwanderer ebenso schwer in die Wag¬ schale wie ihre Quantität; der Zustand, in dem sie sich dem Vaterlande wieder zur Verfügung stellen, ist ein nach Möglichkeit kläglicher. Das, worauf es in diesem Zusammenhang ankommt, ist also der Umstand, daß Rußland einen großen Prozentsatz seiner Bevölkerung noch nicht in seiner Wirtschaft unterzubringen vermag. Zu dieser an sich schon folgenschweren Tat¬ sache kommt noch die zeitweilige, aber bis heute sehr bemerkbare sittliche Ent¬ artung nach der Revolution von 1905. Aus beiden Faktoren setzt sich die fatale Erscheinung zusammen, die zurzeit als Hooliganwesen eine so bedeutungsvolle Rolle auf allen Gebieten des russischen Lebens spielt. Die Menge der Individuen, die nichts zu verlieren haben, ist groß und offenkundig, ja, sie ist ein Faktor, mit dem wohl oder übel im ernstesten Sinne gerechnet wird. Der Krieg ist die von dieser Menge mit Sehnsucht erwartete Gelegenheit, bei der sie sich ausdrücklich aufgefordert fühlt, an den „herrschaft¬ lichen Tisch" zu treten. Tausende harren dieser Erlösung. Kurz gesagt: Krieg bedeutet heute für Nußland die Gefahr einer Revolution; auch ohne das leichtsinnige Spiel der Reaktion mit dem glimmen¬ den Feuer. ") Alexander Baron Meyendorsf: „KrestzansKi ävor." (Der bäuerliche Huf.) Peters¬ burg 1909. Es sei auf meine Ausführungen in Heft 40 vom Jahre 1912 verwiesen, mit denen ich Dr. Lindes optimistischen Auffassungen von den Folgen der Stolypinschen Agrarreform entgegentrat; ich habe auf Grund Persönlicher, an Ort und Stelle gewonnener Eindrücke festgestellt, daß Rußland seit jener Agrarreform überhaupt erst ein im westeuropäischen G. El. Sinne als revolutionär anzusprechendes Proletariat bekommen hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/460>, abgerufen am 29.12.2024.