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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Mit und ohne Waffen

Füllungsprozesses muß nach Möglichkeit weggeräumt werden. Denn selbst
ohne akute Störungen werden noch manche Generationen hingehen müssen, ehe
die erforderlichen Bevölkerungsverhältnisse in Rußland erreicht sind. Die Leb¬
haftigkeit der Bevölkerungsbewegung ist aber für die Steigerung jedes Volks¬
lebens die erste Vorbedingung. Ja, das Gedränge ist Ursache, nicht aber
Folge der Kultur.




Zum Schluß sei noch an ein ganz akutes Bedürfnis Rußlands nach Frieden
-- erinnert: dieses Bedürfnis ist auf dem Boden der jüngsten Agrarpolitik
Rußlands erwachsen und betrifft eines der schmerzlichsten Kapitel aus der Kultur¬
geschichte des Zarenreiches) trotz des Menschenmangels kommt die Sorge um
den Verbleib der Menschen nicht zur Ruhe.

Dieses Kapitel hat eine ebenso lange wie interessante Geschichte.

Die ersten fachmännisch wertvollen Äußerungen über dieses Thema kamen
aus der berufenen Feder Johannes von Keußlers um die Wende der siebziger
und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts^), also: in einer Zeit, die bereits
deutlich erkennen ließ, daß man die persönliche Unfreiheit der Bauern gegen
eine materielle Sklaverei und eine Steigerung des Pauperismus eingetauscht
hatte. Keußlers Arbeit ist nun von doppelter volkswirtschaftlicher Bedeutung
gewesen: einerseits brachte sie den Nachweis, daß man weder ein Volk von der
Leibeigenschaft befreien, noch einen Gemeindebesitz abschaffen kann, wenn man
nicht zuvor weiß, wo die nunmehr frei werdenden Kräfte bleiben sollen.
Anderseits ist sie von speziellen Interesse, weil der Autor einen künftigen
Übergang zum Individualbesitz in Nußland nur unter der Voraussetzung
für denkbar hält, daß das neu erstehende Proletariat, alia8: die leer
ausgehenden Glieder der Bauernfamilien mit barem Gelde abzufinden seien.
So sehr hatte sich in Rußland die Identifizierung des Erbrechtes mit der
Familienteilung bereits eingebürgert, daß dieser scharfsinnige Autor, mit dem
Anrecht aller Familienglieder auf Land, als mit einer conäitio 8ins c>na non,
rechnen zu müssen meinte.

Als dann der Übergang aus dem Gemeindebesitz zum Individualbesitz durch
den Mas vom 9. November 1906 und die dann folgenden Gesetze vom 14. Juni
1910 und vom 29. Mai 1911 verwirklicht werden sollte, tauchte in den Duma¬
verhandlungen das alte Gespenst des durch jahrhundertelange Gewohnheit
konsolidierten und so verhängnisvollen Erbrechtes wieder auf und wurde dem
Projekt des Jndividualbesitzes zeitweilig bedrohlich. Damals war es der Duma¬
abgeordnete Alexander Baron Meyendorff. der den juridischen Nachweis dafür
erbrachte, daß der Begriff des Familieneigentums für den bisherigen Gemeinde-



*) I. von Keußler: "Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in
Rußland." Petersburg, 1876 bis 1883. Band III, S. 323 usw.
Mit und ohne Waffen

Füllungsprozesses muß nach Möglichkeit weggeräumt werden. Denn selbst
ohne akute Störungen werden noch manche Generationen hingehen müssen, ehe
die erforderlichen Bevölkerungsverhältnisse in Rußland erreicht sind. Die Leb¬
haftigkeit der Bevölkerungsbewegung ist aber für die Steigerung jedes Volks¬
lebens die erste Vorbedingung. Ja, das Gedränge ist Ursache, nicht aber
Folge der Kultur.




Zum Schluß sei noch an ein ganz akutes Bedürfnis Rußlands nach Frieden
— erinnert: dieses Bedürfnis ist auf dem Boden der jüngsten Agrarpolitik
Rußlands erwachsen und betrifft eines der schmerzlichsten Kapitel aus der Kultur¬
geschichte des Zarenreiches) trotz des Menschenmangels kommt die Sorge um
den Verbleib der Menschen nicht zur Ruhe.

Dieses Kapitel hat eine ebenso lange wie interessante Geschichte.

Die ersten fachmännisch wertvollen Äußerungen über dieses Thema kamen
aus der berufenen Feder Johannes von Keußlers um die Wende der siebziger
und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts^), also: in einer Zeit, die bereits
deutlich erkennen ließ, daß man die persönliche Unfreiheit der Bauern gegen
eine materielle Sklaverei und eine Steigerung des Pauperismus eingetauscht
hatte. Keußlers Arbeit ist nun von doppelter volkswirtschaftlicher Bedeutung
gewesen: einerseits brachte sie den Nachweis, daß man weder ein Volk von der
Leibeigenschaft befreien, noch einen Gemeindebesitz abschaffen kann, wenn man
nicht zuvor weiß, wo die nunmehr frei werdenden Kräfte bleiben sollen.
Anderseits ist sie von speziellen Interesse, weil der Autor einen künftigen
Übergang zum Individualbesitz in Nußland nur unter der Voraussetzung
für denkbar hält, daß das neu erstehende Proletariat, alia8: die leer
ausgehenden Glieder der Bauernfamilien mit barem Gelde abzufinden seien.
So sehr hatte sich in Rußland die Identifizierung des Erbrechtes mit der
Familienteilung bereits eingebürgert, daß dieser scharfsinnige Autor, mit dem
Anrecht aller Familienglieder auf Land, als mit einer conäitio 8ins c>na non,
rechnen zu müssen meinte.

Als dann der Übergang aus dem Gemeindebesitz zum Individualbesitz durch
den Mas vom 9. November 1906 und die dann folgenden Gesetze vom 14. Juni
1910 und vom 29. Mai 1911 verwirklicht werden sollte, tauchte in den Duma¬
verhandlungen das alte Gespenst des durch jahrhundertelange Gewohnheit
konsolidierten und so verhängnisvollen Erbrechtes wieder auf und wurde dem
Projekt des Jndividualbesitzes zeitweilig bedrohlich. Damals war es der Duma¬
abgeordnete Alexander Baron Meyendorff. der den juridischen Nachweis dafür
erbrachte, daß der Begriff des Familieneigentums für den bisherigen Gemeinde-



*) I. von Keußler: „Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in
Rußland." Petersburg, 1876 bis 1883. Band III, S. 323 usw.
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[0459] Mit und ohne Waffen Füllungsprozesses muß nach Möglichkeit weggeräumt werden. Denn selbst ohne akute Störungen werden noch manche Generationen hingehen müssen, ehe die erforderlichen Bevölkerungsverhältnisse in Rußland erreicht sind. Die Leb¬ haftigkeit der Bevölkerungsbewegung ist aber für die Steigerung jedes Volks¬ lebens die erste Vorbedingung. Ja, das Gedränge ist Ursache, nicht aber Folge der Kultur. Zum Schluß sei noch an ein ganz akutes Bedürfnis Rußlands nach Frieden — erinnert: dieses Bedürfnis ist auf dem Boden der jüngsten Agrarpolitik Rußlands erwachsen und betrifft eines der schmerzlichsten Kapitel aus der Kultur¬ geschichte des Zarenreiches) trotz des Menschenmangels kommt die Sorge um den Verbleib der Menschen nicht zur Ruhe. Dieses Kapitel hat eine ebenso lange wie interessante Geschichte. Die ersten fachmännisch wertvollen Äußerungen über dieses Thema kamen aus der berufenen Feder Johannes von Keußlers um die Wende der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts^), also: in einer Zeit, die bereits deutlich erkennen ließ, daß man die persönliche Unfreiheit der Bauern gegen eine materielle Sklaverei und eine Steigerung des Pauperismus eingetauscht hatte. Keußlers Arbeit ist nun von doppelter volkswirtschaftlicher Bedeutung gewesen: einerseits brachte sie den Nachweis, daß man weder ein Volk von der Leibeigenschaft befreien, noch einen Gemeindebesitz abschaffen kann, wenn man nicht zuvor weiß, wo die nunmehr frei werdenden Kräfte bleiben sollen. Anderseits ist sie von speziellen Interesse, weil der Autor einen künftigen Übergang zum Individualbesitz in Nußland nur unter der Voraussetzung für denkbar hält, daß das neu erstehende Proletariat, alia8: die leer ausgehenden Glieder der Bauernfamilien mit barem Gelde abzufinden seien. So sehr hatte sich in Rußland die Identifizierung des Erbrechtes mit der Familienteilung bereits eingebürgert, daß dieser scharfsinnige Autor, mit dem Anrecht aller Familienglieder auf Land, als mit einer conäitio 8ins c>na non, rechnen zu müssen meinte. Als dann der Übergang aus dem Gemeindebesitz zum Individualbesitz durch den Mas vom 9. November 1906 und die dann folgenden Gesetze vom 14. Juni 1910 und vom 29. Mai 1911 verwirklicht werden sollte, tauchte in den Duma¬ verhandlungen das alte Gespenst des durch jahrhundertelange Gewohnheit konsolidierten und so verhängnisvollen Erbrechtes wieder auf und wurde dem Projekt des Jndividualbesitzes zeitweilig bedrohlich. Damals war es der Duma¬ abgeordnete Alexander Baron Meyendorff. der den juridischen Nachweis dafür erbrachte, daß der Begriff des Familieneigentums für den bisherigen Gemeinde- *) I. von Keußler: „Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in Rußland." Petersburg, 1876 bis 1883. Band III, S. 323 usw.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/459>, abgerufen am 21.10.2024.