Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Freie Advokatur und numerus clsusus

wirkliche Staatsdiener. Ihre Anstellung erfolgte durch den Justizminister, der
auch die Zahl der Stellen festsetzte, unter Anweisung eines Wohnsitzes. Sie
unterliegen dem Aufsichtsrechte der vorgesetzten Behörde, die eine Konduitenliste
über sie zu führen hat, und können ohne förmliches Verfahren ihres Amtes ent¬
setzt werden, wenn sie sich Verfehlungen zu Schulden kommen lassen, zum
Beispiel schon dann, wenn sie etwas beantragen, "was den klaren Vorschriften
des Gesetzes zuwider wäre". Die Stellung der beamteten Justizkommissarien
war demnach eine durchaus untergeordnete. Dennoch bemühten sich viele
Richter um das Amt des Justizkommissars, das ja gegenüber der niedrigen Be¬
soldung des Richters wenigstens ein gutes Einkommen verhieß. Im Jahre 1801
wurde deshalb bestimmt, "daß es in Zukunft schlechterdings keinem in einer
ansehnlichen richterlichen Bedienung stehenden Justizbedienten weiter verstattet
werden soll, um seiner Konvenienz willen seine Stelle niederzulegen und als
Justizkommissarius Prozeßpraxis zu treiben!"

Die große Gerichtsreform in Preußen aus den Jahren 1846--1849 brachte
in der Stellung der Advokatur nur unwesentliche Änderungen mit sich. Die
Justizkommissaricn hießen von nun an Rechtsanwälte. Die Qualifikation zur
Ausübung der Rechtsanwaltschaft wurde die gleiche, wie die zum Nichteramte,
während bisher bei den Untergerichten zur Bestellung als Justizkommissarius
das Bestehen einer kleineren Prüfung, des sogenannten dritten Examens aus¬
machte. Es wurde ferner ein Ehrenrat der Anwälte geschaffen.

Das war alles! Die Rechtsanwälte blieben abhängige Beamte, die vom
Staate nach Belieben angestellt wurden. Eine Höchstzahl war nicht vorge¬
schrieben. Im Ergebnisse kam es aber, da die Ernennung im freien Ermessen
des Justizministers stand und dieser jede Überfüllung zu vermeiden suchte, auf
dasselbe hinaus. So lagen die Dinge in Preußen, ebenso in Bayern und den
thüringischen Staaten. Völlig freigegeben war die Advokatur in Braunschweig
und Mecklenburg. In Hannover und Baden war die Freigabe auf die Kollegial¬
gerichte beschränkt. In Rheinpreußen und Württemberg wurde ac facto die
Zulassung niemals versagt und in Sachsen bestand eine Höchstzahl, die aber
so hoch bemessen war, daß der Zustand der freien Advokatur gleichkam.

Die Forderung nach Freigabe der Advokatur in Preußen und in ganz
Deutschland begann nach einigen vereinzelten Ansätzen um das Jahr 1860 leb¬
hafter aufzutauchen. Der unmittelbare Anlaß war der große Andrang zur
juristischen Laufbahn. Im Jahre 1860 richteten 850 preußische Gerichtsassessoren
eine Kollektivpetition an das Abgeordnetenhaus, in der sie um Freigabe der
Anwaltschaft baten, einzig aus dem Grunde, weil sie zu lange auf Anstellung
warten mußten. Am 23. August 1861 wurde ein preußischer allgemeiner
Anwaltverein gegründet. Die Frage der freien Advokatur wurde nicht zum
Programmpunkte erhoben, wiewohl eine Anzahl der Mitglieder von Anfang an
energisch für sie eintrat. Tie Agitation wandte sich vielmehr zunächst gegen
die Staatsdienereigenschaft der Rechtsanwälte, gegen ihre Abhängigkeit vom


28*
Freie Advokatur und numerus clsusus

wirkliche Staatsdiener. Ihre Anstellung erfolgte durch den Justizminister, der
auch die Zahl der Stellen festsetzte, unter Anweisung eines Wohnsitzes. Sie
unterliegen dem Aufsichtsrechte der vorgesetzten Behörde, die eine Konduitenliste
über sie zu führen hat, und können ohne förmliches Verfahren ihres Amtes ent¬
setzt werden, wenn sie sich Verfehlungen zu Schulden kommen lassen, zum
Beispiel schon dann, wenn sie etwas beantragen, „was den klaren Vorschriften
des Gesetzes zuwider wäre". Die Stellung der beamteten Justizkommissarien
war demnach eine durchaus untergeordnete. Dennoch bemühten sich viele
Richter um das Amt des Justizkommissars, das ja gegenüber der niedrigen Be¬
soldung des Richters wenigstens ein gutes Einkommen verhieß. Im Jahre 1801
wurde deshalb bestimmt, „daß es in Zukunft schlechterdings keinem in einer
ansehnlichen richterlichen Bedienung stehenden Justizbedienten weiter verstattet
werden soll, um seiner Konvenienz willen seine Stelle niederzulegen und als
Justizkommissarius Prozeßpraxis zu treiben!"

Die große Gerichtsreform in Preußen aus den Jahren 1846—1849 brachte
in der Stellung der Advokatur nur unwesentliche Änderungen mit sich. Die
Justizkommissaricn hießen von nun an Rechtsanwälte. Die Qualifikation zur
Ausübung der Rechtsanwaltschaft wurde die gleiche, wie die zum Nichteramte,
während bisher bei den Untergerichten zur Bestellung als Justizkommissarius
das Bestehen einer kleineren Prüfung, des sogenannten dritten Examens aus¬
machte. Es wurde ferner ein Ehrenrat der Anwälte geschaffen.

Das war alles! Die Rechtsanwälte blieben abhängige Beamte, die vom
Staate nach Belieben angestellt wurden. Eine Höchstzahl war nicht vorge¬
schrieben. Im Ergebnisse kam es aber, da die Ernennung im freien Ermessen
des Justizministers stand und dieser jede Überfüllung zu vermeiden suchte, auf
dasselbe hinaus. So lagen die Dinge in Preußen, ebenso in Bayern und den
thüringischen Staaten. Völlig freigegeben war die Advokatur in Braunschweig
und Mecklenburg. In Hannover und Baden war die Freigabe auf die Kollegial¬
gerichte beschränkt. In Rheinpreußen und Württemberg wurde ac facto die
Zulassung niemals versagt und in Sachsen bestand eine Höchstzahl, die aber
so hoch bemessen war, daß der Zustand der freien Advokatur gleichkam.

Die Forderung nach Freigabe der Advokatur in Preußen und in ganz
Deutschland begann nach einigen vereinzelten Ansätzen um das Jahr 1860 leb¬
hafter aufzutauchen. Der unmittelbare Anlaß war der große Andrang zur
juristischen Laufbahn. Im Jahre 1860 richteten 850 preußische Gerichtsassessoren
eine Kollektivpetition an das Abgeordnetenhaus, in der sie um Freigabe der
Anwaltschaft baten, einzig aus dem Grunde, weil sie zu lange auf Anstellung
warten mußten. Am 23. August 1861 wurde ein preußischer allgemeiner
Anwaltverein gegründet. Die Frage der freien Advokatur wurde nicht zum
Programmpunkte erhoben, wiewohl eine Anzahl der Mitglieder von Anfang an
energisch für sie eintrat. Tie Agitation wandte sich vielmehr zunächst gegen
die Staatsdienereigenschaft der Rechtsanwälte, gegen ihre Abhängigkeit vom


28*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0447" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326617"/>
          <fw type="header" place="top"> Freie Advokatur und numerus clsusus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2157" prev="#ID_2156"> wirkliche Staatsdiener. Ihre Anstellung erfolgte durch den Justizminister, der<lb/>
auch die Zahl der Stellen festsetzte, unter Anweisung eines Wohnsitzes. Sie<lb/>
unterliegen dem Aufsichtsrechte der vorgesetzten Behörde, die eine Konduitenliste<lb/>
über sie zu führen hat, und können ohne förmliches Verfahren ihres Amtes ent¬<lb/>
setzt werden, wenn sie sich Verfehlungen zu Schulden kommen lassen, zum<lb/>
Beispiel schon dann, wenn sie etwas beantragen, &#x201E;was den klaren Vorschriften<lb/>
des Gesetzes zuwider wäre". Die Stellung der beamteten Justizkommissarien<lb/>
war demnach eine durchaus untergeordnete. Dennoch bemühten sich viele<lb/>
Richter um das Amt des Justizkommissars, das ja gegenüber der niedrigen Be¬<lb/>
soldung des Richters wenigstens ein gutes Einkommen verhieß. Im Jahre 1801<lb/>
wurde deshalb bestimmt, &#x201E;daß es in Zukunft schlechterdings keinem in einer<lb/>
ansehnlichen richterlichen Bedienung stehenden Justizbedienten weiter verstattet<lb/>
werden soll, um seiner Konvenienz willen seine Stelle niederzulegen und als<lb/>
Justizkommissarius Prozeßpraxis zu treiben!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2158"> Die große Gerichtsreform in Preußen aus den Jahren 1846&#x2014;1849 brachte<lb/>
in der Stellung der Advokatur nur unwesentliche Änderungen mit sich. Die<lb/>
Justizkommissaricn hießen von nun an Rechtsanwälte. Die Qualifikation zur<lb/>
Ausübung der Rechtsanwaltschaft wurde die gleiche, wie die zum Nichteramte,<lb/>
während bisher bei den Untergerichten zur Bestellung als Justizkommissarius<lb/>
das Bestehen einer kleineren Prüfung, des sogenannten dritten Examens aus¬<lb/>
machte.  Es wurde ferner ein Ehrenrat der Anwälte geschaffen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2159"> Das war alles! Die Rechtsanwälte blieben abhängige Beamte, die vom<lb/>
Staate nach Belieben angestellt wurden. Eine Höchstzahl war nicht vorge¬<lb/>
schrieben. Im Ergebnisse kam es aber, da die Ernennung im freien Ermessen<lb/>
des Justizministers stand und dieser jede Überfüllung zu vermeiden suchte, auf<lb/>
dasselbe hinaus. So lagen die Dinge in Preußen, ebenso in Bayern und den<lb/>
thüringischen Staaten. Völlig freigegeben war die Advokatur in Braunschweig<lb/>
und Mecklenburg. In Hannover und Baden war die Freigabe auf die Kollegial¬<lb/>
gerichte beschränkt. In Rheinpreußen und Württemberg wurde ac facto die<lb/>
Zulassung niemals versagt und in Sachsen bestand eine Höchstzahl, die aber<lb/>
so hoch bemessen war, daß der Zustand der freien Advokatur gleichkam.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2160" next="#ID_2161"> Die Forderung nach Freigabe der Advokatur in Preußen und in ganz<lb/>
Deutschland begann nach einigen vereinzelten Ansätzen um das Jahr 1860 leb¬<lb/>
hafter aufzutauchen. Der unmittelbare Anlaß war der große Andrang zur<lb/>
juristischen Laufbahn. Im Jahre 1860 richteten 850 preußische Gerichtsassessoren<lb/>
eine Kollektivpetition an das Abgeordnetenhaus, in der sie um Freigabe der<lb/>
Anwaltschaft baten, einzig aus dem Grunde, weil sie zu lange auf Anstellung<lb/>
warten mußten. Am 23. August 1861 wurde ein preußischer allgemeiner<lb/>
Anwaltverein gegründet. Die Frage der freien Advokatur wurde nicht zum<lb/>
Programmpunkte erhoben, wiewohl eine Anzahl der Mitglieder von Anfang an<lb/>
energisch für sie eintrat. Tie Agitation wandte sich vielmehr zunächst gegen<lb/>
die Staatsdienereigenschaft der Rechtsanwälte, gegen ihre Abhängigkeit vom</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 28*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0447] Freie Advokatur und numerus clsusus wirkliche Staatsdiener. Ihre Anstellung erfolgte durch den Justizminister, der auch die Zahl der Stellen festsetzte, unter Anweisung eines Wohnsitzes. Sie unterliegen dem Aufsichtsrechte der vorgesetzten Behörde, die eine Konduitenliste über sie zu führen hat, und können ohne förmliches Verfahren ihres Amtes ent¬ setzt werden, wenn sie sich Verfehlungen zu Schulden kommen lassen, zum Beispiel schon dann, wenn sie etwas beantragen, „was den klaren Vorschriften des Gesetzes zuwider wäre". Die Stellung der beamteten Justizkommissarien war demnach eine durchaus untergeordnete. Dennoch bemühten sich viele Richter um das Amt des Justizkommissars, das ja gegenüber der niedrigen Be¬ soldung des Richters wenigstens ein gutes Einkommen verhieß. Im Jahre 1801 wurde deshalb bestimmt, „daß es in Zukunft schlechterdings keinem in einer ansehnlichen richterlichen Bedienung stehenden Justizbedienten weiter verstattet werden soll, um seiner Konvenienz willen seine Stelle niederzulegen und als Justizkommissarius Prozeßpraxis zu treiben!" Die große Gerichtsreform in Preußen aus den Jahren 1846—1849 brachte in der Stellung der Advokatur nur unwesentliche Änderungen mit sich. Die Justizkommissaricn hießen von nun an Rechtsanwälte. Die Qualifikation zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft wurde die gleiche, wie die zum Nichteramte, während bisher bei den Untergerichten zur Bestellung als Justizkommissarius das Bestehen einer kleineren Prüfung, des sogenannten dritten Examens aus¬ machte. Es wurde ferner ein Ehrenrat der Anwälte geschaffen. Das war alles! Die Rechtsanwälte blieben abhängige Beamte, die vom Staate nach Belieben angestellt wurden. Eine Höchstzahl war nicht vorge¬ schrieben. Im Ergebnisse kam es aber, da die Ernennung im freien Ermessen des Justizministers stand und dieser jede Überfüllung zu vermeiden suchte, auf dasselbe hinaus. So lagen die Dinge in Preußen, ebenso in Bayern und den thüringischen Staaten. Völlig freigegeben war die Advokatur in Braunschweig und Mecklenburg. In Hannover und Baden war die Freigabe auf die Kollegial¬ gerichte beschränkt. In Rheinpreußen und Württemberg wurde ac facto die Zulassung niemals versagt und in Sachsen bestand eine Höchstzahl, die aber so hoch bemessen war, daß der Zustand der freien Advokatur gleichkam. Die Forderung nach Freigabe der Advokatur in Preußen und in ganz Deutschland begann nach einigen vereinzelten Ansätzen um das Jahr 1860 leb¬ hafter aufzutauchen. Der unmittelbare Anlaß war der große Andrang zur juristischen Laufbahn. Im Jahre 1860 richteten 850 preußische Gerichtsassessoren eine Kollektivpetition an das Abgeordnetenhaus, in der sie um Freigabe der Anwaltschaft baten, einzig aus dem Grunde, weil sie zu lange auf Anstellung warten mußten. Am 23. August 1861 wurde ein preußischer allgemeiner Anwaltverein gegründet. Die Frage der freien Advokatur wurde nicht zum Programmpunkte erhoben, wiewohl eine Anzahl der Mitglieder von Anfang an energisch für sie eintrat. Tie Agitation wandte sich vielmehr zunächst gegen die Staatsdienereigenschaft der Rechtsanwälte, gegen ihre Abhängigkeit vom 28*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/447
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/447>, abgerufen am 19.10.2024.