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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Strömung zu fürchten brauchte. Bäuerisch sind
eigentlich an dem Werk nur die einfachen,
monumentalen Verhältnisse, in die des
Dichters ehrliches Streben und achtung¬
gebietendes Können Menschen einstellt. Die
Himmelspacher, die seit dreihundert Jahren
nuf allen Winden, dem höchstgelegenen
Bauerndorf im Elsaß Hausen, sind in all ihrem
menschlichen Erleben an den Rhythmus
Säens und Erntens gebunden. Aber das
Ergreifende, das dichterisch Wirksame an ihnen
ist weniger dieser Rythmus, als die steinerne
Schwere und Größe der Gestalten. Ein
Niesenmaß der Leiber steht der Kleinheit,
Kompliziertheit des bloß naturgetreuen jedes
Standes wuchtig entgegen. Das Wahrhaftige
-- vereinfacht erschaut -- das ist Stegemanns
dichterisches Verfahren. Der Bauernkitlcl dürste
daher gelegentlich einer anderen Kleidung
weichen, die Wucht der Gestalten bliebe be¬
stehen. Karge Worte mit vollem Gewicht
niedergehen lassen, ist eine besondere Stil¬
eigentümlichkeit des Verfassers, die fast zur
Manier zu werden droht. Doch gelingt ihm
auch das leichte Parlierer des Lustibus, des
Colmarers, der nach Frankreich zur Legion
zieht, nicht ohne sein folgenschweres Mäher¬
heldentum auf allen Winden auszuleben.
Atmosphärische Sinnlichkeit lichter heuduft-
erfüllter Sommernächte umhüllt zaubervoll wil¬
des und doch so selbstverständliches Geschehen.

Liegt die unverkennbare Größe von Stege¬
manns Darstellung in ihrer Freiheit vom
stofflichen Bauerntum, in der absoluten Pro-
Portion einer hochtürmenden Gestaltungskunst,
so liegt ihr Reiz, ihr fest zupackender Zauber
gerade in der örtlich-zeitlichen Gebundenheit.
Die dramatisch geschlossen angelegten Konflikte
sind zeitlos; die Worte, mit denen sie aus¬
getragen werden, sind aus dem Elsaß von
heute. Wie lieblich diese Bauern in ihr ker¬
niges, reiches Deutsch französische Brocken
mischen, ist dem Verfasser nicht nachzuerzählen.
Keine städtische Sprachvermischung, keine
Sprachvcrderbnis. Das Fremde steht gleich
einem streng gefaßten Stein mitten im an¬
gestammten Gut: es leuchtet und ziert, kann
aber nimmer lebendig einwachsen.

S. 227: "Da antwortete die Leuni, und
ihr Atem war Feuer, als sie ihm wild ins
Gesicht hauchte:

[Spaltenumbruch]

"Wer bist denn du? Nichts, als ein lahmer
Knecht! Was weißt denn du? Nichts, als was
du mit den Händen greifst wie ein Blinder.
Ja, ich bin ihm zulieb gegangen, ich hab
ihm die Augen geworfen und ihm das Ohr
gekitzelt, und ich bin auf dem Weg gewesen
zum Letzten mit ihm, ich hab unter dem Heu
gelegen und ihm den Weg gewiesen in die
Scheuer, ihm im Ersticken gesagt, daß er auf
mich warte, alles, alles -- und dn, du hast
mir den Weg gesperrt und mir den Schoß
leer gelassen! -- Ja, tu nur stolz und treu
und mach den Hund, der den Hof und den
Himmelspacher vor einem Räuber salviert hat
-- du bist trotz allem ein siecher, der nicht
sieht, was er greift. Meinst du, es ist wegen
der Hitze im Blut, daß ich zu ihm geschlichen
bin? Oder ich hält ihn lieb gehabt? Meinst
du Gauch, es ist dem Franz zu Leid ge¬
schehen? Nichts hab ich wollen als ein Kind,
denn der Himmelspacher gibt mir keins!"

Das letzte Wort war ein Schrei, die ver¬
krampften Finger streckten sich und griffen irr
in die Luft.

"Ein Kind!"

Er griff sie an, Arm und riß sie ans
Fenster.

Sie tauchten die Köpfe in das gelbflim¬
mernde Licht und bohrten einander die Augen
in die verzerrten, zuckenden Gesichter.

"Ja, du Ehrensteifer, ein Kind?" trotzte
sie noch einmal.

"Und der wär der Vater gewesen zu
deinem Kind, zum Kind des Franz auf allen
Winden? Derl"

"Der? Nein, der wär mir feil gewesen,
Hans! Tot und ausgelöscht, und wenn ihn
einer erschlagen hält unterwegs -- thut pis
pour Im --, er läg mir gut, wo er auch tagt"

"Erschlagen, Frau!" schrie der Knecht mit
heiseren Laut, und sein Gesicht erstarrte zu
dunklem Erz. Wie Bronze, die grünlich an¬
läuft. Und sie mit abgründigen Augen an¬
schauend, fuhr er ruhig und schwer fort: "Ja,
Ihr habt recht! Und er ist auf der Grill
Wohl gestorben. Er ist gestorben nach der
Brunst wie der Bien im Stock. Und es hat
nassen sein!"

Die ewige Epopöe der Fortpflanzung, der
Zeugung hat unter vielen Tausenden beson¬
ders ein tiefgründigstes Symbol: die Geschichte

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Strömung zu fürchten brauchte. Bäuerisch sind
eigentlich an dem Werk nur die einfachen,
monumentalen Verhältnisse, in die des
Dichters ehrliches Streben und achtung¬
gebietendes Können Menschen einstellt. Die
Himmelspacher, die seit dreihundert Jahren
nuf allen Winden, dem höchstgelegenen
Bauerndorf im Elsaß Hausen, sind in all ihrem
menschlichen Erleben an den Rhythmus
Säens und Erntens gebunden. Aber das
Ergreifende, das dichterisch Wirksame an ihnen
ist weniger dieser Rythmus, als die steinerne
Schwere und Größe der Gestalten. Ein
Niesenmaß der Leiber steht der Kleinheit,
Kompliziertheit des bloß naturgetreuen jedes
Standes wuchtig entgegen. Das Wahrhaftige
— vereinfacht erschaut — das ist Stegemanns
dichterisches Verfahren. Der Bauernkitlcl dürste
daher gelegentlich einer anderen Kleidung
weichen, die Wucht der Gestalten bliebe be¬
stehen. Karge Worte mit vollem Gewicht
niedergehen lassen, ist eine besondere Stil¬
eigentümlichkeit des Verfassers, die fast zur
Manier zu werden droht. Doch gelingt ihm
auch das leichte Parlierer des Lustibus, des
Colmarers, der nach Frankreich zur Legion
zieht, nicht ohne sein folgenschweres Mäher¬
heldentum auf allen Winden auszuleben.
Atmosphärische Sinnlichkeit lichter heuduft-
erfüllter Sommernächte umhüllt zaubervoll wil¬
des und doch so selbstverständliches Geschehen.

Liegt die unverkennbare Größe von Stege¬
manns Darstellung in ihrer Freiheit vom
stofflichen Bauerntum, in der absoluten Pro-
Portion einer hochtürmenden Gestaltungskunst,
so liegt ihr Reiz, ihr fest zupackender Zauber
gerade in der örtlich-zeitlichen Gebundenheit.
Die dramatisch geschlossen angelegten Konflikte
sind zeitlos; die Worte, mit denen sie aus¬
getragen werden, sind aus dem Elsaß von
heute. Wie lieblich diese Bauern in ihr ker¬
niges, reiches Deutsch französische Brocken
mischen, ist dem Verfasser nicht nachzuerzählen.
Keine städtische Sprachvermischung, keine
Sprachvcrderbnis. Das Fremde steht gleich
einem streng gefaßten Stein mitten im an¬
gestammten Gut: es leuchtet und ziert, kann
aber nimmer lebendig einwachsen.

S. 227: „Da antwortete die Leuni, und
ihr Atem war Feuer, als sie ihm wild ins
Gesicht hauchte:

[Spaltenumbruch]

„Wer bist denn du? Nichts, als ein lahmer
Knecht! Was weißt denn du? Nichts, als was
du mit den Händen greifst wie ein Blinder.
Ja, ich bin ihm zulieb gegangen, ich hab
ihm die Augen geworfen und ihm das Ohr
gekitzelt, und ich bin auf dem Weg gewesen
zum Letzten mit ihm, ich hab unter dem Heu
gelegen und ihm den Weg gewiesen in die
Scheuer, ihm im Ersticken gesagt, daß er auf
mich warte, alles, alles — und dn, du hast
mir den Weg gesperrt und mir den Schoß
leer gelassen! — Ja, tu nur stolz und treu
und mach den Hund, der den Hof und den
Himmelspacher vor einem Räuber salviert hat
— du bist trotz allem ein siecher, der nicht
sieht, was er greift. Meinst du, es ist wegen
der Hitze im Blut, daß ich zu ihm geschlichen
bin? Oder ich hält ihn lieb gehabt? Meinst
du Gauch, es ist dem Franz zu Leid ge¬
schehen? Nichts hab ich wollen als ein Kind,
denn der Himmelspacher gibt mir keins!"

Das letzte Wort war ein Schrei, die ver¬
krampften Finger streckten sich und griffen irr
in die Luft.

„Ein Kind!"

Er griff sie an, Arm und riß sie ans
Fenster.

Sie tauchten die Köpfe in das gelbflim¬
mernde Licht und bohrten einander die Augen
in die verzerrten, zuckenden Gesichter.

„Ja, du Ehrensteifer, ein Kind?" trotzte
sie noch einmal.

„Und der wär der Vater gewesen zu
deinem Kind, zum Kind des Franz auf allen
Winden? Derl"

„Der? Nein, der wär mir feil gewesen,
Hans! Tot und ausgelöscht, und wenn ihn
einer erschlagen hält unterwegs — thut pis
pour Im —, er läg mir gut, wo er auch tagt"

„Erschlagen, Frau!" schrie der Knecht mit
heiseren Laut, und sein Gesicht erstarrte zu
dunklem Erz. Wie Bronze, die grünlich an¬
läuft. Und sie mit abgründigen Augen an¬
schauend, fuhr er ruhig und schwer fort: „Ja,
Ihr habt recht! Und er ist auf der Grill
Wohl gestorben. Er ist gestorben nach der
Brunst wie der Bien im Stock. Und es hat
nassen sein!"

Die ewige Epopöe der Fortpflanzung, der
Zeugung hat unter vielen Tausenden beson¬
ders ein tiefgründigstes Symbol: die Geschichte

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[0443] Maßgebliches und Unmaßgebliches Strömung zu fürchten brauchte. Bäuerisch sind eigentlich an dem Werk nur die einfachen, monumentalen Verhältnisse, in die des Dichters ehrliches Streben und achtung¬ gebietendes Können Menschen einstellt. Die Himmelspacher, die seit dreihundert Jahren nuf allen Winden, dem höchstgelegenen Bauerndorf im Elsaß Hausen, sind in all ihrem menschlichen Erleben an den Rhythmus Säens und Erntens gebunden. Aber das Ergreifende, das dichterisch Wirksame an ihnen ist weniger dieser Rythmus, als die steinerne Schwere und Größe der Gestalten. Ein Niesenmaß der Leiber steht der Kleinheit, Kompliziertheit des bloß naturgetreuen jedes Standes wuchtig entgegen. Das Wahrhaftige — vereinfacht erschaut — das ist Stegemanns dichterisches Verfahren. Der Bauernkitlcl dürste daher gelegentlich einer anderen Kleidung weichen, die Wucht der Gestalten bliebe be¬ stehen. Karge Worte mit vollem Gewicht niedergehen lassen, ist eine besondere Stil¬ eigentümlichkeit des Verfassers, die fast zur Manier zu werden droht. Doch gelingt ihm auch das leichte Parlierer des Lustibus, des Colmarers, der nach Frankreich zur Legion zieht, nicht ohne sein folgenschweres Mäher¬ heldentum auf allen Winden auszuleben. Atmosphärische Sinnlichkeit lichter heuduft- erfüllter Sommernächte umhüllt zaubervoll wil¬ des und doch so selbstverständliches Geschehen. Liegt die unverkennbare Größe von Stege¬ manns Darstellung in ihrer Freiheit vom stofflichen Bauerntum, in der absoluten Pro- Portion einer hochtürmenden Gestaltungskunst, so liegt ihr Reiz, ihr fest zupackender Zauber gerade in der örtlich-zeitlichen Gebundenheit. Die dramatisch geschlossen angelegten Konflikte sind zeitlos; die Worte, mit denen sie aus¬ getragen werden, sind aus dem Elsaß von heute. Wie lieblich diese Bauern in ihr ker¬ niges, reiches Deutsch französische Brocken mischen, ist dem Verfasser nicht nachzuerzählen. Keine städtische Sprachvermischung, keine Sprachvcrderbnis. Das Fremde steht gleich einem streng gefaßten Stein mitten im an¬ gestammten Gut: es leuchtet und ziert, kann aber nimmer lebendig einwachsen. S. 227: „Da antwortete die Leuni, und ihr Atem war Feuer, als sie ihm wild ins Gesicht hauchte: „Wer bist denn du? Nichts, als ein lahmer Knecht! Was weißt denn du? Nichts, als was du mit den Händen greifst wie ein Blinder. Ja, ich bin ihm zulieb gegangen, ich hab ihm die Augen geworfen und ihm das Ohr gekitzelt, und ich bin auf dem Weg gewesen zum Letzten mit ihm, ich hab unter dem Heu gelegen und ihm den Weg gewiesen in die Scheuer, ihm im Ersticken gesagt, daß er auf mich warte, alles, alles — und dn, du hast mir den Weg gesperrt und mir den Schoß leer gelassen! — Ja, tu nur stolz und treu und mach den Hund, der den Hof und den Himmelspacher vor einem Räuber salviert hat — du bist trotz allem ein siecher, der nicht sieht, was er greift. Meinst du, es ist wegen der Hitze im Blut, daß ich zu ihm geschlichen bin? Oder ich hält ihn lieb gehabt? Meinst du Gauch, es ist dem Franz zu Leid ge¬ schehen? Nichts hab ich wollen als ein Kind, denn der Himmelspacher gibt mir keins!" Das letzte Wort war ein Schrei, die ver¬ krampften Finger streckten sich und griffen irr in die Luft. „Ein Kind!" Er griff sie an, Arm und riß sie ans Fenster. Sie tauchten die Köpfe in das gelbflim¬ mernde Licht und bohrten einander die Augen in die verzerrten, zuckenden Gesichter. „Ja, du Ehrensteifer, ein Kind?" trotzte sie noch einmal. „Und der wär der Vater gewesen zu deinem Kind, zum Kind des Franz auf allen Winden? Derl" „Der? Nein, der wär mir feil gewesen, Hans! Tot und ausgelöscht, und wenn ihn einer erschlagen hält unterwegs — thut pis pour Im —, er läg mir gut, wo er auch tagt" „Erschlagen, Frau!" schrie der Knecht mit heiseren Laut, und sein Gesicht erstarrte zu dunklem Erz. Wie Bronze, die grünlich an¬ läuft. Und sie mit abgründigen Augen an¬ schauend, fuhr er ruhig und schwer fort: „Ja, Ihr habt recht! Und er ist auf der Grill Wohl gestorben. Er ist gestorben nach der Brunst wie der Bien im Stock. Und es hat nassen sein!" Die ewige Epopöe der Fortpflanzung, der Zeugung hat unter vielen Tausenden beson¬ ders ein tiefgründigstes Symbol: die Geschichte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/443>, abgerufen am 19.10.2024.