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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Zur Sprachkritik

für Empfindungen und Erfahrungen hin, wofür wir die Bezeichnung Denken
haben" (II 63). AIs Oberbegriff für das unbewußte Gedächtnis der organi¬
sierten Materie wie für das bewußte Gehirngedächtnis gilt Mauthner die An¬
passung. Hier knüpft er in sehr feiner Weise den biologischen Nutzen des
Vergessens an, das durch eine gewisse Elastizität des Arttypus das Individuum
ebenso anpassungsfähig erhält, wie die psychologische Erfahrung nur dadurch
ermöglicht wird, daß sie ähnliche Eindrücke für gleiche nimmt.

So kommt Mauthner zu dem Ergebnis (Seite 294), "daß das Rätsel der
Erkenntnistheorie, wie Erfahrung überhaupt möglich ist, und wie Erfahrung
zustande komme, zusammenfällt mit dem Rätsel aller Rätsel, mit dem Rätsel
des Gedächtnisses. Und das menschliche Gedächtnis, das gemeinsame Organ
besonders der Völker, ist uns längst aufgegangen als das, was uns sonst als
Sprache so vertraut ist." Aber schon Mauthner fährt fort: "Durch solche
Erwägungen wird der eine oder andere Begriff überflüssig, ohne daß wir darum
mit der Erklärung der Welt weitergekommen wären."

Der Eifer für seine Sache verführt Mauthner zu steigender Einseitigkeit.
Aus einer tiefsinnigen Analogie alles Denkens wird Sprache zum erkenntnis¬
theoretischen Gegenstand und von da über den Begriff des Gedächtnisses zur
metaphysischen Substanz, zum "Rätsel aller Rätsel", wie es für Schopenhauer
der Wille war, den Mauthner mit Recht als eine Bezeichnung von erheblicherer
Deutlichkeit für etwas schlechthin Unerfahrbares geißelt. Alles Besondere führt
auch ihn immer wieder auf dieses Allgemeine zurück. "Raum ist eine stumme
Sprache" (II 289). Patriotismus geht auf Sprachliche zurück (II 237). "Die
antirationalistische Stimmung der Gegenwart steht in Verbindung mit den sprach¬
kritischen Ideen" (II 283). "Sozial, also ethisch, also sprachlich" (Seite 200).
Nicht hier in der gewaltsamen Vereinfachung von Begriffen bis zur Verflüchtigung
jedes prägnanten Sinnes, sondern da sehe ich die größere Tiefe der Mauthner-
schen Kritik, wo er Begriffe scheidet, wie in dem Artikel: "Geschichte", der eine
meisterhafte, kleine Monographie darstellt.

Kein Begriff, hatte Mauthner gelehrt, ohne Wort, aber, fährt er fort, nicht
jedes Wort ein Begriff. Und von diesen "Scheinbegriffen", den Wortleichen
einer mumifizierten Vergangenheit, die Philosophie zu säubern, ist sein Wörter¬
buch unternommen. Wieder müssen wir die Berechtigung dieses Ausgangspunktes
anerkennen, vermögen aber nicht jeder besonderen Auslegung Mauthners zu
folgen. Gerade seine skeptische Sprachauffassung mußte streng daran festhalten,
daß ein Scheinbegriff nur historisch so geworden ist, daß er es also nicht an
sich, sondern nur für uns Lebende ist, deren Vollbegriffe vielleicht einer späteren
Philosophie ebenso gegenstandslos werden können. Nicht der Scheinbegriff ist
theoretisch falsch, sondern seine Anwendung ist praktisch schlecht, besser gesagt:
überflüssig. Für Mauthner wird er aber aus einem biologischen Rudiment
ohne Wert zur negativen Größe eines faktischen Unwertes. Das demokritische
Atom ist tot, das Cartesianische Ich, die intelligible Freiheit Kants ist tot. Da


Zur Sprachkritik

für Empfindungen und Erfahrungen hin, wofür wir die Bezeichnung Denken
haben" (II 63). AIs Oberbegriff für das unbewußte Gedächtnis der organi¬
sierten Materie wie für das bewußte Gehirngedächtnis gilt Mauthner die An¬
passung. Hier knüpft er in sehr feiner Weise den biologischen Nutzen des
Vergessens an, das durch eine gewisse Elastizität des Arttypus das Individuum
ebenso anpassungsfähig erhält, wie die psychologische Erfahrung nur dadurch
ermöglicht wird, daß sie ähnliche Eindrücke für gleiche nimmt.

So kommt Mauthner zu dem Ergebnis (Seite 294), „daß das Rätsel der
Erkenntnistheorie, wie Erfahrung überhaupt möglich ist, und wie Erfahrung
zustande komme, zusammenfällt mit dem Rätsel aller Rätsel, mit dem Rätsel
des Gedächtnisses. Und das menschliche Gedächtnis, das gemeinsame Organ
besonders der Völker, ist uns längst aufgegangen als das, was uns sonst als
Sprache so vertraut ist." Aber schon Mauthner fährt fort: „Durch solche
Erwägungen wird der eine oder andere Begriff überflüssig, ohne daß wir darum
mit der Erklärung der Welt weitergekommen wären."

Der Eifer für seine Sache verführt Mauthner zu steigender Einseitigkeit.
Aus einer tiefsinnigen Analogie alles Denkens wird Sprache zum erkenntnis¬
theoretischen Gegenstand und von da über den Begriff des Gedächtnisses zur
metaphysischen Substanz, zum „Rätsel aller Rätsel", wie es für Schopenhauer
der Wille war, den Mauthner mit Recht als eine Bezeichnung von erheblicherer
Deutlichkeit für etwas schlechthin Unerfahrbares geißelt. Alles Besondere führt
auch ihn immer wieder auf dieses Allgemeine zurück. „Raum ist eine stumme
Sprache" (II 289). Patriotismus geht auf Sprachliche zurück (II 237). „Die
antirationalistische Stimmung der Gegenwart steht in Verbindung mit den sprach¬
kritischen Ideen" (II 283). „Sozial, also ethisch, also sprachlich" (Seite 200).
Nicht hier in der gewaltsamen Vereinfachung von Begriffen bis zur Verflüchtigung
jedes prägnanten Sinnes, sondern da sehe ich die größere Tiefe der Mauthner-
schen Kritik, wo er Begriffe scheidet, wie in dem Artikel: „Geschichte", der eine
meisterhafte, kleine Monographie darstellt.

Kein Begriff, hatte Mauthner gelehrt, ohne Wort, aber, fährt er fort, nicht
jedes Wort ein Begriff. Und von diesen „Scheinbegriffen", den Wortleichen
einer mumifizierten Vergangenheit, die Philosophie zu säubern, ist sein Wörter¬
buch unternommen. Wieder müssen wir die Berechtigung dieses Ausgangspunktes
anerkennen, vermögen aber nicht jeder besonderen Auslegung Mauthners zu
folgen. Gerade seine skeptische Sprachauffassung mußte streng daran festhalten,
daß ein Scheinbegriff nur historisch so geworden ist, daß er es also nicht an
sich, sondern nur für uns Lebende ist, deren Vollbegriffe vielleicht einer späteren
Philosophie ebenso gegenstandslos werden können. Nicht der Scheinbegriff ist
theoretisch falsch, sondern seine Anwendung ist praktisch schlecht, besser gesagt:
überflüssig. Für Mauthner wird er aber aus einem biologischen Rudiment
ohne Wert zur negativen Größe eines faktischen Unwertes. Das demokritische
Atom ist tot, das Cartesianische Ich, die intelligible Freiheit Kants ist tot. Da


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/44>, abgerufen am 28.12.2024.