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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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eviter die Sprachverderbnis

Bei den weiblichen Wörtern auf e werde auf folgende Erscheinung hin¬
gewiesen. Es ist doch auffallend, daß zwei äußerlich völlig gleichgeartete
Wörter, wie Sprache und Zunge, sich in der Zusammensetzung ganz verschieden
verhalten: von jenem bilden wir Sprachlehre, von diesem Zungenspitze. Dieser
Unterschied haftet nicht etwa zufällig den genannten Wörtern an, sondern er
begründet zwei ziemlich streng geschiedene Wortgruppen; wir sühren z. B. an:
Bußtag, Erdreich, Schullehrer, Treubruch, aber Laubengang, Lindenbaum,
Pfeifenrohr, Sonnenschein. Es sind die Wörter der alten starken und schwachen
Fällung, die sich so scheiden; die einen werfen ihr e ab, die anderen nehmen n
hinzu. Haben wir das erkannt, so sind wir mit einem Schlage sicher,
daß Pappdach, Hitzschlag, Preßgesetz, Elbhafen -- Kohlensüft, Rassenfrage,
Marienhütte die gesetzmäßigen Sprachformen sind, und daß wir daher einer
aus Unkenntnis und der Gleichmacherei zu Liebe hervorgebrachten Abänderung
in Pappedach, Hitzeferien, Elbeschiffahrt, Kohlestift, Rassefrage, Luisegrube, ferner
aber auch in Bankenkrach, Münzensammlung, Sprachengrenze nicht nachzugeben
brauchen.

Ein weiteres wichtiges Gesetz ist, daß die Zusammensetzungen im Deutschen
(und das gilt für alle germanischen Sprachen) ursprünglich nicht mit der
Mehrzahl des Bestimmungswortes gebildet werden, und es ist zu beachten,
daß viele scheinbare Ausnahmen hiervon, z. B. Tagedieb, Wegewärter, Gänse¬
blume, Frauenkirche, Hühnerei in Wirklichkeit keine sind. Die Unsicherheit
darüber führt aber heute zu so vielen falschen Bildungen wie Fahrzeugefabrik,
Apparatebauanstalt, Photographieenalbum, Bettfederngeschäft, Leiternfabrik usw.
(In einer Anzeige lesen wir: Dem Gastwirtestande empfiehlt sich zur Gründung
von Wirte-Brauereien. . . .) --

Endlich ist für die Bildung der Zusammensetzungen noch hervorzuheben, daß
es ein Grundsatz unserer Sprache ist, dem Hauptworte den Vorzug vor dem
Zeitworte zu geben, daß also Standuhr, Zugtier, Triebrad die echten Bildungen
sind gegenüber den heutigen, wie Stehlampe, Ziehhund, Treibrad. Wenn da¬
gegen die heutige Bequemlichkeitssprache eine wahre Flut von Zeitwortsbildungen
zum Vorschein bringt (Roheßschokolade) und man sich sogar noch bemüht, vor¬
handene natürliche Bildungen wie Landungsplatz. Heizungsschlauch, Eichungs¬
amt, Erziehungslehre, Entleerungsschacht zu tilgen und in Landeplatz, Heiz¬
schlauch. Einsame, Erziehlehre, Entleerschacht abzuändern, so bewegt man sich
damit auf einer Bahn, die der Grundrichtung unserer Sprache genau entgegen¬
gesetzt ist.

Nun fragen wir jeden Unbefangenen, ob die hier vertretenen Sprach¬
formen natürliche sind oder nicht, und ob wir, wenn wir sie durch Sprachgesetze
zu stützen versuchen, damit wirklich unserer Sprache Gewalt antun, wie es von
jener Seite behauptet worden ist. Wir überlassen das Urteil hierüber ruhig
jedem, in dem natürliches Sprachgefühl lebt und der vor allem auch das Gefühl
der Ehrfurcht vor der Muttersprache hegt. Es gibt aber freilich heute genug


eviter die Sprachverderbnis

Bei den weiblichen Wörtern auf e werde auf folgende Erscheinung hin¬
gewiesen. Es ist doch auffallend, daß zwei äußerlich völlig gleichgeartete
Wörter, wie Sprache und Zunge, sich in der Zusammensetzung ganz verschieden
verhalten: von jenem bilden wir Sprachlehre, von diesem Zungenspitze. Dieser
Unterschied haftet nicht etwa zufällig den genannten Wörtern an, sondern er
begründet zwei ziemlich streng geschiedene Wortgruppen; wir sühren z. B. an:
Bußtag, Erdreich, Schullehrer, Treubruch, aber Laubengang, Lindenbaum,
Pfeifenrohr, Sonnenschein. Es sind die Wörter der alten starken und schwachen
Fällung, die sich so scheiden; die einen werfen ihr e ab, die anderen nehmen n
hinzu. Haben wir das erkannt, so sind wir mit einem Schlage sicher,
daß Pappdach, Hitzschlag, Preßgesetz, Elbhafen — Kohlensüft, Rassenfrage,
Marienhütte die gesetzmäßigen Sprachformen sind, und daß wir daher einer
aus Unkenntnis und der Gleichmacherei zu Liebe hervorgebrachten Abänderung
in Pappedach, Hitzeferien, Elbeschiffahrt, Kohlestift, Rassefrage, Luisegrube, ferner
aber auch in Bankenkrach, Münzensammlung, Sprachengrenze nicht nachzugeben
brauchen.

Ein weiteres wichtiges Gesetz ist, daß die Zusammensetzungen im Deutschen
(und das gilt für alle germanischen Sprachen) ursprünglich nicht mit der
Mehrzahl des Bestimmungswortes gebildet werden, und es ist zu beachten,
daß viele scheinbare Ausnahmen hiervon, z. B. Tagedieb, Wegewärter, Gänse¬
blume, Frauenkirche, Hühnerei in Wirklichkeit keine sind. Die Unsicherheit
darüber führt aber heute zu so vielen falschen Bildungen wie Fahrzeugefabrik,
Apparatebauanstalt, Photographieenalbum, Bettfederngeschäft, Leiternfabrik usw.
(In einer Anzeige lesen wir: Dem Gastwirtestande empfiehlt sich zur Gründung
von Wirte-Brauereien. . . .) —

Endlich ist für die Bildung der Zusammensetzungen noch hervorzuheben, daß
es ein Grundsatz unserer Sprache ist, dem Hauptworte den Vorzug vor dem
Zeitworte zu geben, daß also Standuhr, Zugtier, Triebrad die echten Bildungen
sind gegenüber den heutigen, wie Stehlampe, Ziehhund, Treibrad. Wenn da¬
gegen die heutige Bequemlichkeitssprache eine wahre Flut von Zeitwortsbildungen
zum Vorschein bringt (Roheßschokolade) und man sich sogar noch bemüht, vor¬
handene natürliche Bildungen wie Landungsplatz. Heizungsschlauch, Eichungs¬
amt, Erziehungslehre, Entleerungsschacht zu tilgen und in Landeplatz, Heiz¬
schlauch. Einsame, Erziehlehre, Entleerschacht abzuändern, so bewegt man sich
damit auf einer Bahn, die der Grundrichtung unserer Sprache genau entgegen¬
gesetzt ist.

Nun fragen wir jeden Unbefangenen, ob die hier vertretenen Sprach¬
formen natürliche sind oder nicht, und ob wir, wenn wir sie durch Sprachgesetze
zu stützen versuchen, damit wirklich unserer Sprache Gewalt antun, wie es von
jener Seite behauptet worden ist. Wir überlassen das Urteil hierüber ruhig
jedem, in dem natürliches Sprachgefühl lebt und der vor allem auch das Gefühl
der Ehrfurcht vor der Muttersprache hegt. Es gibt aber freilich heute genug


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[0435] eviter die Sprachverderbnis Bei den weiblichen Wörtern auf e werde auf folgende Erscheinung hin¬ gewiesen. Es ist doch auffallend, daß zwei äußerlich völlig gleichgeartete Wörter, wie Sprache und Zunge, sich in der Zusammensetzung ganz verschieden verhalten: von jenem bilden wir Sprachlehre, von diesem Zungenspitze. Dieser Unterschied haftet nicht etwa zufällig den genannten Wörtern an, sondern er begründet zwei ziemlich streng geschiedene Wortgruppen; wir sühren z. B. an: Bußtag, Erdreich, Schullehrer, Treubruch, aber Laubengang, Lindenbaum, Pfeifenrohr, Sonnenschein. Es sind die Wörter der alten starken und schwachen Fällung, die sich so scheiden; die einen werfen ihr e ab, die anderen nehmen n hinzu. Haben wir das erkannt, so sind wir mit einem Schlage sicher, daß Pappdach, Hitzschlag, Preßgesetz, Elbhafen — Kohlensüft, Rassenfrage, Marienhütte die gesetzmäßigen Sprachformen sind, und daß wir daher einer aus Unkenntnis und der Gleichmacherei zu Liebe hervorgebrachten Abänderung in Pappedach, Hitzeferien, Elbeschiffahrt, Kohlestift, Rassefrage, Luisegrube, ferner aber auch in Bankenkrach, Münzensammlung, Sprachengrenze nicht nachzugeben brauchen. Ein weiteres wichtiges Gesetz ist, daß die Zusammensetzungen im Deutschen (und das gilt für alle germanischen Sprachen) ursprünglich nicht mit der Mehrzahl des Bestimmungswortes gebildet werden, und es ist zu beachten, daß viele scheinbare Ausnahmen hiervon, z. B. Tagedieb, Wegewärter, Gänse¬ blume, Frauenkirche, Hühnerei in Wirklichkeit keine sind. Die Unsicherheit darüber führt aber heute zu so vielen falschen Bildungen wie Fahrzeugefabrik, Apparatebauanstalt, Photographieenalbum, Bettfederngeschäft, Leiternfabrik usw. (In einer Anzeige lesen wir: Dem Gastwirtestande empfiehlt sich zur Gründung von Wirte-Brauereien. . . .) — Endlich ist für die Bildung der Zusammensetzungen noch hervorzuheben, daß es ein Grundsatz unserer Sprache ist, dem Hauptworte den Vorzug vor dem Zeitworte zu geben, daß also Standuhr, Zugtier, Triebrad die echten Bildungen sind gegenüber den heutigen, wie Stehlampe, Ziehhund, Treibrad. Wenn da¬ gegen die heutige Bequemlichkeitssprache eine wahre Flut von Zeitwortsbildungen zum Vorschein bringt (Roheßschokolade) und man sich sogar noch bemüht, vor¬ handene natürliche Bildungen wie Landungsplatz. Heizungsschlauch, Eichungs¬ amt, Erziehungslehre, Entleerungsschacht zu tilgen und in Landeplatz, Heiz¬ schlauch. Einsame, Erziehlehre, Entleerschacht abzuändern, so bewegt man sich damit auf einer Bahn, die der Grundrichtung unserer Sprache genau entgegen¬ gesetzt ist. Nun fragen wir jeden Unbefangenen, ob die hier vertretenen Sprach¬ formen natürliche sind oder nicht, und ob wir, wenn wir sie durch Sprachgesetze zu stützen versuchen, damit wirklich unserer Sprache Gewalt antun, wie es von jener Seite behauptet worden ist. Wir überlassen das Urteil hierüber ruhig jedem, in dem natürliches Sprachgefühl lebt und der vor allem auch das Gefühl der Ehrfurcht vor der Muttersprache hegt. Es gibt aber freilich heute genug

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/435>, abgerufen am 29.12.2024.