Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
ZVider die Sprachverderbnis

wüßten, sondern sie halten den Gegenstand für belanglos, sie legen keinen Wert
darauf, dem Triebe zum richtigen zu folgen, es scheint ihnen gleichgültig,? ob
das geschriebene richtig oder falsch ist -- andere machen's ja auch so --; die
Muttersprache, die Seele des Volkstums. gilt ihnen nicht mehr so viel, um den
Geist auch nur zur geringsten Anspannung zu erheben -- ja wenn sich's um Mark
und Pfennig, um Meter und Kilogramm, um Volt und Watt handelte!

Wiegt diese Mißhandlung der Sprache nicht noch schlimmer als die Fremd¬
wörterei? Fremdwörter sind oft nur vorübergehende Erscheinungen, viele,
die früher in Geltung waren, sind heute wieder ausgestorben, es sagt heute
niemand mehr Mademoiselle, charmant, merci. Zerstörte Sprachformen aber lassen
sich auch mit heißestem Bemühen im Volke nicht wieder lebendig machen, was
dahin ist, ist dahin. Und dies führt uns nun auf ein Gebiet, wo wir viele
tausende wohlmeinender, deutsch gesinnter Männer an der Zerstörung lebendiger
Sprachformen mitwirken sehen. Es handelt sich dabei nicht um Leichtsinn oder
Unachtsamkeit, sondern vielmehr um eine bewußte Betätigung, die freilich auch
nur infolge Schwäche des Sprachgefühls und Trübung des Sprachgewissens
möglich ist. Wenn Formen der Sprache im Laufe der Zeit welk werden und
abzusterben beginnen, so ist das ein Vorgang, den man zwar bedauern kann,
dem man auch entgegenzutreten vielleicht versuchen wird, den man aber eben
doch als ein natürliches Ereignis hinnehmen muß. (Dahin rechnen wir z. B.
das Absterben der schwachen Fällung von Eigennamen: Otto, Otten, Frese,
Freher.) Wenn wir aber umgekehrt sehen, wie Formen, die allüberall lebendig
sind, gewaltsam auf dem Papiere erstickt werden, und daß dabei gerade Leute,
denen die Muttersprache etwas gilt, mit vornean stehen, so ist das ein tief
beklagenswerter Vorgang, der dem heutigen Geschlechte, das solches zuläßt, auf
immer zur Unehre gereichen wird, so lange deutsche Laute noch erklingen,
deutsches Schrifttum noch in Ansehen steht.

Es wird uns doch wohl niemand bestreiten wollen, daß Formen wie
Friedrichsplatz, Bahnhosswirt, Aussichtsturm, Wahrheitsliebe, Gastwirtsinnung
natürliche Formen unserer Sprache sind, und daß er selbst von Jugend an so
gesprochen hat. Was in aller Welt soll es denn nun heißen, daß uns mit
einem Male aufgedrungen werden soll: Friedrichplatz, Bahnhofwirt, Wahrheitliebe,
Gastwirteinnung? Ist denn das nicht geradezu eine Fälschung der Muttersprache
zu nennen? Eine unselige Unsicherheit ist aus dieser Gewaltmaßregel hervor¬
gegangen. Während einer spricht Wahrheitsliebe, schreibt er im selben Augen¬
blicke Wahrheitliebe und beim Lesen geschieht es umgekehrt. Mancher bringt es
auch beim Sprechen schon fertig, das s zu unterdrücken, im Drucke wechseln
sich die beiden Formen oft ab, je nachdem der Schreibende "daran gedacht"
hat, das s wegzuschneiden, oder gerade nicht daran gedacht hat. Ist das eines
edeln Volkes würdig, daß man seine Sprache so quälen darf; daß die Leute
mit der Zunge straucheln, weil sie nicht mehr wissen: darf ich denn
das s sagen oder nicht? Wenn die Tilgung des s in einzelnen Fällen ur-


ZVider die Sprachverderbnis

wüßten, sondern sie halten den Gegenstand für belanglos, sie legen keinen Wert
darauf, dem Triebe zum richtigen zu folgen, es scheint ihnen gleichgültig,? ob
das geschriebene richtig oder falsch ist — andere machen's ja auch so —; die
Muttersprache, die Seele des Volkstums. gilt ihnen nicht mehr so viel, um den
Geist auch nur zur geringsten Anspannung zu erheben — ja wenn sich's um Mark
und Pfennig, um Meter und Kilogramm, um Volt und Watt handelte!

Wiegt diese Mißhandlung der Sprache nicht noch schlimmer als die Fremd¬
wörterei? Fremdwörter sind oft nur vorübergehende Erscheinungen, viele,
die früher in Geltung waren, sind heute wieder ausgestorben, es sagt heute
niemand mehr Mademoiselle, charmant, merci. Zerstörte Sprachformen aber lassen
sich auch mit heißestem Bemühen im Volke nicht wieder lebendig machen, was
dahin ist, ist dahin. Und dies führt uns nun auf ein Gebiet, wo wir viele
tausende wohlmeinender, deutsch gesinnter Männer an der Zerstörung lebendiger
Sprachformen mitwirken sehen. Es handelt sich dabei nicht um Leichtsinn oder
Unachtsamkeit, sondern vielmehr um eine bewußte Betätigung, die freilich auch
nur infolge Schwäche des Sprachgefühls und Trübung des Sprachgewissens
möglich ist. Wenn Formen der Sprache im Laufe der Zeit welk werden und
abzusterben beginnen, so ist das ein Vorgang, den man zwar bedauern kann,
dem man auch entgegenzutreten vielleicht versuchen wird, den man aber eben
doch als ein natürliches Ereignis hinnehmen muß. (Dahin rechnen wir z. B.
das Absterben der schwachen Fällung von Eigennamen: Otto, Otten, Frese,
Freher.) Wenn wir aber umgekehrt sehen, wie Formen, die allüberall lebendig
sind, gewaltsam auf dem Papiere erstickt werden, und daß dabei gerade Leute,
denen die Muttersprache etwas gilt, mit vornean stehen, so ist das ein tief
beklagenswerter Vorgang, der dem heutigen Geschlechte, das solches zuläßt, auf
immer zur Unehre gereichen wird, so lange deutsche Laute noch erklingen,
deutsches Schrifttum noch in Ansehen steht.

Es wird uns doch wohl niemand bestreiten wollen, daß Formen wie
Friedrichsplatz, Bahnhosswirt, Aussichtsturm, Wahrheitsliebe, Gastwirtsinnung
natürliche Formen unserer Sprache sind, und daß er selbst von Jugend an so
gesprochen hat. Was in aller Welt soll es denn nun heißen, daß uns mit
einem Male aufgedrungen werden soll: Friedrichplatz, Bahnhofwirt, Wahrheitliebe,
Gastwirteinnung? Ist denn das nicht geradezu eine Fälschung der Muttersprache
zu nennen? Eine unselige Unsicherheit ist aus dieser Gewaltmaßregel hervor¬
gegangen. Während einer spricht Wahrheitsliebe, schreibt er im selben Augen¬
blicke Wahrheitliebe und beim Lesen geschieht es umgekehrt. Mancher bringt es
auch beim Sprechen schon fertig, das s zu unterdrücken, im Drucke wechseln
sich die beiden Formen oft ab, je nachdem der Schreibende „daran gedacht"
hat, das s wegzuschneiden, oder gerade nicht daran gedacht hat. Ist das eines
edeln Volkes würdig, daß man seine Sprache so quälen darf; daß die Leute
mit der Zunge straucheln, weil sie nicht mehr wissen: darf ich denn
das s sagen oder nicht? Wenn die Tilgung des s in einzelnen Fällen ur-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0432" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326602"/>
          <fw type="header" place="top"> ZVider die Sprachverderbnis</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2092" prev="#ID_2091"> wüßten, sondern sie halten den Gegenstand für belanglos, sie legen keinen Wert<lb/>
darauf, dem Triebe zum richtigen zu folgen, es scheint ihnen gleichgültig,? ob<lb/>
das geschriebene richtig oder falsch ist &#x2014; andere machen's ja auch so &#x2014;; die<lb/>
Muttersprache, die Seele des Volkstums. gilt ihnen nicht mehr so viel, um den<lb/>
Geist auch nur zur geringsten Anspannung zu erheben &#x2014; ja wenn sich's um Mark<lb/>
und Pfennig, um Meter und Kilogramm, um Volt und Watt handelte!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2093"> Wiegt diese Mißhandlung der Sprache nicht noch schlimmer als die Fremd¬<lb/>
wörterei? Fremdwörter sind oft nur vorübergehende Erscheinungen, viele,<lb/>
die früher in Geltung waren, sind heute wieder ausgestorben, es sagt heute<lb/>
niemand mehr Mademoiselle, charmant, merci. Zerstörte Sprachformen aber lassen<lb/>
sich auch mit heißestem Bemühen im Volke nicht wieder lebendig machen, was<lb/>
dahin ist, ist dahin. Und dies führt uns nun auf ein Gebiet, wo wir viele<lb/>
tausende wohlmeinender, deutsch gesinnter Männer an der Zerstörung lebendiger<lb/>
Sprachformen mitwirken sehen. Es handelt sich dabei nicht um Leichtsinn oder<lb/>
Unachtsamkeit, sondern vielmehr um eine bewußte Betätigung, die freilich auch<lb/>
nur infolge Schwäche des Sprachgefühls und Trübung des Sprachgewissens<lb/>
möglich ist. Wenn Formen der Sprache im Laufe der Zeit welk werden und<lb/>
abzusterben beginnen, so ist das ein Vorgang, den man zwar bedauern kann,<lb/>
dem man auch entgegenzutreten vielleicht versuchen wird, den man aber eben<lb/>
doch als ein natürliches Ereignis hinnehmen muß. (Dahin rechnen wir z. B.<lb/>
das Absterben der schwachen Fällung von Eigennamen: Otto, Otten, Frese,<lb/>
Freher.) Wenn wir aber umgekehrt sehen, wie Formen, die allüberall lebendig<lb/>
sind, gewaltsam auf dem Papiere erstickt werden, und daß dabei gerade Leute,<lb/>
denen die Muttersprache etwas gilt, mit vornean stehen, so ist das ein tief<lb/>
beklagenswerter Vorgang, der dem heutigen Geschlechte, das solches zuläßt, auf<lb/>
immer zur Unehre gereichen wird, so lange deutsche Laute noch erklingen,<lb/>
deutsches Schrifttum noch in Ansehen steht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2094" next="#ID_2095"> Es wird uns doch wohl niemand bestreiten wollen, daß Formen wie<lb/>
Friedrichsplatz, Bahnhosswirt, Aussichtsturm, Wahrheitsliebe, Gastwirtsinnung<lb/>
natürliche Formen unserer Sprache sind, und daß er selbst von Jugend an so<lb/>
gesprochen hat. Was in aller Welt soll es denn nun heißen, daß uns mit<lb/>
einem Male aufgedrungen werden soll: Friedrichplatz, Bahnhofwirt, Wahrheitliebe,<lb/>
Gastwirteinnung? Ist denn das nicht geradezu eine Fälschung der Muttersprache<lb/>
zu nennen? Eine unselige Unsicherheit ist aus dieser Gewaltmaßregel hervor¬<lb/>
gegangen. Während einer spricht Wahrheitsliebe, schreibt er im selben Augen¬<lb/>
blicke Wahrheitliebe und beim Lesen geschieht es umgekehrt. Mancher bringt es<lb/>
auch beim Sprechen schon fertig, das s zu unterdrücken, im Drucke wechseln<lb/>
sich die beiden Formen oft ab, je nachdem der Schreibende &#x201E;daran gedacht"<lb/>
hat, das s wegzuschneiden, oder gerade nicht daran gedacht hat. Ist das eines<lb/>
edeln Volkes würdig, daß man seine Sprache so quälen darf; daß die Leute<lb/>
mit der Zunge straucheln, weil sie nicht mehr wissen: darf ich denn<lb/>
das s sagen oder nicht?  Wenn die Tilgung des s in einzelnen Fällen ur-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0432] ZVider die Sprachverderbnis wüßten, sondern sie halten den Gegenstand für belanglos, sie legen keinen Wert darauf, dem Triebe zum richtigen zu folgen, es scheint ihnen gleichgültig,? ob das geschriebene richtig oder falsch ist — andere machen's ja auch so —; die Muttersprache, die Seele des Volkstums. gilt ihnen nicht mehr so viel, um den Geist auch nur zur geringsten Anspannung zu erheben — ja wenn sich's um Mark und Pfennig, um Meter und Kilogramm, um Volt und Watt handelte! Wiegt diese Mißhandlung der Sprache nicht noch schlimmer als die Fremd¬ wörterei? Fremdwörter sind oft nur vorübergehende Erscheinungen, viele, die früher in Geltung waren, sind heute wieder ausgestorben, es sagt heute niemand mehr Mademoiselle, charmant, merci. Zerstörte Sprachformen aber lassen sich auch mit heißestem Bemühen im Volke nicht wieder lebendig machen, was dahin ist, ist dahin. Und dies führt uns nun auf ein Gebiet, wo wir viele tausende wohlmeinender, deutsch gesinnter Männer an der Zerstörung lebendiger Sprachformen mitwirken sehen. Es handelt sich dabei nicht um Leichtsinn oder Unachtsamkeit, sondern vielmehr um eine bewußte Betätigung, die freilich auch nur infolge Schwäche des Sprachgefühls und Trübung des Sprachgewissens möglich ist. Wenn Formen der Sprache im Laufe der Zeit welk werden und abzusterben beginnen, so ist das ein Vorgang, den man zwar bedauern kann, dem man auch entgegenzutreten vielleicht versuchen wird, den man aber eben doch als ein natürliches Ereignis hinnehmen muß. (Dahin rechnen wir z. B. das Absterben der schwachen Fällung von Eigennamen: Otto, Otten, Frese, Freher.) Wenn wir aber umgekehrt sehen, wie Formen, die allüberall lebendig sind, gewaltsam auf dem Papiere erstickt werden, und daß dabei gerade Leute, denen die Muttersprache etwas gilt, mit vornean stehen, so ist das ein tief beklagenswerter Vorgang, der dem heutigen Geschlechte, das solches zuläßt, auf immer zur Unehre gereichen wird, so lange deutsche Laute noch erklingen, deutsches Schrifttum noch in Ansehen steht. Es wird uns doch wohl niemand bestreiten wollen, daß Formen wie Friedrichsplatz, Bahnhosswirt, Aussichtsturm, Wahrheitsliebe, Gastwirtsinnung natürliche Formen unserer Sprache sind, und daß er selbst von Jugend an so gesprochen hat. Was in aller Welt soll es denn nun heißen, daß uns mit einem Male aufgedrungen werden soll: Friedrichplatz, Bahnhofwirt, Wahrheitliebe, Gastwirteinnung? Ist denn das nicht geradezu eine Fälschung der Muttersprache zu nennen? Eine unselige Unsicherheit ist aus dieser Gewaltmaßregel hervor¬ gegangen. Während einer spricht Wahrheitsliebe, schreibt er im selben Augen¬ blicke Wahrheitliebe und beim Lesen geschieht es umgekehrt. Mancher bringt es auch beim Sprechen schon fertig, das s zu unterdrücken, im Drucke wechseln sich die beiden Formen oft ab, je nachdem der Schreibende „daran gedacht" hat, das s wegzuschneiden, oder gerade nicht daran gedacht hat. Ist das eines edeln Volkes würdig, daß man seine Sprache so quälen darf; daß die Leute mit der Zunge straucheln, weil sie nicht mehr wissen: darf ich denn das s sagen oder nicht? Wenn die Tilgung des s in einzelnen Fällen ur-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/432
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/432>, abgerufen am 19.10.2024.