Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum Problem der Arbeitslosenversicherung

sein. Die jungen unverheirateten Elemente würden zur Erleichterung ihres
Fortkommens einen Teil der Beiträge der alten in Anspruch nehmen. Mag
dieser Zustand für die Arbeitslosenunterstützungen der Gewerkschaften zu Recht
bestehen, denn sie sollen den Jungen eine Stütze für ihr weiteres Fortkommen
geben, gegenüber einer staatlichen, mit öffentlichen Mitteln arbeitenden Arbeits¬
losenversicherung darf er nicht außer acht gelassen werden.

Wollte man zur teilweisen Aushebung dieser prinzipiellen Bedenken die
Arbeitslosenversicherung, was auch zur Verhinderung eines Überhandnehmens
der Drückebergerei nötig wäre, mit einem vorher zu schaffenden, gut organi¬
sierten Arbeitsnachweis verbinden, der von der Annahme einer nachgewiesenen
Arbeitsstelle die Gewährung der Versicherung abhängig machen könnte, so würde
man auf unendliche Schwierigkeiten stoßen. Denn wenn auch mit dem Annahme¬
zwang nicht gesagt sein soll, daß der Arbeiter sich jede Art Arbeit gefallen lassen
müßte; Arbeit ist in dem Sinne keine fungible Ware, daß sie von einer Stelle
zur anderen versetzt werden könnte, und es kann keinem Arbeiter eines Jndustrie¬
zweiges zugemutet werden, daß er sich plötzlich unter der Gefahr, seine durch
jahrelange Praxis erworbene Geschicklichkeit in dem alten Beruf zu verlieren,
einer neuen Tätigkeit zuwendet; immerhin müßte aber der Arbeiter bei un¬
günstigen Konjunkturverhältnissen sich unter Umständen auch mit einem niedri¬
geren Lohn zufrieden geben, wenn er nicht auf die Unterstützung verzichten
wollte. Ist es schon für die gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter
schwer, einen solchen Druck, den auch sie notwendig bei ihren Unterstützungen
anwenden müssen, ohne großen Widerstand auszuüben, welche Unsumme von
Unzufriedenheiten und neuen Reibungsmöglichkeiten würde sich ergeben, wenn
staatliche, oder kommunale Organe damit betraut würden.

In Anerkenntnis dieser Schwierigkeiten haben sich gegenwärtig viele Stadt¬
verwaltungen bei uns einfach auf den Boden des sogenannten Genter Systems
gestellt, indem sie den Gewerkschaften Beiträge für die von ihnen gezählten
Unterstützungen gewähren. Damit ergreifen sie aber, was weder Staat noch
Stadtverwaltungen dürfen, in dem Kampf um bessere Lohnbedingungen direkt
Partei für die Arbeitnehmer; denn, das ging aus den früheren Darlegungen
klar hervor, ein großer Teil der Arbeitslosigkeit ist nicht auf unmittelbaren
Arbeitsmangel, sondern auf den freilich an sich absolut nicht zu verurteilenden Drang
Zur Besserung der Lebenslage zurückzuführen. Zieht man alle diese Umstände
in Erwägung, so wird man kaum umhin können, zu dem Schluß zu kommen,
daß die Sorge für die Arbeitslosen eine außerhalb der staatlichen und kommu¬
nalen Machtsphäre liegende Frage bleiben muß. Sie ist und bleibt die edelste
Aufgabe, die den Gewerkschaften gestellt ist.




Grenzboten III 1913
Zum Problem der Arbeitslosenversicherung

sein. Die jungen unverheirateten Elemente würden zur Erleichterung ihres
Fortkommens einen Teil der Beiträge der alten in Anspruch nehmen. Mag
dieser Zustand für die Arbeitslosenunterstützungen der Gewerkschaften zu Recht
bestehen, denn sie sollen den Jungen eine Stütze für ihr weiteres Fortkommen
geben, gegenüber einer staatlichen, mit öffentlichen Mitteln arbeitenden Arbeits¬
losenversicherung darf er nicht außer acht gelassen werden.

Wollte man zur teilweisen Aushebung dieser prinzipiellen Bedenken die
Arbeitslosenversicherung, was auch zur Verhinderung eines Überhandnehmens
der Drückebergerei nötig wäre, mit einem vorher zu schaffenden, gut organi¬
sierten Arbeitsnachweis verbinden, der von der Annahme einer nachgewiesenen
Arbeitsstelle die Gewährung der Versicherung abhängig machen könnte, so würde
man auf unendliche Schwierigkeiten stoßen. Denn wenn auch mit dem Annahme¬
zwang nicht gesagt sein soll, daß der Arbeiter sich jede Art Arbeit gefallen lassen
müßte; Arbeit ist in dem Sinne keine fungible Ware, daß sie von einer Stelle
zur anderen versetzt werden könnte, und es kann keinem Arbeiter eines Jndustrie¬
zweiges zugemutet werden, daß er sich plötzlich unter der Gefahr, seine durch
jahrelange Praxis erworbene Geschicklichkeit in dem alten Beruf zu verlieren,
einer neuen Tätigkeit zuwendet; immerhin müßte aber der Arbeiter bei un¬
günstigen Konjunkturverhältnissen sich unter Umständen auch mit einem niedri¬
geren Lohn zufrieden geben, wenn er nicht auf die Unterstützung verzichten
wollte. Ist es schon für die gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter
schwer, einen solchen Druck, den auch sie notwendig bei ihren Unterstützungen
anwenden müssen, ohne großen Widerstand auszuüben, welche Unsumme von
Unzufriedenheiten und neuen Reibungsmöglichkeiten würde sich ergeben, wenn
staatliche, oder kommunale Organe damit betraut würden.

In Anerkenntnis dieser Schwierigkeiten haben sich gegenwärtig viele Stadt¬
verwaltungen bei uns einfach auf den Boden des sogenannten Genter Systems
gestellt, indem sie den Gewerkschaften Beiträge für die von ihnen gezählten
Unterstützungen gewähren. Damit ergreifen sie aber, was weder Staat noch
Stadtverwaltungen dürfen, in dem Kampf um bessere Lohnbedingungen direkt
Partei für die Arbeitnehmer; denn, das ging aus den früheren Darlegungen
klar hervor, ein großer Teil der Arbeitslosigkeit ist nicht auf unmittelbaren
Arbeitsmangel, sondern auf den freilich an sich absolut nicht zu verurteilenden Drang
Zur Besserung der Lebenslage zurückzuführen. Zieht man alle diese Umstände
in Erwägung, so wird man kaum umhin können, zu dem Schluß zu kommen,
daß die Sorge für die Arbeitslosen eine außerhalb der staatlichen und kommu¬
nalen Machtsphäre liegende Frage bleiben muß. Sie ist und bleibt die edelste
Aufgabe, die den Gewerkschaften gestellt ist.




Grenzboten III 1913
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0413" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326583"/>
          <fw type="header" place="top"> Zum Problem der Arbeitslosenversicherung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1977" prev="#ID_1976"> sein. Die jungen unverheirateten Elemente würden zur Erleichterung ihres<lb/>
Fortkommens einen Teil der Beiträge der alten in Anspruch nehmen. Mag<lb/>
dieser Zustand für die Arbeitslosenunterstützungen der Gewerkschaften zu Recht<lb/>
bestehen, denn sie sollen den Jungen eine Stütze für ihr weiteres Fortkommen<lb/>
geben, gegenüber einer staatlichen, mit öffentlichen Mitteln arbeitenden Arbeits¬<lb/>
losenversicherung darf er nicht außer acht gelassen werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1978"> Wollte man zur teilweisen Aushebung dieser prinzipiellen Bedenken die<lb/>
Arbeitslosenversicherung, was auch zur Verhinderung eines Überhandnehmens<lb/>
der Drückebergerei nötig wäre, mit einem vorher zu schaffenden, gut organi¬<lb/>
sierten Arbeitsnachweis verbinden, der von der Annahme einer nachgewiesenen<lb/>
Arbeitsstelle die Gewährung der Versicherung abhängig machen könnte, so würde<lb/>
man auf unendliche Schwierigkeiten stoßen. Denn wenn auch mit dem Annahme¬<lb/>
zwang nicht gesagt sein soll, daß der Arbeiter sich jede Art Arbeit gefallen lassen<lb/>
müßte; Arbeit ist in dem Sinne keine fungible Ware, daß sie von einer Stelle<lb/>
zur anderen versetzt werden könnte, und es kann keinem Arbeiter eines Jndustrie¬<lb/>
zweiges zugemutet werden, daß er sich plötzlich unter der Gefahr, seine durch<lb/>
jahrelange Praxis erworbene Geschicklichkeit in dem alten Beruf zu verlieren,<lb/>
einer neuen Tätigkeit zuwendet; immerhin müßte aber der Arbeiter bei un¬<lb/>
günstigen Konjunkturverhältnissen sich unter Umständen auch mit einem niedri¬<lb/>
geren Lohn zufrieden geben, wenn er nicht auf die Unterstützung verzichten<lb/>
wollte. Ist es schon für die gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter<lb/>
schwer, einen solchen Druck, den auch sie notwendig bei ihren Unterstützungen<lb/>
anwenden müssen, ohne großen Widerstand auszuüben, welche Unsumme von<lb/>
Unzufriedenheiten und neuen Reibungsmöglichkeiten würde sich ergeben, wenn<lb/>
staatliche, oder kommunale Organe damit betraut würden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1979"> In Anerkenntnis dieser Schwierigkeiten haben sich gegenwärtig viele Stadt¬<lb/>
verwaltungen bei uns einfach auf den Boden des sogenannten Genter Systems<lb/>
gestellt, indem sie den Gewerkschaften Beiträge für die von ihnen gezählten<lb/>
Unterstützungen gewähren. Damit ergreifen sie aber, was weder Staat noch<lb/>
Stadtverwaltungen dürfen, in dem Kampf um bessere Lohnbedingungen direkt<lb/>
Partei für die Arbeitnehmer; denn, das ging aus den früheren Darlegungen<lb/>
klar hervor, ein großer Teil der Arbeitslosigkeit ist nicht auf unmittelbaren<lb/>
Arbeitsmangel, sondern auf den freilich an sich absolut nicht zu verurteilenden Drang<lb/>
Zur Besserung der Lebenslage zurückzuführen. Zieht man alle diese Umstände<lb/>
in Erwägung, so wird man kaum umhin können, zu dem Schluß zu kommen,<lb/>
daß die Sorge für die Arbeitslosen eine außerhalb der staatlichen und kommu¬<lb/>
nalen Machtsphäre liegende Frage bleiben muß. Sie ist und bleibt die edelste<lb/>
Aufgabe, die den Gewerkschaften gestellt ist.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1913</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0413] Zum Problem der Arbeitslosenversicherung sein. Die jungen unverheirateten Elemente würden zur Erleichterung ihres Fortkommens einen Teil der Beiträge der alten in Anspruch nehmen. Mag dieser Zustand für die Arbeitslosenunterstützungen der Gewerkschaften zu Recht bestehen, denn sie sollen den Jungen eine Stütze für ihr weiteres Fortkommen geben, gegenüber einer staatlichen, mit öffentlichen Mitteln arbeitenden Arbeits¬ losenversicherung darf er nicht außer acht gelassen werden. Wollte man zur teilweisen Aushebung dieser prinzipiellen Bedenken die Arbeitslosenversicherung, was auch zur Verhinderung eines Überhandnehmens der Drückebergerei nötig wäre, mit einem vorher zu schaffenden, gut organi¬ sierten Arbeitsnachweis verbinden, der von der Annahme einer nachgewiesenen Arbeitsstelle die Gewährung der Versicherung abhängig machen könnte, so würde man auf unendliche Schwierigkeiten stoßen. Denn wenn auch mit dem Annahme¬ zwang nicht gesagt sein soll, daß der Arbeiter sich jede Art Arbeit gefallen lassen müßte; Arbeit ist in dem Sinne keine fungible Ware, daß sie von einer Stelle zur anderen versetzt werden könnte, und es kann keinem Arbeiter eines Jndustrie¬ zweiges zugemutet werden, daß er sich plötzlich unter der Gefahr, seine durch jahrelange Praxis erworbene Geschicklichkeit in dem alten Beruf zu verlieren, einer neuen Tätigkeit zuwendet; immerhin müßte aber der Arbeiter bei un¬ günstigen Konjunkturverhältnissen sich unter Umständen auch mit einem niedri¬ geren Lohn zufrieden geben, wenn er nicht auf die Unterstützung verzichten wollte. Ist es schon für die gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter schwer, einen solchen Druck, den auch sie notwendig bei ihren Unterstützungen anwenden müssen, ohne großen Widerstand auszuüben, welche Unsumme von Unzufriedenheiten und neuen Reibungsmöglichkeiten würde sich ergeben, wenn staatliche, oder kommunale Organe damit betraut würden. In Anerkenntnis dieser Schwierigkeiten haben sich gegenwärtig viele Stadt¬ verwaltungen bei uns einfach auf den Boden des sogenannten Genter Systems gestellt, indem sie den Gewerkschaften Beiträge für die von ihnen gezählten Unterstützungen gewähren. Damit ergreifen sie aber, was weder Staat noch Stadtverwaltungen dürfen, in dem Kampf um bessere Lohnbedingungen direkt Partei für die Arbeitnehmer; denn, das ging aus den früheren Darlegungen klar hervor, ein großer Teil der Arbeitslosigkeit ist nicht auf unmittelbaren Arbeitsmangel, sondern auf den freilich an sich absolut nicht zu verurteilenden Drang Zur Besserung der Lebenslage zurückzuführen. Zieht man alle diese Umstände in Erwägung, so wird man kaum umhin können, zu dem Schluß zu kommen, daß die Sorge für die Arbeitslosen eine außerhalb der staatlichen und kommu¬ nalen Machtsphäre liegende Frage bleiben muß. Sie ist und bleibt die edelste Aufgabe, die den Gewerkschaften gestellt ist. Grenzboten III 1913

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/413
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/413>, abgerufen am 28.12.2024.