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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Zum Problem der Arbeitslosenversicherung

Ein ganz ähnliches Bild des Auf- und Absteigens der Arbeitslosigkeit zeigen die
Zahlen der auf hundert offene Stellen kommenden Arbeitsangebote, die allmonat¬
lich die Arbeitsnachweise veröffentlichen, wenn auch im einzelnen diese Zahlen
wegen vieler Doppelzählungen weniger zuverlässig sind. Besonders gering scheint
nach den obigen Zahlen die Arbeitslosigkeit bei den Bergarbeitern zu sein; es
ist indessen zu berücksichtigen, daß hier der geringere Arbeitsbedarf sich im all¬
gemeinen weniger in absoluter Zunahme der Arbeitslosen, als vielmehr in der
größeren Zahl der Feierschichten offenbart.

Zeigten die bisherigen Ausführungen die Verschiedenartigkeit der Arbeits¬
losigkeit in den einzelnen Berufen nur von der Außenseite als scheinbar not¬
wendige Folge fremder Kräfte, so soll im folgenden gewissermaßen durch An¬
legung eines vertikalen Schnittes durch die Gesamtheit der Arbeitslosen versucht
werden, in die inneren, persönlichen Triebkräfte der Arbeitslosigkeit bei den ein¬
zelnen Arbeitern, soweit es statistisch möglich ist, einzudringen, um damit etwas
von der Psychologie der Arbeitslosigkeit zu erfassen. Während für die bisherigen
Fragen ein reichhaltiges, wenn auch nicht immer hochwertiges Quellenmaterial
vorhanden war, fließen freilich für diese Probleme die Quellen nur überaus
spärlich. Das gilt zunächst besonders für die Frage, in welchem Umfange sich
die Arbeitslosigkeit bei ein und denselben Individuen wiederholt. Für Deutsch¬
land fehlt es für diese Dinge vollständig an einigermaßen brauchbarem Material.
Dagegen hat der zitierte Beveridge für England einige interessante Zahlen zu¬
sammenstellen können. Danach erhoben z. B. bei der London Society of
Composttors die gleichen 8,6 Prozent aller Mitglieder vier Jahre hintereinander
inimer wieder Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, und zwar stellten diese
alljährlich wiederkehrenden Arbeitslosen allein fast die Hälfte aller Arbeitslosen
in den vier Jahren dar und bezogen 56 Prozent aller in dieser Zeit gezählten
Arbeitslosenunterstützungen*). Aus alledem muß der Schluß gezogen werden,
daß die Arbeitslosigkeit in der Tat in erheblichem Umfange immer wieder die¬
selben Individuen trifft. Es handelt sich dabei nicht in erster Linie um die
sogenannten "Drückeberger" -- sie sind nach allen darauf gerichteten Erhebungen
relativ selten, und würden auch die Regelmäßigkeit der oben gezeigten Schwankungen
in der Arbeitslosigkeit unverständlich erscheinen lassen --, sondern einmal um
die mit geringerer Leistungsfähigkeit ausgestatteten Individuen, die die Industrie
bei abnehmendem Bedarf auf den Strand wirst, und ferner um diejenigen,
welche eine größere Neigung zum Stellenwechsel haben.

Gerade diese letztgenannte Gruppe muß nach fast allen bisherigen Erhebungen
als recht erheblich betrachtet werden. Es sind nämlich nicht die älteren Jahres¬
klassen, die unter den Arbeitslosen vorwiegen, sondern bei genauer Betrachtung
des Altersaufbaues der Arbeitslosen, wie es durch neue Arbeitslosenzählungen
in einer Anzahl Städte möglich ist. findet man, daß im Vergleich zum Alters¬
aufbau der gesamten Arbeiterschaft stets bei den Arbeitslosen die jüngeren Alters-



*) Vgl. das erwähnte Buch von Beveridge, wo sich noch weitere Beispiele finden.
Zum Problem der Arbeitslosenversicherung

Ein ganz ähnliches Bild des Auf- und Absteigens der Arbeitslosigkeit zeigen die
Zahlen der auf hundert offene Stellen kommenden Arbeitsangebote, die allmonat¬
lich die Arbeitsnachweise veröffentlichen, wenn auch im einzelnen diese Zahlen
wegen vieler Doppelzählungen weniger zuverlässig sind. Besonders gering scheint
nach den obigen Zahlen die Arbeitslosigkeit bei den Bergarbeitern zu sein; es
ist indessen zu berücksichtigen, daß hier der geringere Arbeitsbedarf sich im all¬
gemeinen weniger in absoluter Zunahme der Arbeitslosen, als vielmehr in der
größeren Zahl der Feierschichten offenbart.

Zeigten die bisherigen Ausführungen die Verschiedenartigkeit der Arbeits¬
losigkeit in den einzelnen Berufen nur von der Außenseite als scheinbar not¬
wendige Folge fremder Kräfte, so soll im folgenden gewissermaßen durch An¬
legung eines vertikalen Schnittes durch die Gesamtheit der Arbeitslosen versucht
werden, in die inneren, persönlichen Triebkräfte der Arbeitslosigkeit bei den ein¬
zelnen Arbeitern, soweit es statistisch möglich ist, einzudringen, um damit etwas
von der Psychologie der Arbeitslosigkeit zu erfassen. Während für die bisherigen
Fragen ein reichhaltiges, wenn auch nicht immer hochwertiges Quellenmaterial
vorhanden war, fließen freilich für diese Probleme die Quellen nur überaus
spärlich. Das gilt zunächst besonders für die Frage, in welchem Umfange sich
die Arbeitslosigkeit bei ein und denselben Individuen wiederholt. Für Deutsch¬
land fehlt es für diese Dinge vollständig an einigermaßen brauchbarem Material.
Dagegen hat der zitierte Beveridge für England einige interessante Zahlen zu¬
sammenstellen können. Danach erhoben z. B. bei der London Society of
Composttors die gleichen 8,6 Prozent aller Mitglieder vier Jahre hintereinander
inimer wieder Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, und zwar stellten diese
alljährlich wiederkehrenden Arbeitslosen allein fast die Hälfte aller Arbeitslosen
in den vier Jahren dar und bezogen 56 Prozent aller in dieser Zeit gezählten
Arbeitslosenunterstützungen*). Aus alledem muß der Schluß gezogen werden,
daß die Arbeitslosigkeit in der Tat in erheblichem Umfange immer wieder die¬
selben Individuen trifft. Es handelt sich dabei nicht in erster Linie um die
sogenannten „Drückeberger" — sie sind nach allen darauf gerichteten Erhebungen
relativ selten, und würden auch die Regelmäßigkeit der oben gezeigten Schwankungen
in der Arbeitslosigkeit unverständlich erscheinen lassen —, sondern einmal um
die mit geringerer Leistungsfähigkeit ausgestatteten Individuen, die die Industrie
bei abnehmendem Bedarf auf den Strand wirst, und ferner um diejenigen,
welche eine größere Neigung zum Stellenwechsel haben.

Gerade diese letztgenannte Gruppe muß nach fast allen bisherigen Erhebungen
als recht erheblich betrachtet werden. Es sind nämlich nicht die älteren Jahres¬
klassen, die unter den Arbeitslosen vorwiegen, sondern bei genauer Betrachtung
des Altersaufbaues der Arbeitslosen, wie es durch neue Arbeitslosenzählungen
in einer Anzahl Städte möglich ist. findet man, daß im Vergleich zum Alters¬
aufbau der gesamten Arbeiterschaft stets bei den Arbeitslosen die jüngeren Alters-



*) Vgl. das erwähnte Buch von Beveridge, wo sich noch weitere Beispiele finden.
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[0411] Zum Problem der Arbeitslosenversicherung Ein ganz ähnliches Bild des Auf- und Absteigens der Arbeitslosigkeit zeigen die Zahlen der auf hundert offene Stellen kommenden Arbeitsangebote, die allmonat¬ lich die Arbeitsnachweise veröffentlichen, wenn auch im einzelnen diese Zahlen wegen vieler Doppelzählungen weniger zuverlässig sind. Besonders gering scheint nach den obigen Zahlen die Arbeitslosigkeit bei den Bergarbeitern zu sein; es ist indessen zu berücksichtigen, daß hier der geringere Arbeitsbedarf sich im all¬ gemeinen weniger in absoluter Zunahme der Arbeitslosen, als vielmehr in der größeren Zahl der Feierschichten offenbart. Zeigten die bisherigen Ausführungen die Verschiedenartigkeit der Arbeits¬ losigkeit in den einzelnen Berufen nur von der Außenseite als scheinbar not¬ wendige Folge fremder Kräfte, so soll im folgenden gewissermaßen durch An¬ legung eines vertikalen Schnittes durch die Gesamtheit der Arbeitslosen versucht werden, in die inneren, persönlichen Triebkräfte der Arbeitslosigkeit bei den ein¬ zelnen Arbeitern, soweit es statistisch möglich ist, einzudringen, um damit etwas von der Psychologie der Arbeitslosigkeit zu erfassen. Während für die bisherigen Fragen ein reichhaltiges, wenn auch nicht immer hochwertiges Quellenmaterial vorhanden war, fließen freilich für diese Probleme die Quellen nur überaus spärlich. Das gilt zunächst besonders für die Frage, in welchem Umfange sich die Arbeitslosigkeit bei ein und denselben Individuen wiederholt. Für Deutsch¬ land fehlt es für diese Dinge vollständig an einigermaßen brauchbarem Material. Dagegen hat der zitierte Beveridge für England einige interessante Zahlen zu¬ sammenstellen können. Danach erhoben z. B. bei der London Society of Composttors die gleichen 8,6 Prozent aller Mitglieder vier Jahre hintereinander inimer wieder Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, und zwar stellten diese alljährlich wiederkehrenden Arbeitslosen allein fast die Hälfte aller Arbeitslosen in den vier Jahren dar und bezogen 56 Prozent aller in dieser Zeit gezählten Arbeitslosenunterstützungen*). Aus alledem muß der Schluß gezogen werden, daß die Arbeitslosigkeit in der Tat in erheblichem Umfange immer wieder die¬ selben Individuen trifft. Es handelt sich dabei nicht in erster Linie um die sogenannten „Drückeberger" — sie sind nach allen darauf gerichteten Erhebungen relativ selten, und würden auch die Regelmäßigkeit der oben gezeigten Schwankungen in der Arbeitslosigkeit unverständlich erscheinen lassen —, sondern einmal um die mit geringerer Leistungsfähigkeit ausgestatteten Individuen, die die Industrie bei abnehmendem Bedarf auf den Strand wirst, und ferner um diejenigen, welche eine größere Neigung zum Stellenwechsel haben. Gerade diese letztgenannte Gruppe muß nach fast allen bisherigen Erhebungen als recht erheblich betrachtet werden. Es sind nämlich nicht die älteren Jahres¬ klassen, die unter den Arbeitslosen vorwiegen, sondern bei genauer Betrachtung des Altersaufbaues der Arbeitslosen, wie es durch neue Arbeitslosenzählungen in einer Anzahl Städte möglich ist. findet man, daß im Vergleich zum Alters¬ aufbau der gesamten Arbeiterschaft stets bei den Arbeitslosen die jüngeren Alters- *) Vgl. das erwähnte Buch von Beveridge, wo sich noch weitere Beispiele finden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/411>, abgerufen am 29.12.2024.