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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die englische Grientxolitik

das von manchen Lagern der europäischen Diplomatie gerne vergessen werden
wollte. Es ist dies der Vertrag, den Großbritannien am 4. Juni 1878 mit
der ottomanischen Regierung schloß und durch den die Türkei Cypern abtrat
und Verwaltungsresormen verhieß. England übernahm als Gegenleistung die
Verpflichtung, den Besitzstand der Türkei in Asien vor etwaigen Angriffen zu
schützen. Wenn wir uns der diplomatischen Lage zu jener Zeit erinnern, so
wird uns klar, daß sich die englische Politik damals im allerschärfsten Gegensatz
zu Rußland befand. Heute sind die Beziehungen zu Rußland durchaus freund¬
schaftlich und doch hat jene seit fünfunddreißig Jahren bestehende Abmachung
auch heute noch ihre Spitze gegen Rußland und bei den bekannten Absichten
der übrigen Mächte gegen Rußland allein.

Nun hat die die kriegerischen Ereignisse begleitende diplomatische Entwicklung
England in eine Lage gebracht, die der Türkei gegenüber erhebliche Schwierig¬
keiten in sich birgt. Während des ersten Balkankrieges befand sich der englische
Liberalismus und auch weite Kreise der Opposition mit ihren Sympathien auf
Seiten der Balkanvölker. Handelte es sich doch nach der Ansicht vieler um
einen heroischen religiösen und nationalen Befreiungskampf. Wieder andere sahen
auch in dem Zusammenbruch der türkischen Herrschaft in Europa den natürlichen
Gang einer Entwicklung, die früher oder später kommen mußte, und bei deren
Unvermeidlichkeit man besser gleich auf den Sieger setzte. Diese Auffassungen
wurden im Kabinett geteilt und fanden in Ministerreden, namentlich in Äußerungen
des Premierministers Asquith lebhaften Ausdruck. Während des ganzen diplo¬
matischen Wechselspieles der letzten Jahre war Sir Edward Grey als Leiter der
englischen auswärtigen Politik unablässig und in vieler Beziehung mit Erfolg
darauf bedacht, den Frieden zu erhalten und da wo es zu spät war, den
Frieden zu stiften. Es bedeutete einen Triumph dieser Politik, daß die Bevoll¬
mächtigten der Balkanstaaten im Se. James Palast zu London jenen Frieden
unterzeichneten, der allen Balkanvölkern "Freiheit" und das Ende der türkischen
Herrlichkeit in Europa brachte. Da kam der Bruderkrieg der von allzu großem
nationalen und "christlichen" Idealismus beseelten Befreiten. Mit Grauen sieht
der Engländer in seinen Wochenschriften Photographien von verbrannten Bauern,
gemordeten Kindern, gebrandschatzten Dörfern und Städten in dem mit abend¬
ländischer Zivilisation beglückten Mazedonien. Der Türke aber zog als Befreier
begrüßt in die zu zwei Dritteln muselmännische Stadt Selims des Zweiten, das so
heiß umstrittene Adrianopel, ein. Dies alles ein paar Wochen, nachdem der Friede
von London, zu dem Sir Edward Grey Gevatter stand, die Balkanfrage "ge¬
löst" und dafür von England wie vom Ausland verschwenderisch Lorbeeren
geerntet hatte. Man ist in England gründlich ernüchtert von der Begeisterung
für die Freiheitskämpfer und man wird mehr und mehr auf eine Bewegung
aufmerksam, die noch weit vitaler die Interessen des Reiches betrifft als irgend¬
eine Expansion einer europäischen Großmacht. Das ist die Gärung im indischen
Islam.


Die englische Grientxolitik

das von manchen Lagern der europäischen Diplomatie gerne vergessen werden
wollte. Es ist dies der Vertrag, den Großbritannien am 4. Juni 1878 mit
der ottomanischen Regierung schloß und durch den die Türkei Cypern abtrat
und Verwaltungsresormen verhieß. England übernahm als Gegenleistung die
Verpflichtung, den Besitzstand der Türkei in Asien vor etwaigen Angriffen zu
schützen. Wenn wir uns der diplomatischen Lage zu jener Zeit erinnern, so
wird uns klar, daß sich die englische Politik damals im allerschärfsten Gegensatz
zu Rußland befand. Heute sind die Beziehungen zu Rußland durchaus freund¬
schaftlich und doch hat jene seit fünfunddreißig Jahren bestehende Abmachung
auch heute noch ihre Spitze gegen Rußland und bei den bekannten Absichten
der übrigen Mächte gegen Rußland allein.

Nun hat die die kriegerischen Ereignisse begleitende diplomatische Entwicklung
England in eine Lage gebracht, die der Türkei gegenüber erhebliche Schwierig¬
keiten in sich birgt. Während des ersten Balkankrieges befand sich der englische
Liberalismus und auch weite Kreise der Opposition mit ihren Sympathien auf
Seiten der Balkanvölker. Handelte es sich doch nach der Ansicht vieler um
einen heroischen religiösen und nationalen Befreiungskampf. Wieder andere sahen
auch in dem Zusammenbruch der türkischen Herrschaft in Europa den natürlichen
Gang einer Entwicklung, die früher oder später kommen mußte, und bei deren
Unvermeidlichkeit man besser gleich auf den Sieger setzte. Diese Auffassungen
wurden im Kabinett geteilt und fanden in Ministerreden, namentlich in Äußerungen
des Premierministers Asquith lebhaften Ausdruck. Während des ganzen diplo¬
matischen Wechselspieles der letzten Jahre war Sir Edward Grey als Leiter der
englischen auswärtigen Politik unablässig und in vieler Beziehung mit Erfolg
darauf bedacht, den Frieden zu erhalten und da wo es zu spät war, den
Frieden zu stiften. Es bedeutete einen Triumph dieser Politik, daß die Bevoll¬
mächtigten der Balkanstaaten im Se. James Palast zu London jenen Frieden
unterzeichneten, der allen Balkanvölkern „Freiheit" und das Ende der türkischen
Herrlichkeit in Europa brachte. Da kam der Bruderkrieg der von allzu großem
nationalen und „christlichen" Idealismus beseelten Befreiten. Mit Grauen sieht
der Engländer in seinen Wochenschriften Photographien von verbrannten Bauern,
gemordeten Kindern, gebrandschatzten Dörfern und Städten in dem mit abend¬
ländischer Zivilisation beglückten Mazedonien. Der Türke aber zog als Befreier
begrüßt in die zu zwei Dritteln muselmännische Stadt Selims des Zweiten, das so
heiß umstrittene Adrianopel, ein. Dies alles ein paar Wochen, nachdem der Friede
von London, zu dem Sir Edward Grey Gevatter stand, die Balkanfrage „ge¬
löst" und dafür von England wie vom Ausland verschwenderisch Lorbeeren
geerntet hatte. Man ist in England gründlich ernüchtert von der Begeisterung
für die Freiheitskämpfer und man wird mehr und mehr auf eine Bewegung
aufmerksam, die noch weit vitaler die Interessen des Reiches betrifft als irgend¬
eine Expansion einer europäischen Großmacht. Das ist die Gärung im indischen
Islam.


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[0398] Die englische Grientxolitik das von manchen Lagern der europäischen Diplomatie gerne vergessen werden wollte. Es ist dies der Vertrag, den Großbritannien am 4. Juni 1878 mit der ottomanischen Regierung schloß und durch den die Türkei Cypern abtrat und Verwaltungsresormen verhieß. England übernahm als Gegenleistung die Verpflichtung, den Besitzstand der Türkei in Asien vor etwaigen Angriffen zu schützen. Wenn wir uns der diplomatischen Lage zu jener Zeit erinnern, so wird uns klar, daß sich die englische Politik damals im allerschärfsten Gegensatz zu Rußland befand. Heute sind die Beziehungen zu Rußland durchaus freund¬ schaftlich und doch hat jene seit fünfunddreißig Jahren bestehende Abmachung auch heute noch ihre Spitze gegen Rußland und bei den bekannten Absichten der übrigen Mächte gegen Rußland allein. Nun hat die die kriegerischen Ereignisse begleitende diplomatische Entwicklung England in eine Lage gebracht, die der Türkei gegenüber erhebliche Schwierig¬ keiten in sich birgt. Während des ersten Balkankrieges befand sich der englische Liberalismus und auch weite Kreise der Opposition mit ihren Sympathien auf Seiten der Balkanvölker. Handelte es sich doch nach der Ansicht vieler um einen heroischen religiösen und nationalen Befreiungskampf. Wieder andere sahen auch in dem Zusammenbruch der türkischen Herrschaft in Europa den natürlichen Gang einer Entwicklung, die früher oder später kommen mußte, und bei deren Unvermeidlichkeit man besser gleich auf den Sieger setzte. Diese Auffassungen wurden im Kabinett geteilt und fanden in Ministerreden, namentlich in Äußerungen des Premierministers Asquith lebhaften Ausdruck. Während des ganzen diplo¬ matischen Wechselspieles der letzten Jahre war Sir Edward Grey als Leiter der englischen auswärtigen Politik unablässig und in vieler Beziehung mit Erfolg darauf bedacht, den Frieden zu erhalten und da wo es zu spät war, den Frieden zu stiften. Es bedeutete einen Triumph dieser Politik, daß die Bevoll¬ mächtigten der Balkanstaaten im Se. James Palast zu London jenen Frieden unterzeichneten, der allen Balkanvölkern „Freiheit" und das Ende der türkischen Herrlichkeit in Europa brachte. Da kam der Bruderkrieg der von allzu großem nationalen und „christlichen" Idealismus beseelten Befreiten. Mit Grauen sieht der Engländer in seinen Wochenschriften Photographien von verbrannten Bauern, gemordeten Kindern, gebrandschatzten Dörfern und Städten in dem mit abend¬ ländischer Zivilisation beglückten Mazedonien. Der Türke aber zog als Befreier begrüßt in die zu zwei Dritteln muselmännische Stadt Selims des Zweiten, das so heiß umstrittene Adrianopel, ein. Dies alles ein paar Wochen, nachdem der Friede von London, zu dem Sir Edward Grey Gevatter stand, die Balkanfrage „ge¬ löst" und dafür von England wie vom Ausland verschwenderisch Lorbeeren geerntet hatte. Man ist in England gründlich ernüchtert von der Begeisterung für die Freiheitskämpfer und man wird mehr und mehr auf eine Bewegung aufmerksam, die noch weit vitaler die Interessen des Reiches betrifft als irgend¬ eine Expansion einer europäischen Großmacht. Das ist die Gärung im indischen Islam.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/398>, abgerufen am 19.10.2024.