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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Zur Geschichte des staatsbürgerlichen Unterrichts

Wesen und in ihrer literarischen Eigenart noch so sehr verschieden voneinander
sein, in ihrer glühenden Vaterlandsliebe wie in ihrer hervorragenden erzieherischen
Begabung und Neigung sind sie wesensverwandt. Beide betonen immer wieder
die Notwendigkeit, der Unterricht müsse volkstümlicher werden und die Zöglinge
eingehender auf die Pflichten und praktischen Bedürfnisse künftiger Staatsbürger
vorbereiten. In noch größerem Umfange als Möser fordert Jahr "Kenntnis
der allgemeinen Staatsangelegenheiten" und "Staatskunde in jedem Unterricht".
In seinem noch heute wertvollen Buch: "Deutsches Volkstum"*) schreibt er:
"Staatskunde ist verschieden von Staatslehre, Staatsrecht, Staatsgeschichte, aber
sie muß ihnen vorhergehen, weil sich die anderen darauf gründen. Solche
Staatskunde muß mehr sein als eine Zahlenstatistik, wo der Mensch den Rechen¬
knecht macht, als eine oberflächliche Erdbeschreibung, die wie ein Steckbrief lautet,
als eine Eilbotenreise auf der Schnellpost." Eine "Staatslehre" muß darauf
folgen, d. h. Inbegriff von Zweck und Wesen der bürgerlichen Gesellschaft und
ihrer Notwendigkeit. Wer in einem Staate mit Menschen leben, sich nicht als
Waldbruder und Jnselsiedler absondern will, muß dies wissen. Ein "Staats¬
recht" muß diesen Unterricht beschließen, eine Deutlichmachung der gesamten
vaterländischen Gesetzgebung und des Geistes, der sie erhalten und vollkommnen
soll. Auf die besten Ausarbeitungen dieser Volksbücher setze man Preise, und
der Staat trage so viel von den Druckkosten, daß auch der unbemittelte Staats¬
bürger nicht in Unwissenheit vergehe. Bei uns ist der Bürger nirgends mehr
zu Hause als im Auslande, und nirgends weniger heimisch als im Vaterlande____
Wahre Kenntnis ist nie gefährlich, das Zwielicht der Halbwisserei allemal.
Unwissenheit und Dünkel erzeugen widerspenstige Kannegießer und vorschreiende
Maulhelden. Der Unterrichtete weiß, daß dem Staatsbürger die kleinen Opfer
große Opferungen ersparen, daß die Gesetze den bösen Willen zügeln, die Ein¬
richtungen wohltätige Leitungen ungeordneter Kraft werden, Beschränkung
wilder Ausbrüche, Hemmen zerstörender Selbstsucht und Sicherung jeder wahren
Freiheit.---

Der Staat muß Einrichtungen machen, daß seine Staatsbürger sich und
ihn kennen lernen können, und gesetzlich bestimmen, daß sie es sollen. Etwa so:
"Kein Kind darf die Schule verlassen, ohne das Notwendigste, das Unentbehr¬
lichste von seinem Vaterlande zu wissen -- eine Art Staatskatechismus. Keiner
kann für großjährig gelten, Meisterrecht gewinnen, Gewerbe treiben, Haus und
Hof annehmen, ein Amt oder Posten bekleiden, ohne Staatsbürger zu werden.
Und das Staatsbürgerrecht wird nur erteilt nach vorhergegangener Prüfung
(vor den Regierungen) über die Kenntnis der Rechte und Pflichten des Bürgers."

Unerläßlich erscheint Jahr eine genaue Kenntnis der heimischen Geschichte,
"eine lebendige Geschichte des Vaterlandes, die ins Leben wieder hineinführt";



") Neue unveränderte Ausgabe. Leipzig 1817, S, 166 ff. Das Wort "Volkstum" hat
Jahr geprägt. "VolkStumskunde" nennt er die Wissenschaft, die wir heute als "Volkskunde"
bezeichnen. Jahr wird von Messer nur ganz kurz, von Francke etwas ausführlicher behandelt.
Zur Geschichte des staatsbürgerlichen Unterrichts

Wesen und in ihrer literarischen Eigenart noch so sehr verschieden voneinander
sein, in ihrer glühenden Vaterlandsliebe wie in ihrer hervorragenden erzieherischen
Begabung und Neigung sind sie wesensverwandt. Beide betonen immer wieder
die Notwendigkeit, der Unterricht müsse volkstümlicher werden und die Zöglinge
eingehender auf die Pflichten und praktischen Bedürfnisse künftiger Staatsbürger
vorbereiten. In noch größerem Umfange als Möser fordert Jahr „Kenntnis
der allgemeinen Staatsangelegenheiten" und „Staatskunde in jedem Unterricht".
In seinem noch heute wertvollen Buch: „Deutsches Volkstum"*) schreibt er:
„Staatskunde ist verschieden von Staatslehre, Staatsrecht, Staatsgeschichte, aber
sie muß ihnen vorhergehen, weil sich die anderen darauf gründen. Solche
Staatskunde muß mehr sein als eine Zahlenstatistik, wo der Mensch den Rechen¬
knecht macht, als eine oberflächliche Erdbeschreibung, die wie ein Steckbrief lautet,
als eine Eilbotenreise auf der Schnellpost." Eine „Staatslehre" muß darauf
folgen, d. h. Inbegriff von Zweck und Wesen der bürgerlichen Gesellschaft und
ihrer Notwendigkeit. Wer in einem Staate mit Menschen leben, sich nicht als
Waldbruder und Jnselsiedler absondern will, muß dies wissen. Ein „Staats¬
recht" muß diesen Unterricht beschließen, eine Deutlichmachung der gesamten
vaterländischen Gesetzgebung und des Geistes, der sie erhalten und vollkommnen
soll. Auf die besten Ausarbeitungen dieser Volksbücher setze man Preise, und
der Staat trage so viel von den Druckkosten, daß auch der unbemittelte Staats¬
bürger nicht in Unwissenheit vergehe. Bei uns ist der Bürger nirgends mehr
zu Hause als im Auslande, und nirgends weniger heimisch als im Vaterlande____
Wahre Kenntnis ist nie gefährlich, das Zwielicht der Halbwisserei allemal.
Unwissenheit und Dünkel erzeugen widerspenstige Kannegießer und vorschreiende
Maulhelden. Der Unterrichtete weiß, daß dem Staatsbürger die kleinen Opfer
große Opferungen ersparen, daß die Gesetze den bösen Willen zügeln, die Ein¬
richtungen wohltätige Leitungen ungeordneter Kraft werden, Beschränkung
wilder Ausbrüche, Hemmen zerstörender Selbstsucht und Sicherung jeder wahren
Freiheit.---

Der Staat muß Einrichtungen machen, daß seine Staatsbürger sich und
ihn kennen lernen können, und gesetzlich bestimmen, daß sie es sollen. Etwa so:
„Kein Kind darf die Schule verlassen, ohne das Notwendigste, das Unentbehr¬
lichste von seinem Vaterlande zu wissen — eine Art Staatskatechismus. Keiner
kann für großjährig gelten, Meisterrecht gewinnen, Gewerbe treiben, Haus und
Hof annehmen, ein Amt oder Posten bekleiden, ohne Staatsbürger zu werden.
Und das Staatsbürgerrecht wird nur erteilt nach vorhergegangener Prüfung
(vor den Regierungen) über die Kenntnis der Rechte und Pflichten des Bürgers."

Unerläßlich erscheint Jahr eine genaue Kenntnis der heimischen Geschichte,
»eine lebendige Geschichte des Vaterlandes, die ins Leben wieder hineinführt";



") Neue unveränderte Ausgabe. Leipzig 1817, S, 166 ff. Das Wort „Volkstum" hat
Jahr geprägt. „VolkStumskunde" nennt er die Wissenschaft, die wir heute als „Volkskunde"
bezeichnen. Jahr wird von Messer nur ganz kurz, von Francke etwas ausführlicher behandelt.
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[0361] Zur Geschichte des staatsbürgerlichen Unterrichts Wesen und in ihrer literarischen Eigenart noch so sehr verschieden voneinander sein, in ihrer glühenden Vaterlandsliebe wie in ihrer hervorragenden erzieherischen Begabung und Neigung sind sie wesensverwandt. Beide betonen immer wieder die Notwendigkeit, der Unterricht müsse volkstümlicher werden und die Zöglinge eingehender auf die Pflichten und praktischen Bedürfnisse künftiger Staatsbürger vorbereiten. In noch größerem Umfange als Möser fordert Jahr „Kenntnis der allgemeinen Staatsangelegenheiten" und „Staatskunde in jedem Unterricht". In seinem noch heute wertvollen Buch: „Deutsches Volkstum"*) schreibt er: „Staatskunde ist verschieden von Staatslehre, Staatsrecht, Staatsgeschichte, aber sie muß ihnen vorhergehen, weil sich die anderen darauf gründen. Solche Staatskunde muß mehr sein als eine Zahlenstatistik, wo der Mensch den Rechen¬ knecht macht, als eine oberflächliche Erdbeschreibung, die wie ein Steckbrief lautet, als eine Eilbotenreise auf der Schnellpost." Eine „Staatslehre" muß darauf folgen, d. h. Inbegriff von Zweck und Wesen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Notwendigkeit. Wer in einem Staate mit Menschen leben, sich nicht als Waldbruder und Jnselsiedler absondern will, muß dies wissen. Ein „Staats¬ recht" muß diesen Unterricht beschließen, eine Deutlichmachung der gesamten vaterländischen Gesetzgebung und des Geistes, der sie erhalten und vollkommnen soll. Auf die besten Ausarbeitungen dieser Volksbücher setze man Preise, und der Staat trage so viel von den Druckkosten, daß auch der unbemittelte Staats¬ bürger nicht in Unwissenheit vergehe. Bei uns ist der Bürger nirgends mehr zu Hause als im Auslande, und nirgends weniger heimisch als im Vaterlande____ Wahre Kenntnis ist nie gefährlich, das Zwielicht der Halbwisserei allemal. Unwissenheit und Dünkel erzeugen widerspenstige Kannegießer und vorschreiende Maulhelden. Der Unterrichtete weiß, daß dem Staatsbürger die kleinen Opfer große Opferungen ersparen, daß die Gesetze den bösen Willen zügeln, die Ein¬ richtungen wohltätige Leitungen ungeordneter Kraft werden, Beschränkung wilder Ausbrüche, Hemmen zerstörender Selbstsucht und Sicherung jeder wahren Freiheit.--- Der Staat muß Einrichtungen machen, daß seine Staatsbürger sich und ihn kennen lernen können, und gesetzlich bestimmen, daß sie es sollen. Etwa so: „Kein Kind darf die Schule verlassen, ohne das Notwendigste, das Unentbehr¬ lichste von seinem Vaterlande zu wissen — eine Art Staatskatechismus. Keiner kann für großjährig gelten, Meisterrecht gewinnen, Gewerbe treiben, Haus und Hof annehmen, ein Amt oder Posten bekleiden, ohne Staatsbürger zu werden. Und das Staatsbürgerrecht wird nur erteilt nach vorhergegangener Prüfung (vor den Regierungen) über die Kenntnis der Rechte und Pflichten des Bürgers." Unerläßlich erscheint Jahr eine genaue Kenntnis der heimischen Geschichte, »eine lebendige Geschichte des Vaterlandes, die ins Leben wieder hineinführt"; ") Neue unveränderte Ausgabe. Leipzig 1817, S, 166 ff. Das Wort „Volkstum" hat Jahr geprägt. „VolkStumskunde" nennt er die Wissenschaft, die wir heute als „Volkskunde" bezeichnen. Jahr wird von Messer nur ganz kurz, von Francke etwas ausführlicher behandelt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/361>, abgerufen am 29.12.2024.