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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Zur Geschichte des staatsbürgerlichen Unterrichts

selbst bescheiden und hätte nicht nötig, jeden guten und schlimmen Rat teuer,
zu erkaufen. "Warum soll die Kenntnis der Landesgesetze und Ordnungen,
dieser Teil des menschlichen Unterrichts, der doch für die gemeine Wohlfahrt
so wichtig ist, allein ein Geheimnis der Geschworenen sein?" Ein derartiger
"kurzer Unterricht" würde eine Waffe sein gegen die Advokatenränke, die Unvoll-
kommenheiten des Gerichtsverfahrens und die Spitzfindigkeiten der "römisch¬
gelehrten Richter, die den Geist der deutschen Verfassung und durch ihre Studien
die Fühlung mit dem Volke verloren haben". Von unendlichem Nutzen für
das Landvolk müsse auch die Kenntnis der vornehmsten Wahrheiten der Dorf-,
Marken- und anderer Polizeiverordnungen sein, ein kurzer Auszug der Taxordnung
für Gebühren an Richter, Advokaten und Prokuratoren, eine Vergleichung der
"Maßen", eine Belehrung über Pfändungen, ein kleines Register, wie bei ent¬
stehenden Konkursen die Gläubiger geordnet werden u. a. in.

In seinen "Patriotischen Phantasien" wie in der "Osnabrückischen Geschichte"
weist Möser gegenüber den Mängeln des deutschen Polizeistaates und der
Beamtenherrschaft immer wieder auf die freiheitliche Selbstverwaltung der Eng¬
länder hin, die er in einem achtmonatigen Aufenthalte in England genauer
kennen gelernt hatte. Die Forderung, daß schon die Jugend über die Gesetze
und die Verfassung des Landes aufgeklärt werden müsse, findet sich bereits bei
dem ihm wohlbekannten John Locke (1632 bis 1704), doch braucht man bei
unserem selbständigen Denker keine Entlehnung anzunehmen.

Die Ansichten Mösers über Volkserziehung haben in seinem rationalistischen,
weltbürgerlichen Jahrhundert kaum irgendwo Verwirklichung gefunden. Die
Stimme des kerndeutschen Mannes aus dem weltabgelegenen kleinen Bistum
Osnabrück reichte nicht weit, und seine Mahnung, daß Bürgerliche nicht unter¬
gehen dürfe in Menschenliebe, verhallte in jenem kosmopolitischen Zeitalter, nur
von wenigen gehört und beachtet.

An Mösers Phantasie: "Vorschlag zu einer Practica für das Landvolk"
erinnert ein Aufsatz des einst hochgeschätzten, jetzt fast vergessenen Peter Helfrich
Sturz aus Darmstadt (1736 bis 1779): "Über die Verbesserung der Landschulen".
Darin wird ganz im Sinne Mösers "ein faßlicher Auszug der Landesgesetze"
verlangt, denn der Bauer solle wissen, was das Gesetz von ihm fordert, damit
er es nicht durch unverschuldete Strafen, oder mit seinem Untergang durch
Rabulisten erfahre*). Kenntnis der Gesetze war bei der von Möser oft beklagten
und auch in einer bekannten Gellertschen Fabel gegeißelten Prozeßwut der Bauern
jener Zeit unstreitig von höchstem Wert.

Mögen der kernige Westfale Justus Möser und der zwei Menschenalter
später geborene Märker Friedrich Ludwig Jahr, der "Turnvater", in ihrem



*) Schriften von P. H. Sturz, 2. Teil, Wien 181S, S. 169, Sturz gehört neben Möser
zu den besten Prosaschriftstellern des achtzehnten Jahrhunderts. In seinem "Leben Justus
Mösers" (Mösers Werke, X S. 73 ff.) hat Friedrich Nicolai beide Schriftsteller miteinander
verglichen.
Zur Geschichte des staatsbürgerlichen Unterrichts

selbst bescheiden und hätte nicht nötig, jeden guten und schlimmen Rat teuer,
zu erkaufen. „Warum soll die Kenntnis der Landesgesetze und Ordnungen,
dieser Teil des menschlichen Unterrichts, der doch für die gemeine Wohlfahrt
so wichtig ist, allein ein Geheimnis der Geschworenen sein?" Ein derartiger
„kurzer Unterricht" würde eine Waffe sein gegen die Advokatenränke, die Unvoll-
kommenheiten des Gerichtsverfahrens und die Spitzfindigkeiten der „römisch¬
gelehrten Richter, die den Geist der deutschen Verfassung und durch ihre Studien
die Fühlung mit dem Volke verloren haben". Von unendlichem Nutzen für
das Landvolk müsse auch die Kenntnis der vornehmsten Wahrheiten der Dorf-,
Marken- und anderer Polizeiverordnungen sein, ein kurzer Auszug der Taxordnung
für Gebühren an Richter, Advokaten und Prokuratoren, eine Vergleichung der
„Maßen", eine Belehrung über Pfändungen, ein kleines Register, wie bei ent¬
stehenden Konkursen die Gläubiger geordnet werden u. a. in.

In seinen „Patriotischen Phantasien" wie in der „Osnabrückischen Geschichte"
weist Möser gegenüber den Mängeln des deutschen Polizeistaates und der
Beamtenherrschaft immer wieder auf die freiheitliche Selbstverwaltung der Eng¬
länder hin, die er in einem achtmonatigen Aufenthalte in England genauer
kennen gelernt hatte. Die Forderung, daß schon die Jugend über die Gesetze
und die Verfassung des Landes aufgeklärt werden müsse, findet sich bereits bei
dem ihm wohlbekannten John Locke (1632 bis 1704), doch braucht man bei
unserem selbständigen Denker keine Entlehnung anzunehmen.

Die Ansichten Mösers über Volkserziehung haben in seinem rationalistischen,
weltbürgerlichen Jahrhundert kaum irgendwo Verwirklichung gefunden. Die
Stimme des kerndeutschen Mannes aus dem weltabgelegenen kleinen Bistum
Osnabrück reichte nicht weit, und seine Mahnung, daß Bürgerliche nicht unter¬
gehen dürfe in Menschenliebe, verhallte in jenem kosmopolitischen Zeitalter, nur
von wenigen gehört und beachtet.

An Mösers Phantasie: „Vorschlag zu einer Practica für das Landvolk"
erinnert ein Aufsatz des einst hochgeschätzten, jetzt fast vergessenen Peter Helfrich
Sturz aus Darmstadt (1736 bis 1779): „Über die Verbesserung der Landschulen".
Darin wird ganz im Sinne Mösers „ein faßlicher Auszug der Landesgesetze"
verlangt, denn der Bauer solle wissen, was das Gesetz von ihm fordert, damit
er es nicht durch unverschuldete Strafen, oder mit seinem Untergang durch
Rabulisten erfahre*). Kenntnis der Gesetze war bei der von Möser oft beklagten
und auch in einer bekannten Gellertschen Fabel gegeißelten Prozeßwut der Bauern
jener Zeit unstreitig von höchstem Wert.

Mögen der kernige Westfale Justus Möser und der zwei Menschenalter
später geborene Märker Friedrich Ludwig Jahr, der „Turnvater", in ihrem



*) Schriften von P. H. Sturz, 2. Teil, Wien 181S, S. 169, Sturz gehört neben Möser
zu den besten Prosaschriftstellern des achtzehnten Jahrhunderts. In seinem „Leben Justus
Mösers" (Mösers Werke, X S. 73 ff.) hat Friedrich Nicolai beide Schriftsteller miteinander
verglichen.
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[0360] Zur Geschichte des staatsbürgerlichen Unterrichts selbst bescheiden und hätte nicht nötig, jeden guten und schlimmen Rat teuer, zu erkaufen. „Warum soll die Kenntnis der Landesgesetze und Ordnungen, dieser Teil des menschlichen Unterrichts, der doch für die gemeine Wohlfahrt so wichtig ist, allein ein Geheimnis der Geschworenen sein?" Ein derartiger „kurzer Unterricht" würde eine Waffe sein gegen die Advokatenränke, die Unvoll- kommenheiten des Gerichtsverfahrens und die Spitzfindigkeiten der „römisch¬ gelehrten Richter, die den Geist der deutschen Verfassung und durch ihre Studien die Fühlung mit dem Volke verloren haben". Von unendlichem Nutzen für das Landvolk müsse auch die Kenntnis der vornehmsten Wahrheiten der Dorf-, Marken- und anderer Polizeiverordnungen sein, ein kurzer Auszug der Taxordnung für Gebühren an Richter, Advokaten und Prokuratoren, eine Vergleichung der „Maßen", eine Belehrung über Pfändungen, ein kleines Register, wie bei ent¬ stehenden Konkursen die Gläubiger geordnet werden u. a. in. In seinen „Patriotischen Phantasien" wie in der „Osnabrückischen Geschichte" weist Möser gegenüber den Mängeln des deutschen Polizeistaates und der Beamtenherrschaft immer wieder auf die freiheitliche Selbstverwaltung der Eng¬ länder hin, die er in einem achtmonatigen Aufenthalte in England genauer kennen gelernt hatte. Die Forderung, daß schon die Jugend über die Gesetze und die Verfassung des Landes aufgeklärt werden müsse, findet sich bereits bei dem ihm wohlbekannten John Locke (1632 bis 1704), doch braucht man bei unserem selbständigen Denker keine Entlehnung anzunehmen. Die Ansichten Mösers über Volkserziehung haben in seinem rationalistischen, weltbürgerlichen Jahrhundert kaum irgendwo Verwirklichung gefunden. Die Stimme des kerndeutschen Mannes aus dem weltabgelegenen kleinen Bistum Osnabrück reichte nicht weit, und seine Mahnung, daß Bürgerliche nicht unter¬ gehen dürfe in Menschenliebe, verhallte in jenem kosmopolitischen Zeitalter, nur von wenigen gehört und beachtet. An Mösers Phantasie: „Vorschlag zu einer Practica für das Landvolk" erinnert ein Aufsatz des einst hochgeschätzten, jetzt fast vergessenen Peter Helfrich Sturz aus Darmstadt (1736 bis 1779): „Über die Verbesserung der Landschulen". Darin wird ganz im Sinne Mösers „ein faßlicher Auszug der Landesgesetze" verlangt, denn der Bauer solle wissen, was das Gesetz von ihm fordert, damit er es nicht durch unverschuldete Strafen, oder mit seinem Untergang durch Rabulisten erfahre*). Kenntnis der Gesetze war bei der von Möser oft beklagten und auch in einer bekannten Gellertschen Fabel gegeißelten Prozeßwut der Bauern jener Zeit unstreitig von höchstem Wert. Mögen der kernige Westfale Justus Möser und der zwei Menschenalter später geborene Märker Friedrich Ludwig Jahr, der „Turnvater", in ihrem *) Schriften von P. H. Sturz, 2. Teil, Wien 181S, S. 169, Sturz gehört neben Möser zu den besten Prosaschriftstellern des achtzehnten Jahrhunderts. In seinem „Leben Justus Mösers" (Mösers Werke, X S. 73 ff.) hat Friedrich Nicolai beide Schriftsteller miteinander verglichen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/360>, abgerufen am 20.10.2024.