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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Menschensparkasse

bedürfte, um nicht das soeben erst wiedergewonnene Leben, an das ich mich doch
mit klammernden Organen halten' wollte, von neuem und zwar endgültig zu
verlieren. Was würde ich da draußen in der Welt, im Leben finden? Würde
ich den Faden, den ich selbst abgeschnitten, wieder anzuknüpfen imstande oder
auch nur willens sein? Was würde ich von alledem wiederfinden, das ich ver¬
lassen? Wo würden die Lieben sein, von denen ich fortgegangen? Würden
sie nicht vielleicht alle -- eine Aufsparung des Lebensgutes verschmähend -- ihr
Leben zu Ende gelebt haben und also aus jener Welt bereits geschieden sein,
in die ich eben wieder eintreten wollte? Würde ich nicht so ein Einsamer, ein
Unglücklicher sein, unendlich viel unglücklicher als damals, da ich geschieden
war? Nein! Auch nur die Probe zu machen, fühlte ich mich nicht imstande.
Das schwarze Los, das ich dabei vielleicht ziehen konnte, war zu schwarz, zu
grauenvoll, um es gegen ein ungewisses heiteres Los mit in Risiko zu nehmen.
Schneller als ich gegangen, kehrte ich wieder in das Arbeitszimmer meines
gelehrten Erweckers zurück. "Ich möchte von neuem in jenen Zustand, den Sie
Anabiose nannten, zurückversetzt werden." Das Gesicht meines Freundes zeigte
keinerlei Überraschung. "Sie sind nicht der erste und werden nicht der letzte sein,"
sagte er ruhig, "der diesen Wunsch äußert. Und da Sie im Zustand freier
Willensbestimmung sind, kann ich nicht nur, sondern ich muß sogar diesen Ihren
Wunsch erfüllen. Ich bin dazu gesetzlich verpflichtet, wenn Sie ihn mir vor
Zeugen äußern und ein amtliches Protokoll darüber aufsetzen lassen." So schnell
als es nur irgend ging, erledigte ich diese Formalitäten. Ohne noch weitere
Fragen an meinen Erwecker zu richten, der mir nunmehr den willkommenen,
nur so kurz unterbrochenen Schlaf wiederbringen sollte, ließ ich mich in den
Anabiosierungssaal des Institutes, in dem ich schon einmal, vor einundsiebzig
Jahren, gelegen hatte, zurückführen. Ich wollte nichts weiter von jener Welt
und jenem Leben wissen, das ich im Begriff stand, von neuem zu verlassen.
Ich fühlte, ich würde weitere Nachrichten von ihm nicht ertragen können. Was
ich auch hören würde -- Gutes wie Böses, Glück wie Leid -- es würde mir
das Herz zersprengen! Ich hatte die längste gesetzlich zulässige, neue Schlaf¬
periode, hundert volle Jahre, gewählt, fest überzeugt, daß auch danach mein
Erwachen nur eine kurze Unterbrechung sein würde, aus der ich mich so schnell
als möglich in neuen Schlaf würde versetzen lassen. So nahm ich denn auf dem
Ruhebette Platz und im Gedanken -- nicht an die neue Welt, in der ich ein
Fremder gewesen wäre, sondern an jene liebe alte Welt, an jenes alte vertraute
Leben, das ich vor einundsiebzig Jahren verlassen, atmete ich jene erlösung¬
bringenden Gase ein, die meinen Leib in den zur Anabiose erforderlichen
Zustand versetzen würden. Langsam und immer langsamer kommen und gehen
die Gedanken, langsam und immer langsamer fließt die Welle des Lebens durch
meinen Leib, langsamer und immer langsamer schlägt das Herz. Da! Ein
Ruck! Und es steht stille! Doch nein____ Wie ist mir? Dieser Ruck hat
mir nicht Schlaf und Tod, sondern herrliches Erwachen und wonniges Leben


Die Menschensparkasse

bedürfte, um nicht das soeben erst wiedergewonnene Leben, an das ich mich doch
mit klammernden Organen halten' wollte, von neuem und zwar endgültig zu
verlieren. Was würde ich da draußen in der Welt, im Leben finden? Würde
ich den Faden, den ich selbst abgeschnitten, wieder anzuknüpfen imstande oder
auch nur willens sein? Was würde ich von alledem wiederfinden, das ich ver¬
lassen? Wo würden die Lieben sein, von denen ich fortgegangen? Würden
sie nicht vielleicht alle — eine Aufsparung des Lebensgutes verschmähend — ihr
Leben zu Ende gelebt haben und also aus jener Welt bereits geschieden sein,
in die ich eben wieder eintreten wollte? Würde ich nicht so ein Einsamer, ein
Unglücklicher sein, unendlich viel unglücklicher als damals, da ich geschieden
war? Nein! Auch nur die Probe zu machen, fühlte ich mich nicht imstande.
Das schwarze Los, das ich dabei vielleicht ziehen konnte, war zu schwarz, zu
grauenvoll, um es gegen ein ungewisses heiteres Los mit in Risiko zu nehmen.
Schneller als ich gegangen, kehrte ich wieder in das Arbeitszimmer meines
gelehrten Erweckers zurück. „Ich möchte von neuem in jenen Zustand, den Sie
Anabiose nannten, zurückversetzt werden." Das Gesicht meines Freundes zeigte
keinerlei Überraschung. „Sie sind nicht der erste und werden nicht der letzte sein,"
sagte er ruhig, „der diesen Wunsch äußert. Und da Sie im Zustand freier
Willensbestimmung sind, kann ich nicht nur, sondern ich muß sogar diesen Ihren
Wunsch erfüllen. Ich bin dazu gesetzlich verpflichtet, wenn Sie ihn mir vor
Zeugen äußern und ein amtliches Protokoll darüber aufsetzen lassen." So schnell
als es nur irgend ging, erledigte ich diese Formalitäten. Ohne noch weitere
Fragen an meinen Erwecker zu richten, der mir nunmehr den willkommenen,
nur so kurz unterbrochenen Schlaf wiederbringen sollte, ließ ich mich in den
Anabiosierungssaal des Institutes, in dem ich schon einmal, vor einundsiebzig
Jahren, gelegen hatte, zurückführen. Ich wollte nichts weiter von jener Welt
und jenem Leben wissen, das ich im Begriff stand, von neuem zu verlassen.
Ich fühlte, ich würde weitere Nachrichten von ihm nicht ertragen können. Was
ich auch hören würde — Gutes wie Böses, Glück wie Leid — es würde mir
das Herz zersprengen! Ich hatte die längste gesetzlich zulässige, neue Schlaf¬
periode, hundert volle Jahre, gewählt, fest überzeugt, daß auch danach mein
Erwachen nur eine kurze Unterbrechung sein würde, aus der ich mich so schnell
als möglich in neuen Schlaf würde versetzen lassen. So nahm ich denn auf dem
Ruhebette Platz und im Gedanken — nicht an die neue Welt, in der ich ein
Fremder gewesen wäre, sondern an jene liebe alte Welt, an jenes alte vertraute
Leben, das ich vor einundsiebzig Jahren verlassen, atmete ich jene erlösung¬
bringenden Gase ein, die meinen Leib in den zur Anabiose erforderlichen
Zustand versetzen würden. Langsam und immer langsamer kommen und gehen
die Gedanken, langsam und immer langsamer fließt die Welle des Lebens durch
meinen Leib, langsamer und immer langsamer schlägt das Herz. Da! Ein
Ruck! Und es steht stille! Doch nein____ Wie ist mir? Dieser Ruck hat
mir nicht Schlaf und Tod, sondern herrliches Erwachen und wonniges Leben


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[0340] Die Menschensparkasse bedürfte, um nicht das soeben erst wiedergewonnene Leben, an das ich mich doch mit klammernden Organen halten' wollte, von neuem und zwar endgültig zu verlieren. Was würde ich da draußen in der Welt, im Leben finden? Würde ich den Faden, den ich selbst abgeschnitten, wieder anzuknüpfen imstande oder auch nur willens sein? Was würde ich von alledem wiederfinden, das ich ver¬ lassen? Wo würden die Lieben sein, von denen ich fortgegangen? Würden sie nicht vielleicht alle — eine Aufsparung des Lebensgutes verschmähend — ihr Leben zu Ende gelebt haben und also aus jener Welt bereits geschieden sein, in die ich eben wieder eintreten wollte? Würde ich nicht so ein Einsamer, ein Unglücklicher sein, unendlich viel unglücklicher als damals, da ich geschieden war? Nein! Auch nur die Probe zu machen, fühlte ich mich nicht imstande. Das schwarze Los, das ich dabei vielleicht ziehen konnte, war zu schwarz, zu grauenvoll, um es gegen ein ungewisses heiteres Los mit in Risiko zu nehmen. Schneller als ich gegangen, kehrte ich wieder in das Arbeitszimmer meines gelehrten Erweckers zurück. „Ich möchte von neuem in jenen Zustand, den Sie Anabiose nannten, zurückversetzt werden." Das Gesicht meines Freundes zeigte keinerlei Überraschung. „Sie sind nicht der erste und werden nicht der letzte sein," sagte er ruhig, „der diesen Wunsch äußert. Und da Sie im Zustand freier Willensbestimmung sind, kann ich nicht nur, sondern ich muß sogar diesen Ihren Wunsch erfüllen. Ich bin dazu gesetzlich verpflichtet, wenn Sie ihn mir vor Zeugen äußern und ein amtliches Protokoll darüber aufsetzen lassen." So schnell als es nur irgend ging, erledigte ich diese Formalitäten. Ohne noch weitere Fragen an meinen Erwecker zu richten, der mir nunmehr den willkommenen, nur so kurz unterbrochenen Schlaf wiederbringen sollte, ließ ich mich in den Anabiosierungssaal des Institutes, in dem ich schon einmal, vor einundsiebzig Jahren, gelegen hatte, zurückführen. Ich wollte nichts weiter von jener Welt und jenem Leben wissen, das ich im Begriff stand, von neuem zu verlassen. Ich fühlte, ich würde weitere Nachrichten von ihm nicht ertragen können. Was ich auch hören würde — Gutes wie Böses, Glück wie Leid — es würde mir das Herz zersprengen! Ich hatte die längste gesetzlich zulässige, neue Schlaf¬ periode, hundert volle Jahre, gewählt, fest überzeugt, daß auch danach mein Erwachen nur eine kurze Unterbrechung sein würde, aus der ich mich so schnell als möglich in neuen Schlaf würde versetzen lassen. So nahm ich denn auf dem Ruhebette Platz und im Gedanken — nicht an die neue Welt, in der ich ein Fremder gewesen wäre, sondern an jene liebe alte Welt, an jenes alte vertraute Leben, das ich vor einundsiebzig Jahren verlassen, atmete ich jene erlösung¬ bringenden Gase ein, die meinen Leib in den zur Anabiose erforderlichen Zustand versetzen würden. Langsam und immer langsamer kommen und gehen die Gedanken, langsam und immer langsamer fließt die Welle des Lebens durch meinen Leib, langsamer und immer langsamer schlägt das Herz. Da! Ein Ruck! Und es steht stille! Doch nein____ Wie ist mir? Dieser Ruck hat mir nicht Schlaf und Tod, sondern herrliches Erwachen und wonniges Leben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/340>, abgerufen am 28.12.2024.