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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Menschensparkasse

im Gehirn -- Pigmentkörnchen ablagern, die als Rückstände -- man kann
geradezu sagen als "Schlacken" -- des Stoffwechselprozesses anzusehen und
daher ein unvermeidliches Übel sind. Alter und Tod sind somit ihrem Wesen
nach nicht krankhafte, sondern natürliche, durch den Lebensprozeß selbst bedingte
Erscheinungen, die so unvermeidlich sind, wie Asche und Schlacke beim Ver¬
brennungsprozeß. Der Kampf zwischen den beiden genannten Hypothesen brachte
nun den Forschern zum Bewußtsein, daß optimistische, auf die Errungenschaften
der Biologie sich stützende Hoffnungen auf eine Hinausschiebung oder gar Be¬
seitigung der Alters- und Todeserscheinungen, seien diese nun pathologischer
oder biologischer Natur, jedenfalls in das Gebiet der völlig vagen und halt¬
losen Spekulation zu verweisen seien. Dagegen schien eine andere Reihe von
Entdeckungen für begründete Hoffnungen auf diesem Gebiete mehr Spielraum
zu lassen. Es waren das Entdeckungen, die den Gedanken nahelegten, daß das
Altern und Sterben -- wenn auch gewiß nicht beseitigt -- so doch wenigstens
auf lange, lange Zeit hinausgeschoben werden könne. Bei der Beschreibung
dieser Entdeckungen kann ich meinen Ausgangspunkt nehmen bei der Tatsache,
daß Temperaturerniedrigungen die Dauer physiologischer Prozesse verlängern.
Man prägte den Begriff des Temperaturkoeffizienten der Lebensdauer. Dieser
Koeffizient bedeutet die Zahl, welche angibt, um ein wievielfaches ihrer ursprüng¬
lichen Größe sich die Dauer des physiologischen Lebensprozesses bei einer
Temperaturabnahme um 1 Grad verlängert. So fand z. B. Jacques Loch,
daß für gewisse Organismen der Temperaturkoeffizient der Lebensdauer ein den
biologischen Laien durch seine Höhe überraschender ist. So ermittelte Loch z. B.
den Temperaturkoeffizienten der Lebensdauer des Seeigeleis für 10 Grad mit
1000; d. h. bei einer Temperatureruiedriguug um 10 Grad dauert der Lebens¬
prozeß des Seeigeleis tausendmal so lange, als bei der Ausgangstemperatur.
Für Warmblüter erschienen nun derartige Versuche, die zur Ermittlung des
Tempcraturkoeffizienten der Lebensdauer führten, zunächst ohne praktische Be¬
deutung zu sein. Warmblüter sterben, wenn ihre Körpertemperatur unter
bestimmte Wärmegrade hinab abgekühlt wird. Aus dem gleichen Grunde konnten
auch bei Warmblütern, insbesondere beim Menschen, die Ergebnisse zunächst
nicht fruchtbar gemacht werden, die bei anderen Organismen mit Einfrierungs-
versuchen erzielt worden waren. Es hatte sich nämlich gezeigt, daß z. B. bei
Fischen eine Temperatureruiedriguug bis auf Kältegrade möglich war, bei denen
das Blut und alle Körpersäfte einfroren, ohne daß diese Prozedur tötlich wirkte.
Die Fische können vielmehr unter gewissen Bedingungen durch jene Abkühlung
in einen Zustand versetzt werden, in dem zwar alle Lebensfunktionen aufgehoben
sind, in dem aber der Tod. das endgültige Erlöschen der Lebensfähigkeit, nicht
eintritt. Es ist vielmehr möglich, jene Fische, und auch noch andere Versuchs¬
tiere, selbst nach langer Zeit noch aus jenem eigentümlichen Zwischenzustand
zwischen Tod und Leben -- man nannte ihn Anabiose -- durch allmähliche
vorsichtige Temperaturerhöhung wieder ins volle Leben zurückzurufen. Bei


Die Menschensparkasse

im Gehirn — Pigmentkörnchen ablagern, die als Rückstände — man kann
geradezu sagen als „Schlacken" — des Stoffwechselprozesses anzusehen und
daher ein unvermeidliches Übel sind. Alter und Tod sind somit ihrem Wesen
nach nicht krankhafte, sondern natürliche, durch den Lebensprozeß selbst bedingte
Erscheinungen, die so unvermeidlich sind, wie Asche und Schlacke beim Ver¬
brennungsprozeß. Der Kampf zwischen den beiden genannten Hypothesen brachte
nun den Forschern zum Bewußtsein, daß optimistische, auf die Errungenschaften
der Biologie sich stützende Hoffnungen auf eine Hinausschiebung oder gar Be¬
seitigung der Alters- und Todeserscheinungen, seien diese nun pathologischer
oder biologischer Natur, jedenfalls in das Gebiet der völlig vagen und halt¬
losen Spekulation zu verweisen seien. Dagegen schien eine andere Reihe von
Entdeckungen für begründete Hoffnungen auf diesem Gebiete mehr Spielraum
zu lassen. Es waren das Entdeckungen, die den Gedanken nahelegten, daß das
Altern und Sterben — wenn auch gewiß nicht beseitigt — so doch wenigstens
auf lange, lange Zeit hinausgeschoben werden könne. Bei der Beschreibung
dieser Entdeckungen kann ich meinen Ausgangspunkt nehmen bei der Tatsache,
daß Temperaturerniedrigungen die Dauer physiologischer Prozesse verlängern.
Man prägte den Begriff des Temperaturkoeffizienten der Lebensdauer. Dieser
Koeffizient bedeutet die Zahl, welche angibt, um ein wievielfaches ihrer ursprüng¬
lichen Größe sich die Dauer des physiologischen Lebensprozesses bei einer
Temperaturabnahme um 1 Grad verlängert. So fand z. B. Jacques Loch,
daß für gewisse Organismen der Temperaturkoeffizient der Lebensdauer ein den
biologischen Laien durch seine Höhe überraschender ist. So ermittelte Loch z. B.
den Temperaturkoeffizienten der Lebensdauer des Seeigeleis für 10 Grad mit
1000; d. h. bei einer Temperatureruiedriguug um 10 Grad dauert der Lebens¬
prozeß des Seeigeleis tausendmal so lange, als bei der Ausgangstemperatur.
Für Warmblüter erschienen nun derartige Versuche, die zur Ermittlung des
Tempcraturkoeffizienten der Lebensdauer führten, zunächst ohne praktische Be¬
deutung zu sein. Warmblüter sterben, wenn ihre Körpertemperatur unter
bestimmte Wärmegrade hinab abgekühlt wird. Aus dem gleichen Grunde konnten
auch bei Warmblütern, insbesondere beim Menschen, die Ergebnisse zunächst
nicht fruchtbar gemacht werden, die bei anderen Organismen mit Einfrierungs-
versuchen erzielt worden waren. Es hatte sich nämlich gezeigt, daß z. B. bei
Fischen eine Temperatureruiedriguug bis auf Kältegrade möglich war, bei denen
das Blut und alle Körpersäfte einfroren, ohne daß diese Prozedur tötlich wirkte.
Die Fische können vielmehr unter gewissen Bedingungen durch jene Abkühlung
in einen Zustand versetzt werden, in dem zwar alle Lebensfunktionen aufgehoben
sind, in dem aber der Tod. das endgültige Erlöschen der Lebensfähigkeit, nicht
eintritt. Es ist vielmehr möglich, jene Fische, und auch noch andere Versuchs¬
tiere, selbst nach langer Zeit noch aus jenem eigentümlichen Zwischenzustand
zwischen Tod und Leben — man nannte ihn Anabiose — durch allmähliche
vorsichtige Temperaturerhöhung wieder ins volle Leben zurückzurufen. Bei


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[0338] Die Menschensparkasse im Gehirn — Pigmentkörnchen ablagern, die als Rückstände — man kann geradezu sagen als „Schlacken" — des Stoffwechselprozesses anzusehen und daher ein unvermeidliches Übel sind. Alter und Tod sind somit ihrem Wesen nach nicht krankhafte, sondern natürliche, durch den Lebensprozeß selbst bedingte Erscheinungen, die so unvermeidlich sind, wie Asche und Schlacke beim Ver¬ brennungsprozeß. Der Kampf zwischen den beiden genannten Hypothesen brachte nun den Forschern zum Bewußtsein, daß optimistische, auf die Errungenschaften der Biologie sich stützende Hoffnungen auf eine Hinausschiebung oder gar Be¬ seitigung der Alters- und Todeserscheinungen, seien diese nun pathologischer oder biologischer Natur, jedenfalls in das Gebiet der völlig vagen und halt¬ losen Spekulation zu verweisen seien. Dagegen schien eine andere Reihe von Entdeckungen für begründete Hoffnungen auf diesem Gebiete mehr Spielraum zu lassen. Es waren das Entdeckungen, die den Gedanken nahelegten, daß das Altern und Sterben — wenn auch gewiß nicht beseitigt — so doch wenigstens auf lange, lange Zeit hinausgeschoben werden könne. Bei der Beschreibung dieser Entdeckungen kann ich meinen Ausgangspunkt nehmen bei der Tatsache, daß Temperaturerniedrigungen die Dauer physiologischer Prozesse verlängern. Man prägte den Begriff des Temperaturkoeffizienten der Lebensdauer. Dieser Koeffizient bedeutet die Zahl, welche angibt, um ein wievielfaches ihrer ursprüng¬ lichen Größe sich die Dauer des physiologischen Lebensprozesses bei einer Temperaturabnahme um 1 Grad verlängert. So fand z. B. Jacques Loch, daß für gewisse Organismen der Temperaturkoeffizient der Lebensdauer ein den biologischen Laien durch seine Höhe überraschender ist. So ermittelte Loch z. B. den Temperaturkoeffizienten der Lebensdauer des Seeigeleis für 10 Grad mit 1000; d. h. bei einer Temperatureruiedriguug um 10 Grad dauert der Lebens¬ prozeß des Seeigeleis tausendmal so lange, als bei der Ausgangstemperatur. Für Warmblüter erschienen nun derartige Versuche, die zur Ermittlung des Tempcraturkoeffizienten der Lebensdauer führten, zunächst ohne praktische Be¬ deutung zu sein. Warmblüter sterben, wenn ihre Körpertemperatur unter bestimmte Wärmegrade hinab abgekühlt wird. Aus dem gleichen Grunde konnten auch bei Warmblütern, insbesondere beim Menschen, die Ergebnisse zunächst nicht fruchtbar gemacht werden, die bei anderen Organismen mit Einfrierungs- versuchen erzielt worden waren. Es hatte sich nämlich gezeigt, daß z. B. bei Fischen eine Temperatureruiedriguug bis auf Kältegrade möglich war, bei denen das Blut und alle Körpersäfte einfroren, ohne daß diese Prozedur tötlich wirkte. Die Fische können vielmehr unter gewissen Bedingungen durch jene Abkühlung in einen Zustand versetzt werden, in dem zwar alle Lebensfunktionen aufgehoben sind, in dem aber der Tod. das endgültige Erlöschen der Lebensfähigkeit, nicht eintritt. Es ist vielmehr möglich, jene Fische, und auch noch andere Versuchs¬ tiere, selbst nach langer Zeit noch aus jenem eigentümlichen Zwischenzustand zwischen Tod und Leben — man nannte ihn Anabiose — durch allmähliche vorsichtige Temperaturerhöhung wieder ins volle Leben zurückzurufen. Bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/338>, abgerufen am 29.12.2024.