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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

In Borküll ahnte man nichts von den Ereignissen der letzten Nacht.

Wolff Joachim wunderte sich am Morgen, daß die Dragoner sich nicht
sehen ließen, die er im Krug rastend getroffen hatte. Als er erfuhr, daß sie in
der Richtung nach Sternburg abgezogen seien, hatte er nur ein leichtes Bedauern
dafür. Das Zusammensein mit dem Kameraden wäre ihm eine angenehme Zer¬
streuung gewesen. Nun war er um einen Partner beim Kartenspiel gekommen.

"Ich werde auf Sternburg anrufen, ob da was los war." Selbst die
gestörte Verbindung erweckte ihm zunächst keine Bedenken: "Mit solchen Buben¬
streichen muß man rechnen!"

Da fiel ihm ein, was ihm der alte Wenkendorff auf die Seele gebunden
hatte. Er mußte ja heute Gericht halten.

Im Eßzimmer traf er mit Mara und dem Maler zusammen, die früher
als er aufgestanden waren. "Habt Ihr eigentlich niemals auf Carta Verdacht
gehabt?" fragte er die Schwester. "Auf Sternburg nennt man ihn als Täter.
Ich werde mir den Hallunken langen!"

"An Ihrer Stelle würde ich ihn mir durch Milde verpflichten!" sagte
Madelung. "Liebevolle Vorstellungen würden Ihnen die Herzen sicher bald zu¬
rückgewinnen."

"Eine großartige Idee!" Wolf Joachim schlug sich auf die Schenkel:
"Ich werde den Leuten eine Tute Bonbons versprechen, wenn sie artig sind!"

Mara lachte herzhaft auf.

Seit dem Spiritusbrand hatte der Maler bei ihr an Einfluß verloren, wie
fehr er sich auch um sie bemühte.

"Wir müssen ganz förmlich sein!" war ihre Forderung. "Die Familie ist
sowieso schon aus dem Häuschen -- wir wollen die Verwirrung nicht noch ver¬
mehren. Ich sage Ihnen dann später, wie es mir ums Herz ist, später, wenn
man wieder an sich selber denken darf."

Sie hatte tatsächlich keine Zeit zu Sentimentalitäten. Frau Pastor Tanne¬
baum hatte sich von dem Schrecken des Überfalls noch nicht erholt und konnte
sich nicht um ihre vielen Kinder kümmern. Mara nahm ihr die Ausgabe ab.
Auch die Mutter beanspruchte sie alle Augenblicke. Sie war nervöser und elender
denn je.

Der Maler nörgelte über solche Geschäftigkeit und benahm sich, wenn er
allein war, vertraulich wie ein richtiger Verlobter. Aber Mara kam täglich
mehr zu der Einsicht, daß ihre Phantasie in den Mann Eigenschaften hinein¬
gelegt hatte, die er nicht besaß, anderseits hatte sie in ihrem Verlangen nach
Verständnis über Schwächen hinweggesehen, die ihr jetzt unangenehm ausfielen.
Sie lehnte deshalb vor sich selber die Konsequenzen jenes Rauschzustandes in
des Malers Zimmer ab. Um so eigensinniger zog sie Madelung in den Kreis
seiner Überlegungen: "Wenn wir erst verheiratet sind!" war sein Lieblingswort.
"Du gehst mit mir nach Deutschland und wir legen dort den Grundstein zu
der künftigen idealen Gemeinschaft der neuen Menschen!"


Grenzboten III 1913 21
Sturm

In Borküll ahnte man nichts von den Ereignissen der letzten Nacht.

Wolff Joachim wunderte sich am Morgen, daß die Dragoner sich nicht
sehen ließen, die er im Krug rastend getroffen hatte. Als er erfuhr, daß sie in
der Richtung nach Sternburg abgezogen seien, hatte er nur ein leichtes Bedauern
dafür. Das Zusammensein mit dem Kameraden wäre ihm eine angenehme Zer¬
streuung gewesen. Nun war er um einen Partner beim Kartenspiel gekommen.

„Ich werde auf Sternburg anrufen, ob da was los war." Selbst die
gestörte Verbindung erweckte ihm zunächst keine Bedenken: „Mit solchen Buben¬
streichen muß man rechnen!"

Da fiel ihm ein, was ihm der alte Wenkendorff auf die Seele gebunden
hatte. Er mußte ja heute Gericht halten.

Im Eßzimmer traf er mit Mara und dem Maler zusammen, die früher
als er aufgestanden waren. „Habt Ihr eigentlich niemals auf Carta Verdacht
gehabt?" fragte er die Schwester. „Auf Sternburg nennt man ihn als Täter.
Ich werde mir den Hallunken langen!"

„An Ihrer Stelle würde ich ihn mir durch Milde verpflichten!" sagte
Madelung. „Liebevolle Vorstellungen würden Ihnen die Herzen sicher bald zu¬
rückgewinnen."

„Eine großartige Idee!" Wolf Joachim schlug sich auf die Schenkel:
„Ich werde den Leuten eine Tute Bonbons versprechen, wenn sie artig sind!"

Mara lachte herzhaft auf.

Seit dem Spiritusbrand hatte der Maler bei ihr an Einfluß verloren, wie
fehr er sich auch um sie bemühte.

„Wir müssen ganz förmlich sein!" war ihre Forderung. „Die Familie ist
sowieso schon aus dem Häuschen — wir wollen die Verwirrung nicht noch ver¬
mehren. Ich sage Ihnen dann später, wie es mir ums Herz ist, später, wenn
man wieder an sich selber denken darf."

Sie hatte tatsächlich keine Zeit zu Sentimentalitäten. Frau Pastor Tanne¬
baum hatte sich von dem Schrecken des Überfalls noch nicht erholt und konnte
sich nicht um ihre vielen Kinder kümmern. Mara nahm ihr die Ausgabe ab.
Auch die Mutter beanspruchte sie alle Augenblicke. Sie war nervöser und elender
denn je.

Der Maler nörgelte über solche Geschäftigkeit und benahm sich, wenn er
allein war, vertraulich wie ein richtiger Verlobter. Aber Mara kam täglich
mehr zu der Einsicht, daß ihre Phantasie in den Mann Eigenschaften hinein¬
gelegt hatte, die er nicht besaß, anderseits hatte sie in ihrem Verlangen nach
Verständnis über Schwächen hinweggesehen, die ihr jetzt unangenehm ausfielen.
Sie lehnte deshalb vor sich selber die Konsequenzen jenes Rauschzustandes in
des Malers Zimmer ab. Um so eigensinniger zog sie Madelung in den Kreis
seiner Überlegungen: „Wenn wir erst verheiratet sind!" war sein Lieblingswort.
„Du gehst mit mir nach Deutschland und wir legen dort den Grundstein zu
der künftigen idealen Gemeinschaft der neuen Menschen!"


Grenzboten III 1913 21
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[0333] Sturm In Borküll ahnte man nichts von den Ereignissen der letzten Nacht. Wolff Joachim wunderte sich am Morgen, daß die Dragoner sich nicht sehen ließen, die er im Krug rastend getroffen hatte. Als er erfuhr, daß sie in der Richtung nach Sternburg abgezogen seien, hatte er nur ein leichtes Bedauern dafür. Das Zusammensein mit dem Kameraden wäre ihm eine angenehme Zer¬ streuung gewesen. Nun war er um einen Partner beim Kartenspiel gekommen. „Ich werde auf Sternburg anrufen, ob da was los war." Selbst die gestörte Verbindung erweckte ihm zunächst keine Bedenken: „Mit solchen Buben¬ streichen muß man rechnen!" Da fiel ihm ein, was ihm der alte Wenkendorff auf die Seele gebunden hatte. Er mußte ja heute Gericht halten. Im Eßzimmer traf er mit Mara und dem Maler zusammen, die früher als er aufgestanden waren. „Habt Ihr eigentlich niemals auf Carta Verdacht gehabt?" fragte er die Schwester. „Auf Sternburg nennt man ihn als Täter. Ich werde mir den Hallunken langen!" „An Ihrer Stelle würde ich ihn mir durch Milde verpflichten!" sagte Madelung. „Liebevolle Vorstellungen würden Ihnen die Herzen sicher bald zu¬ rückgewinnen." „Eine großartige Idee!" Wolf Joachim schlug sich auf die Schenkel: „Ich werde den Leuten eine Tute Bonbons versprechen, wenn sie artig sind!" Mara lachte herzhaft auf. Seit dem Spiritusbrand hatte der Maler bei ihr an Einfluß verloren, wie fehr er sich auch um sie bemühte. „Wir müssen ganz förmlich sein!" war ihre Forderung. „Die Familie ist sowieso schon aus dem Häuschen — wir wollen die Verwirrung nicht noch ver¬ mehren. Ich sage Ihnen dann später, wie es mir ums Herz ist, später, wenn man wieder an sich selber denken darf." Sie hatte tatsächlich keine Zeit zu Sentimentalitäten. Frau Pastor Tanne¬ baum hatte sich von dem Schrecken des Überfalls noch nicht erholt und konnte sich nicht um ihre vielen Kinder kümmern. Mara nahm ihr die Ausgabe ab. Auch die Mutter beanspruchte sie alle Augenblicke. Sie war nervöser und elender denn je. Der Maler nörgelte über solche Geschäftigkeit und benahm sich, wenn er allein war, vertraulich wie ein richtiger Verlobter. Aber Mara kam täglich mehr zu der Einsicht, daß ihre Phantasie in den Mann Eigenschaften hinein¬ gelegt hatte, die er nicht besaß, anderseits hatte sie in ihrem Verlangen nach Verständnis über Schwächen hinweggesehen, die ihr jetzt unangenehm ausfielen. Sie lehnte deshalb vor sich selber die Konsequenzen jenes Rauschzustandes in des Malers Zimmer ab. Um so eigensinniger zog sie Madelung in den Kreis seiner Überlegungen: „Wenn wir erst verheiratet sind!" war sein Lieblingswort. „Du gehst mit mir nach Deutschland und wir legen dort den Grundstein zu der künftigen idealen Gemeinschaft der neuen Menschen!" Grenzboten III 1913 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/333>, abgerufen am 19.10.2024.