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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Zur neueren Wortkunst

Schwingen Nacht und Reif, die Lichter "erstaunen"; die Dämmerung "ent¬
taucht" silberhell dem Morgenhimmel, der Nebel "ummantelt" die bereiften
Bäume I Ähnlich sind: "eininseln, ausbuddeln" zu beurteilen; ich muß mich hier
darauf beschränken, nur die Bildungsweisen aufzuführen. Im Ausdruck verfehlt
sind dagegen: "herumrätseln, herumlüften ausschnüffeln), herumwurzeln".
Das gleiche ließe sich von der Mehrzahl der vielen Zusammensetzungen mit
ver- feststellen: "vernisten, verwiderlichen, verburren, verbinstert" u. a. Auch
die das Tätigkeitswort mit Eigenschaftsbenennungen und Hauptwortsbezeich¬
nungen verbindende Verstärkung über- (übersegnen, überhaupten, überhellen;
überschnell, überzart, übersüßlich; Äberkraft, Überhast, Überfarbenpracht" u. a.)
gehört einer gesteigerten sprachlichen Ausdrucksform an.

Der kurze Überblick über die hauptsächlichsten Eigenheiten des Sprach¬
reichtums Liliencrons läßt seine Bedeutung als Sprachkünstler ermessen. Es
hieße aber sein Verdienst um die Sprache verkennen, wollten wir nicht zum
Schlüsse noch einen Punkt hervorheben, der seine sprachschöpferische Begabung
in besonders Hellem Lichte zeigt, sein Bemühen um Fremdwortoerdcutschungen.
Von dieser Seite aus betrachtet ist er zugleich einer der deutschesten unter seinen
Zeitgenossen, und dies Streben entsprach so ganz seiner Natur. Allerdings,
widerspruchsvoll wie sein Charakter, oft von der Laune des Augenblicks be¬
herrscht, so zeigt sich auch seine Stellung dem Fremdwort gegenüber. Wohl
rühren eine ganze Menge wohlgelungener Übersetzungen von ihm her -- ich habe,
alles in allem, über drei Dutzend gezählt --, anderseits begegnen daneben in Prosa¬
werken und Gedichten ganz überflüssige Fremdwörter, die nicht als Stilmittel
gewollt sind und nicht als solche wirken sollen. Einigemal entschuldigt er sich
auch ausdrücklich wegen des Gebrauches des Fremdworts, wenn es ihm zu aus¬
drucksvoll erschien, als daß er es missen und durch ein deutsches ersetzen wollte.
Ich führe nur einige Übersetzungen als Proben an: "Beurteilungsbehörde" für
Jury, "Befehlsempfang" für Paroleausgabe, "Hungermangel" für Appetit¬
losigkeit, "Anteilinhaber" für Aktionär, "Leichenhochgestell" für Katafalk, "Minne-
göttchen" für Amoretten. --

Die Gesamtbeurteilung einer dichterischen Persönlichkeit wie Liliencron ist
keine leichte, weil die Gesamtwirkung seines Schaffens keine einheitliche ist. Aber
es kam ihm nicht so sehr auf das Was als auf das Wie an. Er war immer
bestrebt, seine Gedanken in künstlerisches Gewand zu kleiden. Hierin unter¬
scheidet er sich sehr zu seinem Vorteil von der Menge der Neueren. Vor Viel¬
schreiberei hätte ihn, selbst wenn ihm der Stoff immer aus der Feder geflossen
wäre, seine ängstliche Wachsamkeit um die sprachliche Form des Dargestellten
bewahrt. Als Sprachkünstler nimmt Liliencron unter all den Vertretern der
neueren Richtung entschieden den hervorragendsten Rang ein. Es ist eine wohl¬
tuende Beruhigung, aus der Masse der literarischen Produktion der letzten Jahr¬
zehnte eine Persönlichkeit auftauchen zu sehen, der es ebenso sehr auf die sprach¬
liche Darstellung des Gedankens als auf diesen selbst ankam.


Zur neueren Wortkunst

Schwingen Nacht und Reif, die Lichter „erstaunen"; die Dämmerung „ent¬
taucht" silberhell dem Morgenhimmel, der Nebel „ummantelt" die bereiften
Bäume I Ähnlich sind: „eininseln, ausbuddeln" zu beurteilen; ich muß mich hier
darauf beschränken, nur die Bildungsweisen aufzuführen. Im Ausdruck verfehlt
sind dagegen: „herumrätseln, herumlüften ausschnüffeln), herumwurzeln".
Das gleiche ließe sich von der Mehrzahl der vielen Zusammensetzungen mit
ver- feststellen: „vernisten, verwiderlichen, verburren, verbinstert" u. a. Auch
die das Tätigkeitswort mit Eigenschaftsbenennungen und Hauptwortsbezeich¬
nungen verbindende Verstärkung über- (übersegnen, überhaupten, überhellen;
überschnell, überzart, übersüßlich; Äberkraft, Überhast, Überfarbenpracht" u. a.)
gehört einer gesteigerten sprachlichen Ausdrucksform an.

Der kurze Überblick über die hauptsächlichsten Eigenheiten des Sprach¬
reichtums Liliencrons läßt seine Bedeutung als Sprachkünstler ermessen. Es
hieße aber sein Verdienst um die Sprache verkennen, wollten wir nicht zum
Schlüsse noch einen Punkt hervorheben, der seine sprachschöpferische Begabung
in besonders Hellem Lichte zeigt, sein Bemühen um Fremdwortoerdcutschungen.
Von dieser Seite aus betrachtet ist er zugleich einer der deutschesten unter seinen
Zeitgenossen, und dies Streben entsprach so ganz seiner Natur. Allerdings,
widerspruchsvoll wie sein Charakter, oft von der Laune des Augenblicks be¬
herrscht, so zeigt sich auch seine Stellung dem Fremdwort gegenüber. Wohl
rühren eine ganze Menge wohlgelungener Übersetzungen von ihm her — ich habe,
alles in allem, über drei Dutzend gezählt —, anderseits begegnen daneben in Prosa¬
werken und Gedichten ganz überflüssige Fremdwörter, die nicht als Stilmittel
gewollt sind und nicht als solche wirken sollen. Einigemal entschuldigt er sich
auch ausdrücklich wegen des Gebrauches des Fremdworts, wenn es ihm zu aus¬
drucksvoll erschien, als daß er es missen und durch ein deutsches ersetzen wollte.
Ich führe nur einige Übersetzungen als Proben an: „Beurteilungsbehörde" für
Jury, „Befehlsempfang" für Paroleausgabe, „Hungermangel" für Appetit¬
losigkeit, „Anteilinhaber" für Aktionär, „Leichenhochgestell" für Katafalk, „Minne-
göttchen" für Amoretten. —

Die Gesamtbeurteilung einer dichterischen Persönlichkeit wie Liliencron ist
keine leichte, weil die Gesamtwirkung seines Schaffens keine einheitliche ist. Aber
es kam ihm nicht so sehr auf das Was als auf das Wie an. Er war immer
bestrebt, seine Gedanken in künstlerisches Gewand zu kleiden. Hierin unter¬
scheidet er sich sehr zu seinem Vorteil von der Menge der Neueren. Vor Viel¬
schreiberei hätte ihn, selbst wenn ihm der Stoff immer aus der Feder geflossen
wäre, seine ängstliche Wachsamkeit um die sprachliche Form des Dargestellten
bewahrt. Als Sprachkünstler nimmt Liliencron unter all den Vertretern der
neueren Richtung entschieden den hervorragendsten Rang ein. Es ist eine wohl¬
tuende Beruhigung, aus der Masse der literarischen Produktion der letzten Jahr¬
zehnte eine Persönlichkeit auftauchen zu sehen, der es ebenso sehr auf die sprach¬
liche Darstellung des Gedankens als auf diesen selbst ankam.


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[0320] Zur neueren Wortkunst Schwingen Nacht und Reif, die Lichter „erstaunen"; die Dämmerung „ent¬ taucht" silberhell dem Morgenhimmel, der Nebel „ummantelt" die bereiften Bäume I Ähnlich sind: „eininseln, ausbuddeln" zu beurteilen; ich muß mich hier darauf beschränken, nur die Bildungsweisen aufzuführen. Im Ausdruck verfehlt sind dagegen: „herumrätseln, herumlüften ausschnüffeln), herumwurzeln". Das gleiche ließe sich von der Mehrzahl der vielen Zusammensetzungen mit ver- feststellen: „vernisten, verwiderlichen, verburren, verbinstert" u. a. Auch die das Tätigkeitswort mit Eigenschaftsbenennungen und Hauptwortsbezeich¬ nungen verbindende Verstärkung über- (übersegnen, überhaupten, überhellen; überschnell, überzart, übersüßlich; Äberkraft, Überhast, Überfarbenpracht" u. a.) gehört einer gesteigerten sprachlichen Ausdrucksform an. Der kurze Überblick über die hauptsächlichsten Eigenheiten des Sprach¬ reichtums Liliencrons läßt seine Bedeutung als Sprachkünstler ermessen. Es hieße aber sein Verdienst um die Sprache verkennen, wollten wir nicht zum Schlüsse noch einen Punkt hervorheben, der seine sprachschöpferische Begabung in besonders Hellem Lichte zeigt, sein Bemühen um Fremdwortoerdcutschungen. Von dieser Seite aus betrachtet ist er zugleich einer der deutschesten unter seinen Zeitgenossen, und dies Streben entsprach so ganz seiner Natur. Allerdings, widerspruchsvoll wie sein Charakter, oft von der Laune des Augenblicks be¬ herrscht, so zeigt sich auch seine Stellung dem Fremdwort gegenüber. Wohl rühren eine ganze Menge wohlgelungener Übersetzungen von ihm her — ich habe, alles in allem, über drei Dutzend gezählt —, anderseits begegnen daneben in Prosa¬ werken und Gedichten ganz überflüssige Fremdwörter, die nicht als Stilmittel gewollt sind und nicht als solche wirken sollen. Einigemal entschuldigt er sich auch ausdrücklich wegen des Gebrauches des Fremdworts, wenn es ihm zu aus¬ drucksvoll erschien, als daß er es missen und durch ein deutsches ersetzen wollte. Ich führe nur einige Übersetzungen als Proben an: „Beurteilungsbehörde" für Jury, „Befehlsempfang" für Paroleausgabe, „Hungermangel" für Appetit¬ losigkeit, „Anteilinhaber" für Aktionär, „Leichenhochgestell" für Katafalk, „Minne- göttchen" für Amoretten. — Die Gesamtbeurteilung einer dichterischen Persönlichkeit wie Liliencron ist keine leichte, weil die Gesamtwirkung seines Schaffens keine einheitliche ist. Aber es kam ihm nicht so sehr auf das Was als auf das Wie an. Er war immer bestrebt, seine Gedanken in künstlerisches Gewand zu kleiden. Hierin unter¬ scheidet er sich sehr zu seinem Vorteil von der Menge der Neueren. Vor Viel¬ schreiberei hätte ihn, selbst wenn ihm der Stoff immer aus der Feder geflossen wäre, seine ängstliche Wachsamkeit um die sprachliche Form des Dargestellten bewahrt. Als Sprachkünstler nimmt Liliencron unter all den Vertretern der neueren Richtung entschieden den hervorragendsten Rang ein. Es ist eine wohl¬ tuende Beruhigung, aus der Masse der literarischen Produktion der letzten Jahr¬ zehnte eine Persönlichkeit auftauchen zu sehen, der es ebenso sehr auf die sprach¬ liche Darstellung des Gedankens als auf diesen selbst ankam.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/320>, abgerufen am 28.12.2024.