Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Tragik der Kleinstadt in moderner Dichtung

durch hinterlistige Verdrängung eines Freundes, der zweite als Preis für die
Rettung ihres Vaters aus dem Bankrott. Daß Cordula Thoas schließlich doch
den gutmütigen Freund noch bekommt und Peter Luth sich am Schlüsse erschießt,
als er einsieht, daß seine Frau ihm nicht die volle Wahrheit gesagt hat, ist
ziemlich gleichgültig. Die Brutalität der Männer hat die Frauen doch gebrochen.
Geradezu abstoßend ist es, wie Momen als starrer Damenfreund (die Erzählung
spielt zum Teil im Jahre 1848) seine Frau zwingen will, ihren deutschgesinnten
Vater nicht zu warnen, als ihn die Dänen wegen Spionage arretieren wollen,
ebenso abstoßend ist die rohe Art, mit der Peter Luth seinen schüchternen
Schwiegervater anschnauzt. Beide Männer haben etwas krampfhaft Übersteigertes.
Waren Enkings frühere Gestalten allzusehr Amboß, so sind diese allzusehr
Hammer. Es scheint fast, als wären sie symbolische Personifikationen der
Brutalität des Daseins. Der Name "Lebensknecht" legt solche Deutung nahe:
Momen wird durch seine Brutalität zum "Lehensherrn". Oder versucht der
zartfühlende Erling ein aus der Verzweiflung geborenes Lebensideal aufzustellen,
wie einst Nietzsche seinen brutalen Übermenschen? Will er sagen: "Nur der
Brutale ist dem brutalen Leben gewachsen: deshalb sei brutal?" Für Momen
Lebensknecht wenigstens wäre diese Deutung berechtigt: er wird zum Lehens¬
herrn, indem er "der Liebe Macht entsagt". Daß aber Erling diese wilde
Weisheit wieder verworfen hat, zeigt sein ergreifendes letztes Werk "Matthias
Tedebus der Wandersmann" (1913). Dieser ehrenhafte Buchbindermeister ist
gar nicht brutal; er geht an seiner Güte zugrunde, die allen gerecht werden
möchte: der tyrannischen Großmutter seiner Frau, ihrer weinerlichen Mutter,
seiner Frau selbst, und siegreich bleibt der zähe, beschränkte Familiensinn der
Verwandtschaft seiner Frau, siegreich bleibt der Einfluß von deren früherem
Bräutigam, einem großsprecherischer Schwerenöter und Schwindler: seine Frau
läßt sich durch ihn zur Untreue verleiten, seine Tochter läßt sich von einem
verbummelten Halbgenie verführen, sein Enkel wird zum Diebe. Mit wie fröh¬
licher Hoffnung ist der junge Buchbinder einst in das Städtchen eingezogen!
Nun ist er in der flauen, verlogenen Stickluft des düsteren alten Hauses ein
verbitterter alter Mann geworden. Auch hier also wie in "Truges" die lastende
Macht des Milieus. Daß ihn der Anblick eines Kruzifixes vom Selbstmord
abhält, scheint anzudeuten, daß Enkings starrer Determinismus mit antireligiöser
Tendenz ins Wanken gekommen ist. Übrigens erscheint schon einmal in den
"Darnekowern" selbst die Religion des Kreuzes als letzter Trost eines Ver¬
zweifelten. Auch sein jetzt in der Vossischen Zeitung erscheinender Roman "Ar
Lütjohanns Mitleid mit Gott" zeigt Erling im Ringen mit religiösen Problemen.

Er wäre ja auch kein echter Holsteiner, wenn er dafür unempfänglich
wäre: die Leute dort oben sind von Natur "Spökenkieker" und Mystiker, und
Enkings bisher "erfochtener "Schicksalsglaube" hat sür ihn den tiefen und
ernsten Wert einer Religion gehabt, was man durchaus nicht von allen
Deterministen sagen kann.


Die Tragik der Kleinstadt in moderner Dichtung

durch hinterlistige Verdrängung eines Freundes, der zweite als Preis für die
Rettung ihres Vaters aus dem Bankrott. Daß Cordula Thoas schließlich doch
den gutmütigen Freund noch bekommt und Peter Luth sich am Schlüsse erschießt,
als er einsieht, daß seine Frau ihm nicht die volle Wahrheit gesagt hat, ist
ziemlich gleichgültig. Die Brutalität der Männer hat die Frauen doch gebrochen.
Geradezu abstoßend ist es, wie Momen als starrer Damenfreund (die Erzählung
spielt zum Teil im Jahre 1848) seine Frau zwingen will, ihren deutschgesinnten
Vater nicht zu warnen, als ihn die Dänen wegen Spionage arretieren wollen,
ebenso abstoßend ist die rohe Art, mit der Peter Luth seinen schüchternen
Schwiegervater anschnauzt. Beide Männer haben etwas krampfhaft Übersteigertes.
Waren Enkings frühere Gestalten allzusehr Amboß, so sind diese allzusehr
Hammer. Es scheint fast, als wären sie symbolische Personifikationen der
Brutalität des Daseins. Der Name „Lebensknecht" legt solche Deutung nahe:
Momen wird durch seine Brutalität zum „Lehensherrn". Oder versucht der
zartfühlende Erling ein aus der Verzweiflung geborenes Lebensideal aufzustellen,
wie einst Nietzsche seinen brutalen Übermenschen? Will er sagen: „Nur der
Brutale ist dem brutalen Leben gewachsen: deshalb sei brutal?" Für Momen
Lebensknecht wenigstens wäre diese Deutung berechtigt: er wird zum Lehens¬
herrn, indem er „der Liebe Macht entsagt". Daß aber Erling diese wilde
Weisheit wieder verworfen hat, zeigt sein ergreifendes letztes Werk „Matthias
Tedebus der Wandersmann" (1913). Dieser ehrenhafte Buchbindermeister ist
gar nicht brutal; er geht an seiner Güte zugrunde, die allen gerecht werden
möchte: der tyrannischen Großmutter seiner Frau, ihrer weinerlichen Mutter,
seiner Frau selbst, und siegreich bleibt der zähe, beschränkte Familiensinn der
Verwandtschaft seiner Frau, siegreich bleibt der Einfluß von deren früherem
Bräutigam, einem großsprecherischer Schwerenöter und Schwindler: seine Frau
läßt sich durch ihn zur Untreue verleiten, seine Tochter läßt sich von einem
verbummelten Halbgenie verführen, sein Enkel wird zum Diebe. Mit wie fröh¬
licher Hoffnung ist der junge Buchbinder einst in das Städtchen eingezogen!
Nun ist er in der flauen, verlogenen Stickluft des düsteren alten Hauses ein
verbitterter alter Mann geworden. Auch hier also wie in „Truges" die lastende
Macht des Milieus. Daß ihn der Anblick eines Kruzifixes vom Selbstmord
abhält, scheint anzudeuten, daß Enkings starrer Determinismus mit antireligiöser
Tendenz ins Wanken gekommen ist. Übrigens erscheint schon einmal in den
„Darnekowern" selbst die Religion des Kreuzes als letzter Trost eines Ver¬
zweifelten. Auch sein jetzt in der Vossischen Zeitung erscheinender Roman „Ar
Lütjohanns Mitleid mit Gott" zeigt Erling im Ringen mit religiösen Problemen.

Er wäre ja auch kein echter Holsteiner, wenn er dafür unempfänglich
wäre: die Leute dort oben sind von Natur „Spökenkieker" und Mystiker, und
Enkings bisher «erfochtener „Schicksalsglaube" hat sür ihn den tiefen und
ernsten Wert einer Religion gehabt, was man durchaus nicht von allen
Deterministen sagen kann.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326202"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Tragik der Kleinstadt in moderner Dichtung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_70" prev="#ID_69"> durch hinterlistige Verdrängung eines Freundes, der zweite als Preis für die<lb/>
Rettung ihres Vaters aus dem Bankrott. Daß Cordula Thoas schließlich doch<lb/>
den gutmütigen Freund noch bekommt und Peter Luth sich am Schlüsse erschießt,<lb/>
als er einsieht, daß seine Frau ihm nicht die volle Wahrheit gesagt hat, ist<lb/>
ziemlich gleichgültig. Die Brutalität der Männer hat die Frauen doch gebrochen.<lb/>
Geradezu abstoßend ist es, wie Momen als starrer Damenfreund (die Erzählung<lb/>
spielt zum Teil im Jahre 1848) seine Frau zwingen will, ihren deutschgesinnten<lb/>
Vater nicht zu warnen, als ihn die Dänen wegen Spionage arretieren wollen,<lb/>
ebenso abstoßend ist die rohe Art, mit der Peter Luth seinen schüchternen<lb/>
Schwiegervater anschnauzt. Beide Männer haben etwas krampfhaft Übersteigertes.<lb/>
Waren Enkings frühere Gestalten allzusehr Amboß, so sind diese allzusehr<lb/>
Hammer. Es scheint fast, als wären sie symbolische Personifikationen der<lb/>
Brutalität des Daseins. Der Name &#x201E;Lebensknecht" legt solche Deutung nahe:<lb/>
Momen wird durch seine Brutalität zum &#x201E;Lehensherrn". Oder versucht der<lb/>
zartfühlende Erling ein aus der Verzweiflung geborenes Lebensideal aufzustellen,<lb/>
wie einst Nietzsche seinen brutalen Übermenschen? Will er sagen: &#x201E;Nur der<lb/>
Brutale ist dem brutalen Leben gewachsen: deshalb sei brutal?" Für Momen<lb/>
Lebensknecht wenigstens wäre diese Deutung berechtigt: er wird zum Lehens¬<lb/>
herrn, indem er &#x201E;der Liebe Macht entsagt". Daß aber Erling diese wilde<lb/>
Weisheit wieder verworfen hat, zeigt sein ergreifendes letztes Werk &#x201E;Matthias<lb/>
Tedebus der Wandersmann" (1913). Dieser ehrenhafte Buchbindermeister ist<lb/>
gar nicht brutal; er geht an seiner Güte zugrunde, die allen gerecht werden<lb/>
möchte: der tyrannischen Großmutter seiner Frau, ihrer weinerlichen Mutter,<lb/>
seiner Frau selbst, und siegreich bleibt der zähe, beschränkte Familiensinn der<lb/>
Verwandtschaft seiner Frau, siegreich bleibt der Einfluß von deren früherem<lb/>
Bräutigam, einem großsprecherischer Schwerenöter und Schwindler: seine Frau<lb/>
läßt sich durch ihn zur Untreue verleiten, seine Tochter läßt sich von einem<lb/>
verbummelten Halbgenie verführen, sein Enkel wird zum Diebe. Mit wie fröh¬<lb/>
licher Hoffnung ist der junge Buchbinder einst in das Städtchen eingezogen!<lb/>
Nun ist er in der flauen, verlogenen Stickluft des düsteren alten Hauses ein<lb/>
verbitterter alter Mann geworden. Auch hier also wie in &#x201E;Truges" die lastende<lb/>
Macht des Milieus. Daß ihn der Anblick eines Kruzifixes vom Selbstmord<lb/>
abhält, scheint anzudeuten, daß Enkings starrer Determinismus mit antireligiöser<lb/>
Tendenz ins Wanken gekommen ist. Übrigens erscheint schon einmal in den<lb/>
&#x201E;Darnekowern" selbst die Religion des Kreuzes als letzter Trost eines Ver¬<lb/>
zweifelten. Auch sein jetzt in der Vossischen Zeitung erscheinender Roman &#x201E;Ar<lb/>
Lütjohanns Mitleid mit Gott" zeigt Erling im Ringen mit religiösen Problemen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_71"> Er wäre ja auch kein echter Holsteiner, wenn er dafür unempfänglich<lb/>
wäre: die Leute dort oben sind von Natur &#x201E;Spökenkieker" und Mystiker, und<lb/>
Enkings bisher «erfochtener &#x201E;Schicksalsglaube" hat sür ihn den tiefen und<lb/>
ernsten Wert einer Religion gehabt, was man durchaus nicht von allen<lb/>
Deterministen sagen kann.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] Die Tragik der Kleinstadt in moderner Dichtung durch hinterlistige Verdrängung eines Freundes, der zweite als Preis für die Rettung ihres Vaters aus dem Bankrott. Daß Cordula Thoas schließlich doch den gutmütigen Freund noch bekommt und Peter Luth sich am Schlüsse erschießt, als er einsieht, daß seine Frau ihm nicht die volle Wahrheit gesagt hat, ist ziemlich gleichgültig. Die Brutalität der Männer hat die Frauen doch gebrochen. Geradezu abstoßend ist es, wie Momen als starrer Damenfreund (die Erzählung spielt zum Teil im Jahre 1848) seine Frau zwingen will, ihren deutschgesinnten Vater nicht zu warnen, als ihn die Dänen wegen Spionage arretieren wollen, ebenso abstoßend ist die rohe Art, mit der Peter Luth seinen schüchternen Schwiegervater anschnauzt. Beide Männer haben etwas krampfhaft Übersteigertes. Waren Enkings frühere Gestalten allzusehr Amboß, so sind diese allzusehr Hammer. Es scheint fast, als wären sie symbolische Personifikationen der Brutalität des Daseins. Der Name „Lebensknecht" legt solche Deutung nahe: Momen wird durch seine Brutalität zum „Lehensherrn". Oder versucht der zartfühlende Erling ein aus der Verzweiflung geborenes Lebensideal aufzustellen, wie einst Nietzsche seinen brutalen Übermenschen? Will er sagen: „Nur der Brutale ist dem brutalen Leben gewachsen: deshalb sei brutal?" Für Momen Lebensknecht wenigstens wäre diese Deutung berechtigt: er wird zum Lehens¬ herrn, indem er „der Liebe Macht entsagt". Daß aber Erling diese wilde Weisheit wieder verworfen hat, zeigt sein ergreifendes letztes Werk „Matthias Tedebus der Wandersmann" (1913). Dieser ehrenhafte Buchbindermeister ist gar nicht brutal; er geht an seiner Güte zugrunde, die allen gerecht werden möchte: der tyrannischen Großmutter seiner Frau, ihrer weinerlichen Mutter, seiner Frau selbst, und siegreich bleibt der zähe, beschränkte Familiensinn der Verwandtschaft seiner Frau, siegreich bleibt der Einfluß von deren früherem Bräutigam, einem großsprecherischer Schwerenöter und Schwindler: seine Frau läßt sich durch ihn zur Untreue verleiten, seine Tochter läßt sich von einem verbummelten Halbgenie verführen, sein Enkel wird zum Diebe. Mit wie fröh¬ licher Hoffnung ist der junge Buchbinder einst in das Städtchen eingezogen! Nun ist er in der flauen, verlogenen Stickluft des düsteren alten Hauses ein verbitterter alter Mann geworden. Auch hier also wie in „Truges" die lastende Macht des Milieus. Daß ihn der Anblick eines Kruzifixes vom Selbstmord abhält, scheint anzudeuten, daß Enkings starrer Determinismus mit antireligiöser Tendenz ins Wanken gekommen ist. Übrigens erscheint schon einmal in den „Darnekowern" selbst die Religion des Kreuzes als letzter Trost eines Ver¬ zweifelten. Auch sein jetzt in der Vossischen Zeitung erscheinender Roman „Ar Lütjohanns Mitleid mit Gott" zeigt Erling im Ringen mit religiösen Problemen. Er wäre ja auch kein echter Holsteiner, wenn er dafür unempfänglich wäre: die Leute dort oben sind von Natur „Spökenkieker" und Mystiker, und Enkings bisher «erfochtener „Schicksalsglaube" hat sür ihn den tiefen und ernsten Wert einer Religion gehabt, was man durchaus nicht von allen Deterministen sagen kann.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/32>, abgerufen am 28.12.2024.