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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Tragik der Kleinstadt in moderner Dichtung

umgekehrten Fall, daß Eltern unter dem Leichtsinn der Tochter beinahe zugrunde
gehen, hat er nur einmal in der Komödie "Das Kind" gestaltet. O, P. C. Behm
ist kein schlechter Mann, er hält sich sogar sür einen besonders nützlichen Bürger,
dieser "Klein Pappa". wie ihn seine Frau, die Halbdänin Bolette, nennt: will
er doch Koggenstedt zum Kriegshafen erheben und macht seit Jahren Auszüge
aus der "Koggenstedter Chronik", um Seiner Majestät die frühere Bedeutung
des Städtchens klar zu machen. Auch "Klein Mamma" ist eine gute Frau,
und der Sohn Bernhard, der ein Pöstchen an der Post mit weihevollen Stolz
bekleidet -- darin verwandt mit Nis Nielsen und Heine Stölting --, ist
eigentlich ein Prachtmensch, ein bißchen renommistisch und paschamäßig erhaben,
wenn er aus seinem weltbedeutenden Dienst heimkommt, aber doch so gut! So
hat es auch Anna Behm, die Tochter, jahrelang empfunden -- bis der junge
Arzt Dr. Körting kommt! Auf dem Eise lernt sie ihn kennen. Nichts Köstlicheres
als die Winterfrische der ersten Begegnungen auf dem zugefrorenen Hafen. Eine
zarte Liebesblüte will sich erschließen. Körting macht einen wunderschönen Aus¬
flug mit ihr. Soweit ist die Erzählung herzerquickend wie frisch gerodete Wangen
junger Mädchen beim Schlittschuhlaufen. Aber Koggenstedt lauert! Allein
spazieren gehen! Das kann nur durch eine Verlobung wieder gut gemacht
werden. So denken die Koggenstedter, und so denkt natürlich auch Familie
P. C. Behm. Die dumpfe Luft kleinstädtischer Ehrbarkeit legt sich erstickend
auf die eben noch so frisch atmende Lunge Anna Behuf. Dr. Körting wird ein¬
geladen. Es soll geben: "Bismarckheringe, Zigarren zu sechs Pfennig, von der
kleinen, eckigen Sorte, Salvatorbräu aus der Koggenstedter Aktienbrauerei und
zu nachher Gelatinepudding mit süßem Rahm oder mit Saft, das wußte Frau
Behm noch nicht, und Brief an den Kaiser. Derartig fein hatte er es gewiß
noch keinen Abend gehabt." Natürlich fühlt sich der gebildete Körting bei den
stumpfsinnigen Leuten schrecklich unbehaglich. Dieses "Verlobungsmahl" ist wohl
die Krone Enkingscher Kunst. Man muß lachen, wenn es auch zum Weinen
ist. Es ist ein grausiger Humor darin. Körting freilich findet gar keinen:
er flüchtet aus Koggenstedt. Und nun ist die Sonne aus Annas Leben weg.
Halb unbewußt läßt sie sich noch zu zwei Heiraten drängen, mit einem widerlichen
Frömmler, der mit der Ladenkasse durchbrennt, und mit einem schwindsüchtiger
Zimmerherrn. Endlich stürzt sie sich aus dem Fenster, findet aber nicht den
Tod, sondern bricht nur das Bein. Die salbungsvollen Tröstungen des Pastors
weist sie hart zurück. Jahrelang wird das einst so anmutige, frische Mädchen
mit ihrem Holzbein über das schlechte Pflaster Koggenstedts humpeln. "Dump,
dump, dumpe, dump" sagte das Holzbein." Und die alte Ladenklingel wird
weiter "launet, lamme!" sagen und die Turmuhr "Klürr -- re, klunn -- re"
und die Hausuhr "scheel -- scheel -- scheel". Arme Anna Behm! -- Wer hat
schuld? Niemand! Denn kann man den alten Behuf vorwerfen, daß sie in
ihrer Beschränktheit ihr Kleinbürgerdasein für das einzig berechtigte halten?
Das Schicksal allein ist schuld, weil es Anna in diese Umgebung warf: Koggenstedt


Die Tragik der Kleinstadt in moderner Dichtung

umgekehrten Fall, daß Eltern unter dem Leichtsinn der Tochter beinahe zugrunde
gehen, hat er nur einmal in der Komödie „Das Kind" gestaltet. O, P. C. Behm
ist kein schlechter Mann, er hält sich sogar sür einen besonders nützlichen Bürger,
dieser „Klein Pappa". wie ihn seine Frau, die Halbdänin Bolette, nennt: will
er doch Koggenstedt zum Kriegshafen erheben und macht seit Jahren Auszüge
aus der „Koggenstedter Chronik", um Seiner Majestät die frühere Bedeutung
des Städtchens klar zu machen. Auch „Klein Mamma" ist eine gute Frau,
und der Sohn Bernhard, der ein Pöstchen an der Post mit weihevollen Stolz
bekleidet — darin verwandt mit Nis Nielsen und Heine Stölting —, ist
eigentlich ein Prachtmensch, ein bißchen renommistisch und paschamäßig erhaben,
wenn er aus seinem weltbedeutenden Dienst heimkommt, aber doch so gut! So
hat es auch Anna Behm, die Tochter, jahrelang empfunden — bis der junge
Arzt Dr. Körting kommt! Auf dem Eise lernt sie ihn kennen. Nichts Köstlicheres
als die Winterfrische der ersten Begegnungen auf dem zugefrorenen Hafen. Eine
zarte Liebesblüte will sich erschließen. Körting macht einen wunderschönen Aus¬
flug mit ihr. Soweit ist die Erzählung herzerquickend wie frisch gerodete Wangen
junger Mädchen beim Schlittschuhlaufen. Aber Koggenstedt lauert! Allein
spazieren gehen! Das kann nur durch eine Verlobung wieder gut gemacht
werden. So denken die Koggenstedter, und so denkt natürlich auch Familie
P. C. Behm. Die dumpfe Luft kleinstädtischer Ehrbarkeit legt sich erstickend
auf die eben noch so frisch atmende Lunge Anna Behuf. Dr. Körting wird ein¬
geladen. Es soll geben: „Bismarckheringe, Zigarren zu sechs Pfennig, von der
kleinen, eckigen Sorte, Salvatorbräu aus der Koggenstedter Aktienbrauerei und
zu nachher Gelatinepudding mit süßem Rahm oder mit Saft, das wußte Frau
Behm noch nicht, und Brief an den Kaiser. Derartig fein hatte er es gewiß
noch keinen Abend gehabt." Natürlich fühlt sich der gebildete Körting bei den
stumpfsinnigen Leuten schrecklich unbehaglich. Dieses „Verlobungsmahl" ist wohl
die Krone Enkingscher Kunst. Man muß lachen, wenn es auch zum Weinen
ist. Es ist ein grausiger Humor darin. Körting freilich findet gar keinen:
er flüchtet aus Koggenstedt. Und nun ist die Sonne aus Annas Leben weg.
Halb unbewußt läßt sie sich noch zu zwei Heiraten drängen, mit einem widerlichen
Frömmler, der mit der Ladenkasse durchbrennt, und mit einem schwindsüchtiger
Zimmerherrn. Endlich stürzt sie sich aus dem Fenster, findet aber nicht den
Tod, sondern bricht nur das Bein. Die salbungsvollen Tröstungen des Pastors
weist sie hart zurück. Jahrelang wird das einst so anmutige, frische Mädchen
mit ihrem Holzbein über das schlechte Pflaster Koggenstedts humpeln. „Dump,
dump, dumpe, dump" sagte das Holzbein." Und die alte Ladenklingel wird
weiter „launet, lamme!" sagen und die Turmuhr „Klürr — re, klunn — re"
und die Hausuhr „scheel — scheel — scheel". Arme Anna Behm! — Wer hat
schuld? Niemand! Denn kann man den alten Behuf vorwerfen, daß sie in
ihrer Beschränktheit ihr Kleinbürgerdasein für das einzig berechtigte halten?
Das Schicksal allein ist schuld, weil es Anna in diese Umgebung warf: Koggenstedt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/30>, abgerufen am 28.12.2024.