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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Dutzenddramatiker) und in der Brahmschen
Bühne eine glänzende, wenn auch überspezia¬
lisierte Entwicklung der Bühnenkunst. Gold¬
mann geht aber wohlweislich in seiner Kritik
an dem Hauptmann des Sonnenaufganges
vorbei, beschränkt sich darauf, die Werke der
letzten acht Jahre zu zerfetzen. Und verfährt
ebenso vorsichtig mit den übrigen markanten
Vertretern des deutschen Naturalismus.

Entkleidet man aber seine herben Kritiken
der Übertreibungen und der Einseitigkeiten,
die auch ihm in die Feder geflossen sind, so
bleibt ein Rest, der wie gesagt, sehr nach¬
denklich stimmt. Ist es nicht am Ende Zeit,
zu bekennen, daß auf diesem Gebiete eine
Entwicklung -- nicht nur in technischer Hin¬
sicht -- zu ihrem Abschlüsse gediehen ist, daß
wir mit Ernst und Liebe andere Felder be¬
bauen müssen, sollen wir nicht schließlich taube
Früchte ernten?

Was Goldmann dann über die Entartung
der Schauspielkunst unter dem Einfluß dieses
Naturalismus sagt, ist richtig und wieder nicht
richtig. Gewiß, das naturalistische Spiel in
allen seinen Konsequenzen auf andere Werke

[Spaltenumbruch]

übertragen, heißt diese Werke vergewaltigen.
Aber man soll doch nicht vergessen, daß die
große Bewegung von vor bald dreißig Jahren
auch hier mit mancher Lächerlichkeit, manchem
Schlendrian, mancher Theatermumie auf¬
geräumt hat (auch in der Technik des
Sprechens I). Man soll es doch einmal ver¬
suchen, uns Goethe heute in der Fassung zu
geben, wie er vor vierzig Jahren offenbar in
der Burg gegeben worden ist. Wir würden
den Wirkungen des Naturalismus auf unser
Bühnenspiel Wohl sehr viel gerechter werdenI
schädigen anderseits auf die Dauer Ibsen
und Hauptmann die Kunst, klassische Werke
zu spielen, so werden wir uns eben auch hier
(wie auf allen Gebieten) spezialisieren und
Goethe und Ibsen auf verschiedenen Bühnen
und mit verschiedenem Personal spielen müssen.

Ganz unzulänglich ist das Buch da, wo
es ausschließlich Bühnenfragen behandelt.
Man braucht gewiß nicht einer der viel zu
vielen zu sein, die in allen Einzelheiten auf
Reinhardt schwören. Ihn aber einfach als
Snob abzutun, ist heute lächerlich. Herr
Goldmann ärgert sich darüber, daß Reinhard

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Dutzenddramatiker) und in der Brahmschen
Bühne eine glänzende, wenn auch überspezia¬
lisierte Entwicklung der Bühnenkunst. Gold¬
mann geht aber wohlweislich in seiner Kritik
an dem Hauptmann des Sonnenaufganges
vorbei, beschränkt sich darauf, die Werke der
letzten acht Jahre zu zerfetzen. Und verfährt
ebenso vorsichtig mit den übrigen markanten
Vertretern des deutschen Naturalismus.

Entkleidet man aber seine herben Kritiken
der Übertreibungen und der Einseitigkeiten,
die auch ihm in die Feder geflossen sind, so
bleibt ein Rest, der wie gesagt, sehr nach¬
denklich stimmt. Ist es nicht am Ende Zeit,
zu bekennen, daß auf diesem Gebiete eine
Entwicklung — nicht nur in technischer Hin¬
sicht — zu ihrem Abschlüsse gediehen ist, daß
wir mit Ernst und Liebe andere Felder be¬
bauen müssen, sollen wir nicht schließlich taube
Früchte ernten?

Was Goldmann dann über die Entartung
der Schauspielkunst unter dem Einfluß dieses
Naturalismus sagt, ist richtig und wieder nicht
richtig. Gewiß, das naturalistische Spiel in
allen seinen Konsequenzen auf andere Werke

[Spaltenumbruch]

übertragen, heißt diese Werke vergewaltigen.
Aber man soll doch nicht vergessen, daß die
große Bewegung von vor bald dreißig Jahren
auch hier mit mancher Lächerlichkeit, manchem
Schlendrian, mancher Theatermumie auf¬
geräumt hat (auch in der Technik des
Sprechens I). Man soll es doch einmal ver¬
suchen, uns Goethe heute in der Fassung zu
geben, wie er vor vierzig Jahren offenbar in
der Burg gegeben worden ist. Wir würden
den Wirkungen des Naturalismus auf unser
Bühnenspiel Wohl sehr viel gerechter werdenI
schädigen anderseits auf die Dauer Ibsen
und Hauptmann die Kunst, klassische Werke
zu spielen, so werden wir uns eben auch hier
(wie auf allen Gebieten) spezialisieren und
Goethe und Ibsen auf verschiedenen Bühnen
und mit verschiedenem Personal spielen müssen.

Ganz unzulänglich ist das Buch da, wo
es ausschließlich Bühnenfragen behandelt.
Man braucht gewiß nicht einer der viel zu
vielen zu sein, die in allen Einzelheiten auf
Reinhardt schwören. Ihn aber einfach als
Snob abzutun, ist heute lächerlich. Herr
Goldmann ärgert sich darüber, daß Reinhard

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[0299] Maßgebliches und Unmaßgebliches Dutzenddramatiker) und in der Brahmschen Bühne eine glänzende, wenn auch überspezia¬ lisierte Entwicklung der Bühnenkunst. Gold¬ mann geht aber wohlweislich in seiner Kritik an dem Hauptmann des Sonnenaufganges vorbei, beschränkt sich darauf, die Werke der letzten acht Jahre zu zerfetzen. Und verfährt ebenso vorsichtig mit den übrigen markanten Vertretern des deutschen Naturalismus. Entkleidet man aber seine herben Kritiken der Übertreibungen und der Einseitigkeiten, die auch ihm in die Feder geflossen sind, so bleibt ein Rest, der wie gesagt, sehr nach¬ denklich stimmt. Ist es nicht am Ende Zeit, zu bekennen, daß auf diesem Gebiete eine Entwicklung — nicht nur in technischer Hin¬ sicht — zu ihrem Abschlüsse gediehen ist, daß wir mit Ernst und Liebe andere Felder be¬ bauen müssen, sollen wir nicht schließlich taube Früchte ernten? Was Goldmann dann über die Entartung der Schauspielkunst unter dem Einfluß dieses Naturalismus sagt, ist richtig und wieder nicht richtig. Gewiß, das naturalistische Spiel in allen seinen Konsequenzen auf andere Werke übertragen, heißt diese Werke vergewaltigen. Aber man soll doch nicht vergessen, daß die große Bewegung von vor bald dreißig Jahren auch hier mit mancher Lächerlichkeit, manchem Schlendrian, mancher Theatermumie auf¬ geräumt hat (auch in der Technik des Sprechens I). Man soll es doch einmal ver¬ suchen, uns Goethe heute in der Fassung zu geben, wie er vor vierzig Jahren offenbar in der Burg gegeben worden ist. Wir würden den Wirkungen des Naturalismus auf unser Bühnenspiel Wohl sehr viel gerechter werdenI schädigen anderseits auf die Dauer Ibsen und Hauptmann die Kunst, klassische Werke zu spielen, so werden wir uns eben auch hier (wie auf allen Gebieten) spezialisieren und Goethe und Ibsen auf verschiedenen Bühnen und mit verschiedenem Personal spielen müssen. Ganz unzulänglich ist das Buch da, wo es ausschließlich Bühnenfragen behandelt. Man braucht gewiß nicht einer der viel zu vielen zu sein, die in allen Einzelheiten auf Reinhardt schwören. Ihn aber einfach als Snob abzutun, ist heute lächerlich. Herr Goldmann ärgert sich darüber, daß Reinhard

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/299>, abgerufen am 19.10.2024.