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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

Der rote Reiter bewegte feinen Schimmel im Schritt und schien mit seiner
Mannschaft zu reden. In dichten Schwaden qualmten die Fackeln, und drohend
blitzten die Läufe der Gewehre.

"Evi ist nicht drunter!" rief Sandberg zurück. "Ich glaube -- ich hoffe:
sie hat sich versteckt. Nein, nein, sie kann nicht tot sein. Sie wartet sicher
irgendwo, in einer Scheune, im Gewächshaus . . ."

Die Schwestern rangen die Hände.

"Ruhig, ihr Mädchen!" sagte der Vater. "Es wird schon alles gut werden.
Jedenfalls haben die draußen nichts von Evi gesehen, sonst würden sie es gesagt
haben. Und Schüsse ins Dunkel treffen nicht so leicht!"

In seinem Herzen aber zitterte er nicht weniger um seinen Liebling und sah
ihn irgendwo hilflos verbluten.

Die halbe Stunde war noch nicht herum, da mußte Sandberg die zwanzig
Gewehre zusammensuchen, die ausgeliefert werden sollten. Er holte sie aus Evis
Waffenkammer, und ein Schluchzen schüttelte die kräftige Gestalt bei dem Ge¬
danken an seine verlorene kleine Wildkatze, die noch am Vormittag mit soviel
Eifer an den Gewehren herumhantiert hatte.

Zwei große Bündel schleppte er zum Tor hinaus. Da brach ein Triumph¬
geheul los. Doch der rote Reiter erhob beschwichtigend die Hand. Als es still
geworden war, fing Sandberg an:

"Hier sind die zwanzig Gewehre. Hier der Schlüssel zum Spritzenhaus.
Herr Baron von der Borke aber ist nicht auf Sternburg!"

"Er lügt!" schrie jemand. "KM hat ihn gesehen, den Mörder! Er hat
und Kalk gesprochen! Sie wollen ihn bloß nicht preisgeben. Durchsucht das Haus!"

In dem wüsten Durcheinander von Stimmen konnte sich der Führer
nur mit Mühe verständlich machen. "Der Baron soll kommen -- dem wollen
wir glauben!"

Herr von Wenkendorff trat hinaus und fragte: "Seid Ihr immer noch
nicht zufrieden?"

"Wir wollen den Borküller Mordbaron!" brüllten die Leute.

"Ich kenne keinen Mordbaron!" sagte der Freiherr mit fester Stimme.

"Hoho! Fragt den alten Tommingas, wer seinen Brudersohn in Reval
totgeschlagen hat. Und die Maja hat er niedergeknallt und hat die Kosaken
auf die Arbeiter gehetzt . . . Wenn Ihr ihn nicht freiwillig gebt, dann holen
wir ihn!"

Ein Dutzend der schwarzen Gestalten stürmte, die Gewehre schwingend, die
Freitreppe hinan. Aber an der lebendigen Mauer der Junker, die hinter dem
Freiherrn aus der Tür traten, prallten sie zurück. Ohne Waffen, versperrten
sie den Zugang zum Schloß -- stumm und gelassen.

"Zurück!" befahl der rote Reiter. "Ich rede mit dem Baron!" Und zum
Freiherrn gewandt: "Geben Sie uns Ihr Ehrenwort, daß Baron Wolff Joachim
von der Borke nicht in Ihrem Hause ist?"


Grenzboten III 1913 Is
Sturm

Der rote Reiter bewegte feinen Schimmel im Schritt und schien mit seiner
Mannschaft zu reden. In dichten Schwaden qualmten die Fackeln, und drohend
blitzten die Läufe der Gewehre.

„Evi ist nicht drunter!" rief Sandberg zurück. „Ich glaube — ich hoffe:
sie hat sich versteckt. Nein, nein, sie kann nicht tot sein. Sie wartet sicher
irgendwo, in einer Scheune, im Gewächshaus . . ."

Die Schwestern rangen die Hände.

„Ruhig, ihr Mädchen!" sagte der Vater. „Es wird schon alles gut werden.
Jedenfalls haben die draußen nichts von Evi gesehen, sonst würden sie es gesagt
haben. Und Schüsse ins Dunkel treffen nicht so leicht!"

In seinem Herzen aber zitterte er nicht weniger um seinen Liebling und sah
ihn irgendwo hilflos verbluten.

Die halbe Stunde war noch nicht herum, da mußte Sandberg die zwanzig
Gewehre zusammensuchen, die ausgeliefert werden sollten. Er holte sie aus Evis
Waffenkammer, und ein Schluchzen schüttelte die kräftige Gestalt bei dem Ge¬
danken an seine verlorene kleine Wildkatze, die noch am Vormittag mit soviel
Eifer an den Gewehren herumhantiert hatte.

Zwei große Bündel schleppte er zum Tor hinaus. Da brach ein Triumph¬
geheul los. Doch der rote Reiter erhob beschwichtigend die Hand. Als es still
geworden war, fing Sandberg an:

„Hier sind die zwanzig Gewehre. Hier der Schlüssel zum Spritzenhaus.
Herr Baron von der Borke aber ist nicht auf Sternburg!"

„Er lügt!" schrie jemand. „KM hat ihn gesehen, den Mörder! Er hat
und Kalk gesprochen! Sie wollen ihn bloß nicht preisgeben. Durchsucht das Haus!"

In dem wüsten Durcheinander von Stimmen konnte sich der Führer
nur mit Mühe verständlich machen. „Der Baron soll kommen — dem wollen
wir glauben!"

Herr von Wenkendorff trat hinaus und fragte: „Seid Ihr immer noch
nicht zufrieden?"

„Wir wollen den Borküller Mordbaron!" brüllten die Leute.

„Ich kenne keinen Mordbaron!" sagte der Freiherr mit fester Stimme.

„Hoho! Fragt den alten Tommingas, wer seinen Brudersohn in Reval
totgeschlagen hat. Und die Maja hat er niedergeknallt und hat die Kosaken
auf die Arbeiter gehetzt . . . Wenn Ihr ihn nicht freiwillig gebt, dann holen
wir ihn!"

Ein Dutzend der schwarzen Gestalten stürmte, die Gewehre schwingend, die
Freitreppe hinan. Aber an der lebendigen Mauer der Junker, die hinter dem
Freiherrn aus der Tür traten, prallten sie zurück. Ohne Waffen, versperrten
sie den Zugang zum Schloß — stumm und gelassen.

„Zurück!" befahl der rote Reiter. „Ich rede mit dem Baron!" Und zum
Freiherrn gewandt: „Geben Sie uns Ihr Ehrenwort, daß Baron Wolff Joachim
von der Borke nicht in Ihrem Hause ist?"


Grenzboten III 1913 Is
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[0285] Sturm Der rote Reiter bewegte feinen Schimmel im Schritt und schien mit seiner Mannschaft zu reden. In dichten Schwaden qualmten die Fackeln, und drohend blitzten die Läufe der Gewehre. „Evi ist nicht drunter!" rief Sandberg zurück. „Ich glaube — ich hoffe: sie hat sich versteckt. Nein, nein, sie kann nicht tot sein. Sie wartet sicher irgendwo, in einer Scheune, im Gewächshaus . . ." Die Schwestern rangen die Hände. „Ruhig, ihr Mädchen!" sagte der Vater. „Es wird schon alles gut werden. Jedenfalls haben die draußen nichts von Evi gesehen, sonst würden sie es gesagt haben. Und Schüsse ins Dunkel treffen nicht so leicht!" In seinem Herzen aber zitterte er nicht weniger um seinen Liebling und sah ihn irgendwo hilflos verbluten. Die halbe Stunde war noch nicht herum, da mußte Sandberg die zwanzig Gewehre zusammensuchen, die ausgeliefert werden sollten. Er holte sie aus Evis Waffenkammer, und ein Schluchzen schüttelte die kräftige Gestalt bei dem Ge¬ danken an seine verlorene kleine Wildkatze, die noch am Vormittag mit soviel Eifer an den Gewehren herumhantiert hatte. Zwei große Bündel schleppte er zum Tor hinaus. Da brach ein Triumph¬ geheul los. Doch der rote Reiter erhob beschwichtigend die Hand. Als es still geworden war, fing Sandberg an: „Hier sind die zwanzig Gewehre. Hier der Schlüssel zum Spritzenhaus. Herr Baron von der Borke aber ist nicht auf Sternburg!" „Er lügt!" schrie jemand. „KM hat ihn gesehen, den Mörder! Er hat und Kalk gesprochen! Sie wollen ihn bloß nicht preisgeben. Durchsucht das Haus!" In dem wüsten Durcheinander von Stimmen konnte sich der Führer nur mit Mühe verständlich machen. „Der Baron soll kommen — dem wollen wir glauben!" Herr von Wenkendorff trat hinaus und fragte: „Seid Ihr immer noch nicht zufrieden?" „Wir wollen den Borküller Mordbaron!" brüllten die Leute. „Ich kenne keinen Mordbaron!" sagte der Freiherr mit fester Stimme. „Hoho! Fragt den alten Tommingas, wer seinen Brudersohn in Reval totgeschlagen hat. Und die Maja hat er niedergeknallt und hat die Kosaken auf die Arbeiter gehetzt . . . Wenn Ihr ihn nicht freiwillig gebt, dann holen wir ihn!" Ein Dutzend der schwarzen Gestalten stürmte, die Gewehre schwingend, die Freitreppe hinan. Aber an der lebendigen Mauer der Junker, die hinter dem Freiherrn aus der Tür traten, prallten sie zurück. Ohne Waffen, versperrten sie den Zugang zum Schloß — stumm und gelassen. „Zurück!" befahl der rote Reiter. „Ich rede mit dem Baron!" Und zum Freiherrn gewandt: „Geben Sie uns Ihr Ehrenwort, daß Baron Wolff Joachim von der Borke nicht in Ihrem Hause ist?" Grenzboten III 1913 Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/285>, abgerufen am 29.12.2024.