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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Richard Wagner und die Philosophie des deutschen Idealismus

Heroen der Dichtkunst, den Griechen wie Shakespeare, ihre volle Größe. Nicht
naße er sich an. das Große allein zu besitzen und entdeckt zu haben, sondern
auch die Früheren haben wirkliche Dramen, voll echter Welttragik geschrieben,
wenn auch nicht mit dem klaren Bewußtsein, der begrifflichen Einsicht, die ihm
die Philosophie Schopenhauers geschenkt hat. Das ist echter historischer Sinn,
der ihn von Schopenhauer und sogar von Fichte unterscheidet; das ist im Grunde
Hegelscher Geist, der ihm zum mindesten durch Feuerbach vermittelt wurde.

In dem großen Kunstschaffen der Vergangenheit lag also die Wahrheit,
lag die echte Sittlichkeit anschaulich vor. Doch leider war es ohne Einfluß
vorübergegangen. Diese "Werke der Leidenden" (X. 243) sind unverstanden
geblieben, wie Kassandrarufe sind sie verhallt. Noch heute wird Raphaels
"Sixtina" bewundert, Beethovens Pastoralsymphonie gehört, und dem Publikum
sagen sie nichts (X. 235). Die Erziehung durch die Kunst scheint zu versagen;
denn die Menschheit ist entartet. Die Gründe dieser Entartung führt Wagner
wiederholt aus, besonders in "Religion und Kunst". An dieser Stelle inter¬
essieren sie uns nicht. Jedenfalls sind sie schuld daran, daß statt ästhetischer
Erziehung eine Regeneration der ganzen menschlichen Gesellschaft notwendig
geworden ist. Der wesentlichste Bestandteil dieser "Wiedergeburt" ist die Er¬
kenntnis, eine ganz bestimmte Erkenntnis vom Wesen der Welt, ist ferner eine
sittliche Tat, die Umkehr des Willens. So führt Wagner aus: "In diesem
Sinne und zur Anleitung für ein selbständiges Beschreiten der Wege wahrer
Hoffnung, kann nach dem Stande unserer jetzigen Bildung nichts anderes
empfohlen werden, als die Schopenhauersche Philosophie in jeder Beziehung
zur Grundlage aller ferneren geistigen und sittlichen Kultur zu machen; und
an nichts anderem haben wir zu arbeiten, als auf jedem Gebiete des Lebens
die Notwendigkeit hiervon zur Geltung zu bringen" (X. 257/58). Als End¬
ergebnis dieser Erkenntnis erscheint dann sofort eine Einheit von wahr und
gut, "die Anerkennung der moralischen Bedeutung der Welt (ebenda 260).

Doch auch die Kunst darf nicht fehlen bei der Vollendung der Regeneration.
Es ist schon oft hervorgehoben worden, daß die Verneinung des Willens zum
Leben bei Schopenhauer eine tatsächliche Aufhebung der empirischen Welt zur
Folge haben müßte. Die Kunst vermag "den wahren wünschenswerten Zustand"
auch nur im Bilde anzudeuten, wirkliche Erlösung bringt sie nicht. Man hat nicht
ganz mit Unrecht die Jdeenlehre, dieLehrevonderKunst, als dem System widersprechend
gefunden. Hier trennt sich Wagner von Schopenhauer. Er meint: "Was hier (bei
Schopenhauer) als nur mit fast skeptischen Lächeln aussprechbar erscheinen durfte,
könnte uns sehr wohl zu einem Ausgangspunkt innig ernster Folgerungen werden.
Das vollendete Gleichnis des edelsten Kunstwerkes dürfte durch seine erdrückende
Wirkung auf das Gemüt sehr deutlich uns das Urbild auffinden lassen, dessen
"Irgendwo" notwendig nur sich in unserem Innern offenbaren müßte." So ist es
also das geniale Kunstwerk, das uns die Rettung zeigt, das uns eine Gewißheit der
Erlösung aus dem Leiden desDaseins, welche uns die Erkenntnis nur von ferne sehen


Richard Wagner und die Philosophie des deutschen Idealismus

Heroen der Dichtkunst, den Griechen wie Shakespeare, ihre volle Größe. Nicht
naße er sich an. das Große allein zu besitzen und entdeckt zu haben, sondern
auch die Früheren haben wirkliche Dramen, voll echter Welttragik geschrieben,
wenn auch nicht mit dem klaren Bewußtsein, der begrifflichen Einsicht, die ihm
die Philosophie Schopenhauers geschenkt hat. Das ist echter historischer Sinn,
der ihn von Schopenhauer und sogar von Fichte unterscheidet; das ist im Grunde
Hegelscher Geist, der ihm zum mindesten durch Feuerbach vermittelt wurde.

In dem großen Kunstschaffen der Vergangenheit lag also die Wahrheit,
lag die echte Sittlichkeit anschaulich vor. Doch leider war es ohne Einfluß
vorübergegangen. Diese „Werke der Leidenden" (X. 243) sind unverstanden
geblieben, wie Kassandrarufe sind sie verhallt. Noch heute wird Raphaels
„Sixtina" bewundert, Beethovens Pastoralsymphonie gehört, und dem Publikum
sagen sie nichts (X. 235). Die Erziehung durch die Kunst scheint zu versagen;
denn die Menschheit ist entartet. Die Gründe dieser Entartung führt Wagner
wiederholt aus, besonders in „Religion und Kunst". An dieser Stelle inter¬
essieren sie uns nicht. Jedenfalls sind sie schuld daran, daß statt ästhetischer
Erziehung eine Regeneration der ganzen menschlichen Gesellschaft notwendig
geworden ist. Der wesentlichste Bestandteil dieser „Wiedergeburt" ist die Er¬
kenntnis, eine ganz bestimmte Erkenntnis vom Wesen der Welt, ist ferner eine
sittliche Tat, die Umkehr des Willens. So führt Wagner aus: „In diesem
Sinne und zur Anleitung für ein selbständiges Beschreiten der Wege wahrer
Hoffnung, kann nach dem Stande unserer jetzigen Bildung nichts anderes
empfohlen werden, als die Schopenhauersche Philosophie in jeder Beziehung
zur Grundlage aller ferneren geistigen und sittlichen Kultur zu machen; und
an nichts anderem haben wir zu arbeiten, als auf jedem Gebiete des Lebens
die Notwendigkeit hiervon zur Geltung zu bringen" (X. 257/58). Als End¬
ergebnis dieser Erkenntnis erscheint dann sofort eine Einheit von wahr und
gut, „die Anerkennung der moralischen Bedeutung der Welt (ebenda 260).

Doch auch die Kunst darf nicht fehlen bei der Vollendung der Regeneration.
Es ist schon oft hervorgehoben worden, daß die Verneinung des Willens zum
Leben bei Schopenhauer eine tatsächliche Aufhebung der empirischen Welt zur
Folge haben müßte. Die Kunst vermag „den wahren wünschenswerten Zustand"
auch nur im Bilde anzudeuten, wirkliche Erlösung bringt sie nicht. Man hat nicht
ganz mit Unrecht die Jdeenlehre, dieLehrevonderKunst, als dem System widersprechend
gefunden. Hier trennt sich Wagner von Schopenhauer. Er meint: „Was hier (bei
Schopenhauer) als nur mit fast skeptischen Lächeln aussprechbar erscheinen durfte,
könnte uns sehr wohl zu einem Ausgangspunkt innig ernster Folgerungen werden.
Das vollendete Gleichnis des edelsten Kunstwerkes dürfte durch seine erdrückende
Wirkung auf das Gemüt sehr deutlich uns das Urbild auffinden lassen, dessen
„Irgendwo" notwendig nur sich in unserem Innern offenbaren müßte." So ist es
also das geniale Kunstwerk, das uns die Rettung zeigt, das uns eine Gewißheit der
Erlösung aus dem Leiden desDaseins, welche uns die Erkenntnis nur von ferne sehen


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[0272] Richard Wagner und die Philosophie des deutschen Idealismus Heroen der Dichtkunst, den Griechen wie Shakespeare, ihre volle Größe. Nicht naße er sich an. das Große allein zu besitzen und entdeckt zu haben, sondern auch die Früheren haben wirkliche Dramen, voll echter Welttragik geschrieben, wenn auch nicht mit dem klaren Bewußtsein, der begrifflichen Einsicht, die ihm die Philosophie Schopenhauers geschenkt hat. Das ist echter historischer Sinn, der ihn von Schopenhauer und sogar von Fichte unterscheidet; das ist im Grunde Hegelscher Geist, der ihm zum mindesten durch Feuerbach vermittelt wurde. In dem großen Kunstschaffen der Vergangenheit lag also die Wahrheit, lag die echte Sittlichkeit anschaulich vor. Doch leider war es ohne Einfluß vorübergegangen. Diese „Werke der Leidenden" (X. 243) sind unverstanden geblieben, wie Kassandrarufe sind sie verhallt. Noch heute wird Raphaels „Sixtina" bewundert, Beethovens Pastoralsymphonie gehört, und dem Publikum sagen sie nichts (X. 235). Die Erziehung durch die Kunst scheint zu versagen; denn die Menschheit ist entartet. Die Gründe dieser Entartung führt Wagner wiederholt aus, besonders in „Religion und Kunst". An dieser Stelle inter¬ essieren sie uns nicht. Jedenfalls sind sie schuld daran, daß statt ästhetischer Erziehung eine Regeneration der ganzen menschlichen Gesellschaft notwendig geworden ist. Der wesentlichste Bestandteil dieser „Wiedergeburt" ist die Er¬ kenntnis, eine ganz bestimmte Erkenntnis vom Wesen der Welt, ist ferner eine sittliche Tat, die Umkehr des Willens. So führt Wagner aus: „In diesem Sinne und zur Anleitung für ein selbständiges Beschreiten der Wege wahrer Hoffnung, kann nach dem Stande unserer jetzigen Bildung nichts anderes empfohlen werden, als die Schopenhauersche Philosophie in jeder Beziehung zur Grundlage aller ferneren geistigen und sittlichen Kultur zu machen; und an nichts anderem haben wir zu arbeiten, als auf jedem Gebiete des Lebens die Notwendigkeit hiervon zur Geltung zu bringen" (X. 257/58). Als End¬ ergebnis dieser Erkenntnis erscheint dann sofort eine Einheit von wahr und gut, „die Anerkennung der moralischen Bedeutung der Welt (ebenda 260). Doch auch die Kunst darf nicht fehlen bei der Vollendung der Regeneration. Es ist schon oft hervorgehoben worden, daß die Verneinung des Willens zum Leben bei Schopenhauer eine tatsächliche Aufhebung der empirischen Welt zur Folge haben müßte. Die Kunst vermag „den wahren wünschenswerten Zustand" auch nur im Bilde anzudeuten, wirkliche Erlösung bringt sie nicht. Man hat nicht ganz mit Unrecht die Jdeenlehre, dieLehrevonderKunst, als dem System widersprechend gefunden. Hier trennt sich Wagner von Schopenhauer. Er meint: „Was hier (bei Schopenhauer) als nur mit fast skeptischen Lächeln aussprechbar erscheinen durfte, könnte uns sehr wohl zu einem Ausgangspunkt innig ernster Folgerungen werden. Das vollendete Gleichnis des edelsten Kunstwerkes dürfte durch seine erdrückende Wirkung auf das Gemüt sehr deutlich uns das Urbild auffinden lassen, dessen „Irgendwo" notwendig nur sich in unserem Innern offenbaren müßte." So ist es also das geniale Kunstwerk, das uns die Rettung zeigt, das uns eine Gewißheit der Erlösung aus dem Leiden desDaseins, welche uns die Erkenntnis nur von ferne sehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/272>, abgerufen am 29.12.2024.