Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.Die Tragik der Kleinstadt in moderner Dichtung von ihm nur die Existenz haben, soweit das überhaupt bei der subjektiven Natur Es ist von entscheidender Bedeutung für Erling gewesen, daß er nicht Die Tragik der Kleinstadt in moderner Dichtung von ihm nur die Existenz haben, soweit das überhaupt bei der subjektiven Natur Es ist von entscheidender Bedeutung für Erling gewesen, daß er nicht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0027" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326197"/> <fw type="header" place="top"> Die Tragik der Kleinstadt in moderner Dichtung</fw><lb/> <p xml:id="ID_58" prev="#ID_57"> von ihm nur die Existenz haben, soweit das überhaupt bei der subjektiven Natur<lb/> künstlerischen Schaffens möglich ist: das Tiefpersönliche bei Erling ist sein Freiheits¬<lb/> drang. In der Darstellung ist Erling ganz und gar Naturalist, und auch sewe<lb/> Stoffe, zumal in seinen ersten Werken, haben oft naturalistische Härte. Seine<lb/> Bücher riechen nie nach der Lampe, wie Raabes so oft, in allen weht die scharfe<lb/> Luft der Wirklichkeit, oft schneidender Wintersturm, nicht vom warmen Studier-<lb/> stübchen aus angesehen, wie bei Raabe, sondern dem Leser gewaltig ins Gesicht<lb/> blasend. Man sehe sich nur einmal Zwintschers vortreffliches Porträt Enkings<lb/> an: dieser runde, feste Kopf hat ohne Zweifel etwas Hartes. Es ist der Kopf<lb/> eines Schaffenden, und „alle Schaffenden sind hart". Raabe dagegen hat den<lb/> Kopf eines ironischen Philosophen. Ihm ist das Leben nicht tief genug gegangen,<lb/> um ihn zur Härte zu zwingen: er sah es durch das schützende Fenster der Literatur,<lb/> ein passendes Zitat machte ihm alles erträglich, ja vergnüglich. So konnte er seine<lb/> Zartheit bewahren. Erling, der von Haus aus ebenso Zarte, mußte sich den<lb/> schützenden Panzer der Härte umschnallen, um überhaupt leben zu können.<lb/> Paradox ausgedrückt: er ist hart — aus Zartheit. Alles in allem: seine Ähn-<lb/> lichkeit mit Raabe ist rein stofflich.</p><lb/> <p xml:id="ID_59" next="#ID_60"> Es ist von entscheidender Bedeutung für Erling gewesen, daß er nicht<lb/> ausschließlich in der Welt des Buches gelebt hat wie Raabe: er ist eine Zeit¬<lb/> lang Schauspieler gewesen und dann jahrelang Journalist und Redakteur. Den<lb/> Trieb zum Schriftstellern hatte er freilich schon in frühester Jugend. Er selbst<lb/> hat einmal seinen knabenhaften Gestaltungstrieb sehr hübsch geschildert: „Die<lb/> früh, viel zu früh in mir erwachte und durch das Lesen der schwersten klassischen<lb/> Werke noch angeregte Phantasie drängte mich schon im Knabenalter zum Gestalten.<lb/> Es war ein qualvoller, krankhafter Zustand. Ich mußte dichten, unaufhaltsam<lb/> dichten. Berge von Liedern und Balladen häuften sich auf. Dann kamen die<lb/> größeren Pläne. Eine einsensterige Giebelkammer, durch das rote Zeug vor<lb/> den Scheiben glüht die Sonne — zur Seite des Tisches ein ebenfalls rot¬<lb/> verhängtes Gestell mit einer Büste der Aphrodite darauf. Das war der Tempel.<lb/> Nichts Profanes durste dem Musenjünger dienen. Die Tinte war aus Gall¬<lb/> äpfeln und rostigen Nägeln von mir selbst gekocht, das Tintenfaß eigenhändig<lb/> aus Marmorstückchen und Gips zusammengeformt, der Federhalter stammte vom<lb/> Hollunderbaum auf dem Hofe — Federn aus Stahl hätten Entweihung be¬<lb/> deutet. So schnitzte ich mir welche aus hartem Holze. Mein ganzer Schmerz<lb/> war, daß ich nicht auch das Papier herstellen konnte. Wenigstens nahm ich<lb/> kein neues. Alte Bücher mußten ihre leeren Büttenblätter hergeben. Askkse<lb/> wurde beim Schaffen geübt. Tagelang durfte nur Wasser und rohes Obst,<lb/> kaum Brot genossen werden." Man kann sich denken, daß Gymnasium und<lb/> Studium der Jurisprudenz dieseni Fanatiker des Gestaltens nichts zu bieten<lb/> hatten. Es trieb ihn hinaus; Kiel war ja damals noch ein Nest. 1867 ist<lb/> Erling dort als Rektorssohn geboren. Als Schauspieler in Bremen und<lb/> Stuttgart lernte ör zwar das Leben kennen, fand aber keine künstlerische Be-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0027]
Die Tragik der Kleinstadt in moderner Dichtung
von ihm nur die Existenz haben, soweit das überhaupt bei der subjektiven Natur
künstlerischen Schaffens möglich ist: das Tiefpersönliche bei Erling ist sein Freiheits¬
drang. In der Darstellung ist Erling ganz und gar Naturalist, und auch sewe
Stoffe, zumal in seinen ersten Werken, haben oft naturalistische Härte. Seine
Bücher riechen nie nach der Lampe, wie Raabes so oft, in allen weht die scharfe
Luft der Wirklichkeit, oft schneidender Wintersturm, nicht vom warmen Studier-
stübchen aus angesehen, wie bei Raabe, sondern dem Leser gewaltig ins Gesicht
blasend. Man sehe sich nur einmal Zwintschers vortreffliches Porträt Enkings
an: dieser runde, feste Kopf hat ohne Zweifel etwas Hartes. Es ist der Kopf
eines Schaffenden, und „alle Schaffenden sind hart". Raabe dagegen hat den
Kopf eines ironischen Philosophen. Ihm ist das Leben nicht tief genug gegangen,
um ihn zur Härte zu zwingen: er sah es durch das schützende Fenster der Literatur,
ein passendes Zitat machte ihm alles erträglich, ja vergnüglich. So konnte er seine
Zartheit bewahren. Erling, der von Haus aus ebenso Zarte, mußte sich den
schützenden Panzer der Härte umschnallen, um überhaupt leben zu können.
Paradox ausgedrückt: er ist hart — aus Zartheit. Alles in allem: seine Ähn-
lichkeit mit Raabe ist rein stofflich.
Es ist von entscheidender Bedeutung für Erling gewesen, daß er nicht
ausschließlich in der Welt des Buches gelebt hat wie Raabe: er ist eine Zeit¬
lang Schauspieler gewesen und dann jahrelang Journalist und Redakteur. Den
Trieb zum Schriftstellern hatte er freilich schon in frühester Jugend. Er selbst
hat einmal seinen knabenhaften Gestaltungstrieb sehr hübsch geschildert: „Die
früh, viel zu früh in mir erwachte und durch das Lesen der schwersten klassischen
Werke noch angeregte Phantasie drängte mich schon im Knabenalter zum Gestalten.
Es war ein qualvoller, krankhafter Zustand. Ich mußte dichten, unaufhaltsam
dichten. Berge von Liedern und Balladen häuften sich auf. Dann kamen die
größeren Pläne. Eine einsensterige Giebelkammer, durch das rote Zeug vor
den Scheiben glüht die Sonne — zur Seite des Tisches ein ebenfalls rot¬
verhängtes Gestell mit einer Büste der Aphrodite darauf. Das war der Tempel.
Nichts Profanes durste dem Musenjünger dienen. Die Tinte war aus Gall¬
äpfeln und rostigen Nägeln von mir selbst gekocht, das Tintenfaß eigenhändig
aus Marmorstückchen und Gips zusammengeformt, der Federhalter stammte vom
Hollunderbaum auf dem Hofe — Federn aus Stahl hätten Entweihung be¬
deutet. So schnitzte ich mir welche aus hartem Holze. Mein ganzer Schmerz
war, daß ich nicht auch das Papier herstellen konnte. Wenigstens nahm ich
kein neues. Alte Bücher mußten ihre leeren Büttenblätter hergeben. Askkse
wurde beim Schaffen geübt. Tagelang durfte nur Wasser und rohes Obst,
kaum Brot genossen werden." Man kann sich denken, daß Gymnasium und
Studium der Jurisprudenz dieseni Fanatiker des Gestaltens nichts zu bieten
hatten. Es trieb ihn hinaus; Kiel war ja damals noch ein Nest. 1867 ist
Erling dort als Rektorssohn geboren. Als Schauspieler in Bremen und
Stuttgart lernte ör zwar das Leben kennen, fand aber keine künstlerische Be-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |