Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.Richard Wagner und die Philosophie des deutschen Idealismus und des Mißverständnisses, die leidvolle, sündenvolle Gegenwart. Das alles steht in Richard Wagner und die Philosophie des deutschen Idealismus und des Mißverständnisses, die leidvolle, sündenvolle Gegenwart. Das alles steht in <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326430"/> <fw type="header" place="top"> Richard Wagner und die Philosophie des deutschen Idealismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_1228" prev="#ID_1227"> und des Mißverständnisses, die leidvolle, sündenvolle Gegenwart. Das alles steht in<lb/> direktem Widerspruch zu Schopenhauers klaren Worten: „Denn wir sind der Meinung,<lb/> daß jeder noch himmelweit von einer philosophischen Erkenntnis der Welt ent¬<lb/> fernt ist, der vermeint, das Wesen derselben irgendwie, und sei es noch so fein<lb/> bemäntelt, historisch sassen zu können: welches aber der Fall ist, sobald in<lb/> seiner Ansicht des Wesens an sich der Welt irgend ein Werden — irgend ein<lb/> Früher oder Später die mindeste Bedeutung hat — und das philosophierende<lb/> Individuum wohl noch gar seine eigene Stelle auf diesem Wege erkennt."<lb/> „Denn alle solche historische Philosophie, sie mag auch noch so vornehm tun,<lb/> nimmt, als wäre Kant nie dagewesen, die Zeit für eine Bestimmung der Dinge<lb/> an sich, und bleibt daher bei dem stehen, was Kant die Erscheinung — Platon<lb/> das Werdende, nie Seiende — nennt, oder endlich, was bei den Indern das<lb/> Gewebe der Maja heißt." (Welt als Wille und Vorstell. 3 I. 4. Z 53).<lb/> Wagners ganzes Wesen mußte sich gegen diese Mißachtung der Geschichte auf¬<lb/> lehnen. Er war kein abstrakter Denker, dem die theoretische Konstruktion, das<lb/> verstandesmäßige Begreifen der Welt ein Höchstes bedeuten konnte, das restlose<lb/> Verstehen des gesunden Menschenverstandes der Aufklärung war ihm durchaus<lb/> zuwider; und wer sieht nicht, daß die Schopenhauersche Auffassung der Geschichte<lb/> ein Erbstück der rationalistischen Aufklärungszeit ist? Als schaffender Künstler<lb/> will Wagner „wirken" in der Zeit, will Erfolge in der Gegenwart und für<lb/> die Zukunft, lebt der Überzeugung, daß sein „Werk" etwas bedeutet in dem<lb/> Kausalzusammenhang, in den es hineingearbeitet wird, besonders aber in<lb/> dem theologischen Gefüge der Kulturentwicklung. In demselben Geist hat<lb/> Schiller seiner Kunst eine welthistorische Rolle zugewiesen, hat Fichte seinen<lb/> Gedanken die Kraft zugetraut, das deutsche Volk aus dem Elend des gegen¬<lb/> wärtigen Zeitalters in eine neue Epoche hinüberzuführen. Solche praktischen,<lb/> in der Zeit schöpferischen Geister stehen im scharfen Gegensatz zu den theoretischen,<lb/> denen es nur auf individuelle Ausbildung, auf eigenes Erkennen ankommt,<lb/> ohne den Trieb, auch außer sich zu wirken; neben Fichte, Schiller und Wagner<lb/> denke man etwa an Goethe, Kant und Mozart, oder auch an Nietzsche. Wagner ganz<lb/> besonders hat sein Leben lang „gekämpft" für seine Kunst, durch seine Kunst für die<lb/> Erziehung des Menschengeschlechtes und durch diese wieder für das völlige Ver¬<lb/> ständnis seiner Werke; letzten Endes aber, so sagt er selbst in „Religion und<lb/> Kunst" „für die Anerkennung einer moralischen Bedeutung der Welt". So ist<lb/> es ganz natürlich, daß er immer wieder zurückkommt auf die Verständnislofigleit<lb/> der gegenwärtigen Welt für seine Kunst und auf die Gründe dieser Tatsache.<lb/> Aus diesen Äußerungen lassen sich leicht die „Grundzüge des gegenwärtigen<lb/> Zeitalters" zusammenstellen. Diese Grundzüge stimmen nun durchgehends mit<lb/> dem überein, was I. G. Fichte als die charakteristischen Merkmale der gegen¬<lb/> wärtigen Geschichtsperiode aufgestellt hat in seinen Vorlesungen: „Die Grundzüge<lb/> des gegenwärtigen Zeitalters", gehalten in Berlin 1804—1805. So ergeben<lb/> sich denn für unsere Untersuchung von selbst folgende Abschnitte:</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0260]
Richard Wagner und die Philosophie des deutschen Idealismus
und des Mißverständnisses, die leidvolle, sündenvolle Gegenwart. Das alles steht in
direktem Widerspruch zu Schopenhauers klaren Worten: „Denn wir sind der Meinung,
daß jeder noch himmelweit von einer philosophischen Erkenntnis der Welt ent¬
fernt ist, der vermeint, das Wesen derselben irgendwie, und sei es noch so fein
bemäntelt, historisch sassen zu können: welches aber der Fall ist, sobald in
seiner Ansicht des Wesens an sich der Welt irgend ein Werden — irgend ein
Früher oder Später die mindeste Bedeutung hat — und das philosophierende
Individuum wohl noch gar seine eigene Stelle auf diesem Wege erkennt."
„Denn alle solche historische Philosophie, sie mag auch noch so vornehm tun,
nimmt, als wäre Kant nie dagewesen, die Zeit für eine Bestimmung der Dinge
an sich, und bleibt daher bei dem stehen, was Kant die Erscheinung — Platon
das Werdende, nie Seiende — nennt, oder endlich, was bei den Indern das
Gewebe der Maja heißt." (Welt als Wille und Vorstell. 3 I. 4. Z 53).
Wagners ganzes Wesen mußte sich gegen diese Mißachtung der Geschichte auf¬
lehnen. Er war kein abstrakter Denker, dem die theoretische Konstruktion, das
verstandesmäßige Begreifen der Welt ein Höchstes bedeuten konnte, das restlose
Verstehen des gesunden Menschenverstandes der Aufklärung war ihm durchaus
zuwider; und wer sieht nicht, daß die Schopenhauersche Auffassung der Geschichte
ein Erbstück der rationalistischen Aufklärungszeit ist? Als schaffender Künstler
will Wagner „wirken" in der Zeit, will Erfolge in der Gegenwart und für
die Zukunft, lebt der Überzeugung, daß sein „Werk" etwas bedeutet in dem
Kausalzusammenhang, in den es hineingearbeitet wird, besonders aber in
dem theologischen Gefüge der Kulturentwicklung. In demselben Geist hat
Schiller seiner Kunst eine welthistorische Rolle zugewiesen, hat Fichte seinen
Gedanken die Kraft zugetraut, das deutsche Volk aus dem Elend des gegen¬
wärtigen Zeitalters in eine neue Epoche hinüberzuführen. Solche praktischen,
in der Zeit schöpferischen Geister stehen im scharfen Gegensatz zu den theoretischen,
denen es nur auf individuelle Ausbildung, auf eigenes Erkennen ankommt,
ohne den Trieb, auch außer sich zu wirken; neben Fichte, Schiller und Wagner
denke man etwa an Goethe, Kant und Mozart, oder auch an Nietzsche. Wagner ganz
besonders hat sein Leben lang „gekämpft" für seine Kunst, durch seine Kunst für die
Erziehung des Menschengeschlechtes und durch diese wieder für das völlige Ver¬
ständnis seiner Werke; letzten Endes aber, so sagt er selbst in „Religion und
Kunst" „für die Anerkennung einer moralischen Bedeutung der Welt". So ist
es ganz natürlich, daß er immer wieder zurückkommt auf die Verständnislofigleit
der gegenwärtigen Welt für seine Kunst und auf die Gründe dieser Tatsache.
Aus diesen Äußerungen lassen sich leicht die „Grundzüge des gegenwärtigen
Zeitalters" zusammenstellen. Diese Grundzüge stimmen nun durchgehends mit
dem überein, was I. G. Fichte als die charakteristischen Merkmale der gegen¬
wärtigen Geschichtsperiode aufgestellt hat in seinen Vorlesungen: „Die Grundzüge
des gegenwärtigen Zeitalters", gehalten in Berlin 1804—1805. So ergeben
sich denn für unsere Untersuchung von selbst folgende Abschnitte:
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |