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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Tragik der Aleinstadt in moderner Dichtung
iDttomar Euking) Dr. Hansemann vonin

is 1903 Enkings "Familie P. C. Behm" erschien, wurde der
Autor als der berufenste einstige Fortsetzer von Raabes Lebens¬
werk freudig begrüßt. Man staunte über die Kunst der treuen
Beobachtung kleinbürgerlichen Lebens in der Schilderung der kleinen
Hafenstadt Koggenstedt, wo der biedere P. C. Behm seinen Kram¬
laden hat und über einem großmächtigen Schreibebrief an den Kaiser drückst,
um Seine Majestät zur Schaffung eines Kriegshafens in dem Neste zu ver¬
anlassen. Man empfand die ganze schnurrige Kleinstadtwelt, die sich um diesen
Philister gruppiert, als echt Raabisch. Wenn man aber Enkings gesamtes
bisheriges Lebenswerk kennt, wird man anders urteilen. Tatsächlich stammt
er aus einer ganz anderen Geistesfamilie.- Raabe ist ein Enkel Jean Pauls.
Erling ist ein Enkel Flauberts. Nicht nur aus Liebe sieht er das Kleinstadt¬
leben so unglaublich scharf, sondern auch -- ja vor allem -- aus Haß.
Gewiß liebt dieser niederdeutsche die Kleinstadt mit echt niederdeutschen Behagen,
aber er haßt zugleich die sich oft bis zur Härte steigernde Verständnislostgkeit,
die in jedem Philisterdasein steckt. Weil dieses eben in der Kleinstadt am
ungestörtesten zur Entfaltung kommt, deshalb wurde Erling zum Kleinstadt-
schilderer. Ohne jene Liebe wäre der Künstler Erling im Ankläger unter¬
gegangen, ohne diesen Haß im Idylliker: beide zugleich machten ihn in seinen
reifen Werken zum männlichsten unserer modernen Erzähler, denn ein rechter
Mann muß lieben und hassen; und modern, d. h. ein Verkünder der Sehnsucht
der heutigen Menschheit, ist er gerade in der Darstellung der Qual enger Ver-
Hältnisse und der Sehnsucht nach Befreiung der eigenen Persönlichkeit. Freilich,
auch Raabe kennt die unaussprechlich schmerzliche Bedrängnis des Schönen und
Zarten inmitten der Brutalität des Alltags (vgl. seinen "Schüdderump"!), aber
man nimmt die Schicksale seiner Gestalten nicht so ernst, weil man sie alle nur
durch den bunten Schleier seiner wundervollen Persönlichkeit sieht. Raabe hat
eigentlich nur eine Meistergestalt geschaffen: sich selbst. Er war eben im Grunde
seines Wesens ein philosophischer Lyriker, ein Selbstdarsteller. Erling dagegen
ist von Grund aus Dramatiker, d. h. ein Darsteller fremder Charaktere, die




Die Tragik der Aleinstadt in moderner Dichtung
iDttomar Euking) Dr. Hansemann vonin

is 1903 Enkings „Familie P. C. Behm" erschien, wurde der
Autor als der berufenste einstige Fortsetzer von Raabes Lebens¬
werk freudig begrüßt. Man staunte über die Kunst der treuen
Beobachtung kleinbürgerlichen Lebens in der Schilderung der kleinen
Hafenstadt Koggenstedt, wo der biedere P. C. Behm seinen Kram¬
laden hat und über einem großmächtigen Schreibebrief an den Kaiser drückst,
um Seine Majestät zur Schaffung eines Kriegshafens in dem Neste zu ver¬
anlassen. Man empfand die ganze schnurrige Kleinstadtwelt, die sich um diesen
Philister gruppiert, als echt Raabisch. Wenn man aber Enkings gesamtes
bisheriges Lebenswerk kennt, wird man anders urteilen. Tatsächlich stammt
er aus einer ganz anderen Geistesfamilie.- Raabe ist ein Enkel Jean Pauls.
Erling ist ein Enkel Flauberts. Nicht nur aus Liebe sieht er das Kleinstadt¬
leben so unglaublich scharf, sondern auch — ja vor allem — aus Haß.
Gewiß liebt dieser niederdeutsche die Kleinstadt mit echt niederdeutschen Behagen,
aber er haßt zugleich die sich oft bis zur Härte steigernde Verständnislostgkeit,
die in jedem Philisterdasein steckt. Weil dieses eben in der Kleinstadt am
ungestörtesten zur Entfaltung kommt, deshalb wurde Erling zum Kleinstadt-
schilderer. Ohne jene Liebe wäre der Künstler Erling im Ankläger unter¬
gegangen, ohne diesen Haß im Idylliker: beide zugleich machten ihn in seinen
reifen Werken zum männlichsten unserer modernen Erzähler, denn ein rechter
Mann muß lieben und hassen; und modern, d. h. ein Verkünder der Sehnsucht
der heutigen Menschheit, ist er gerade in der Darstellung der Qual enger Ver-
Hältnisse und der Sehnsucht nach Befreiung der eigenen Persönlichkeit. Freilich,
auch Raabe kennt die unaussprechlich schmerzliche Bedrängnis des Schönen und
Zarten inmitten der Brutalität des Alltags (vgl. seinen „Schüdderump"!), aber
man nimmt die Schicksale seiner Gestalten nicht so ernst, weil man sie alle nur
durch den bunten Schleier seiner wundervollen Persönlichkeit sieht. Raabe hat
eigentlich nur eine Meistergestalt geschaffen: sich selbst. Er war eben im Grunde
seines Wesens ein philosophischer Lyriker, ein Selbstdarsteller. Erling dagegen
ist von Grund aus Dramatiker, d. h. ein Darsteller fremder Charaktere, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/26>, abgerufen am 28.12.2024.