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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die armenisch-kurdische Frage

Unterwerfung der Kurden zuvorzukommen, so wird nichts übrig bleiben als die
russische Besetzung von Armenien.

Daß die Armenier unter russischer Herrschaft besser fahren werden, glauben
sie wahrscheinlich selbst nicht; der Haß, der ihnen auch in Rußland entgegen¬
gebracht wird, kann ihnen unmöglich verborgen bleiben, wenn selbst russische
Beamte sich offen gegen sie aussprechen. Sachkenner glauben sogar, daß die
Russen die Kurden in noch stärkerem Maße als die Türken gegen die Armenier
ausspielen würden*). Dem armenischen Volke würde dann nur das Schicksal
der Juden übrig bleiben.

Daß eine russische Besetzung der armenischen Provinzen aber auch eine
Gefahr für Europa bringen kann, muß eine nicht von der Hand zu weisende
Befürchtung bleiben. Die Frage ist, wieweit nach Westen sie sich erstrecken soll,
ob sie den Erbfeind nicht zu nahe an das Herz des osmanischen Staatsrumpfes
oder gar, wie in der russischen Presse verlautet, bis an die Küste des Mittel¬
meeres führen wird.

Für Cilicien. das alte Klein-Armenien, stellt sich die armenische Frage ganz
anders. Hier ist sie nicht auf den Gegensatz von Armeniern und Kurden zu¬
gespitzt, sondern auf den zwischen Christen und Mohammedanern. Unter den
letzteren spielen hier nicht mehr die Kurden, sondern die Türken die Hauptrolle,
unter den Christen allerdings noch die Armenier mit etwa 24 Prozent der
Gesamtbevölkerung, wenigstens in den östlichen und nordöstlichen Bezirken der
Provinz; dagegen in den mittleren und westlichen sitzen griechische und syrisch¬
arabische Christen in nicht viel geringerer Zahl (18 Prozent). Vor allem aber
gibt es in Cilicien keine kurdischen Hamidijebanden, die zu unterwerfen wären.
Und so ist nicht einzusehen, weshalb es der türkischen Regierung, zumal unter
dem Beistande erfahrener europäischer Ratgeber, nicht gelingen sollte, in diesem
alten Wetterwinkel von Kleinasien die Ruhe herzustellen. Adana wird die
Hauptstadt des neuen Cilicien. Seine hervorragend günstige Lage für Handel
und Verkehr, seine strategische Wichtigkeit an den Toren des Taurus, neuer¬
dings noch seine Bedeutung als Zentrum eines sich schnell entwickelnden Baum-
wollengebietes, sichern der Stadt eine glänzende Zukunft. Und dafür zu sorgen, daß
diese Entwicklung durch eine streitsüchtige Bevölkerung nicht geschädigt wird,
liegt im Interesse der beteiligten europäischen Mächte, vor allen Deutschlands.





') Christi. Orient 1918, S. 107.
Die armenisch-kurdische Frage

Unterwerfung der Kurden zuvorzukommen, so wird nichts übrig bleiben als die
russische Besetzung von Armenien.

Daß die Armenier unter russischer Herrschaft besser fahren werden, glauben
sie wahrscheinlich selbst nicht; der Haß, der ihnen auch in Rußland entgegen¬
gebracht wird, kann ihnen unmöglich verborgen bleiben, wenn selbst russische
Beamte sich offen gegen sie aussprechen. Sachkenner glauben sogar, daß die
Russen die Kurden in noch stärkerem Maße als die Türken gegen die Armenier
ausspielen würden*). Dem armenischen Volke würde dann nur das Schicksal
der Juden übrig bleiben.

Daß eine russische Besetzung der armenischen Provinzen aber auch eine
Gefahr für Europa bringen kann, muß eine nicht von der Hand zu weisende
Befürchtung bleiben. Die Frage ist, wieweit nach Westen sie sich erstrecken soll,
ob sie den Erbfeind nicht zu nahe an das Herz des osmanischen Staatsrumpfes
oder gar, wie in der russischen Presse verlautet, bis an die Küste des Mittel¬
meeres führen wird.

Für Cilicien. das alte Klein-Armenien, stellt sich die armenische Frage ganz
anders. Hier ist sie nicht auf den Gegensatz von Armeniern und Kurden zu¬
gespitzt, sondern auf den zwischen Christen und Mohammedanern. Unter den
letzteren spielen hier nicht mehr die Kurden, sondern die Türken die Hauptrolle,
unter den Christen allerdings noch die Armenier mit etwa 24 Prozent der
Gesamtbevölkerung, wenigstens in den östlichen und nordöstlichen Bezirken der
Provinz; dagegen in den mittleren und westlichen sitzen griechische und syrisch¬
arabische Christen in nicht viel geringerer Zahl (18 Prozent). Vor allem aber
gibt es in Cilicien keine kurdischen Hamidijebanden, die zu unterwerfen wären.
Und so ist nicht einzusehen, weshalb es der türkischen Regierung, zumal unter
dem Beistande erfahrener europäischer Ratgeber, nicht gelingen sollte, in diesem
alten Wetterwinkel von Kleinasien die Ruhe herzustellen. Adana wird die
Hauptstadt des neuen Cilicien. Seine hervorragend günstige Lage für Handel
und Verkehr, seine strategische Wichtigkeit an den Toren des Taurus, neuer¬
dings noch seine Bedeutung als Zentrum eines sich schnell entwickelnden Baum-
wollengebietes, sichern der Stadt eine glänzende Zukunft. Und dafür zu sorgen, daß
diese Entwicklung durch eine streitsüchtige Bevölkerung nicht geschädigt wird,
liegt im Interesse der beteiligten europäischen Mächte, vor allen Deutschlands.





') Christi. Orient 1918, S. 107.
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[0025] Die armenisch-kurdische Frage Unterwerfung der Kurden zuvorzukommen, so wird nichts übrig bleiben als die russische Besetzung von Armenien. Daß die Armenier unter russischer Herrschaft besser fahren werden, glauben sie wahrscheinlich selbst nicht; der Haß, der ihnen auch in Rußland entgegen¬ gebracht wird, kann ihnen unmöglich verborgen bleiben, wenn selbst russische Beamte sich offen gegen sie aussprechen. Sachkenner glauben sogar, daß die Russen die Kurden in noch stärkerem Maße als die Türken gegen die Armenier ausspielen würden*). Dem armenischen Volke würde dann nur das Schicksal der Juden übrig bleiben. Daß eine russische Besetzung der armenischen Provinzen aber auch eine Gefahr für Europa bringen kann, muß eine nicht von der Hand zu weisende Befürchtung bleiben. Die Frage ist, wieweit nach Westen sie sich erstrecken soll, ob sie den Erbfeind nicht zu nahe an das Herz des osmanischen Staatsrumpfes oder gar, wie in der russischen Presse verlautet, bis an die Küste des Mittel¬ meeres führen wird. Für Cilicien. das alte Klein-Armenien, stellt sich die armenische Frage ganz anders. Hier ist sie nicht auf den Gegensatz von Armeniern und Kurden zu¬ gespitzt, sondern auf den zwischen Christen und Mohammedanern. Unter den letzteren spielen hier nicht mehr die Kurden, sondern die Türken die Hauptrolle, unter den Christen allerdings noch die Armenier mit etwa 24 Prozent der Gesamtbevölkerung, wenigstens in den östlichen und nordöstlichen Bezirken der Provinz; dagegen in den mittleren und westlichen sitzen griechische und syrisch¬ arabische Christen in nicht viel geringerer Zahl (18 Prozent). Vor allem aber gibt es in Cilicien keine kurdischen Hamidijebanden, die zu unterwerfen wären. Und so ist nicht einzusehen, weshalb es der türkischen Regierung, zumal unter dem Beistande erfahrener europäischer Ratgeber, nicht gelingen sollte, in diesem alten Wetterwinkel von Kleinasien die Ruhe herzustellen. Adana wird die Hauptstadt des neuen Cilicien. Seine hervorragend günstige Lage für Handel und Verkehr, seine strategische Wichtigkeit an den Toren des Taurus, neuer¬ dings noch seine Bedeutung als Zentrum eines sich schnell entwickelnden Baum- wollengebietes, sichern der Stadt eine glänzende Zukunft. Und dafür zu sorgen, daß diese Entwicklung durch eine streitsüchtige Bevölkerung nicht geschädigt wird, liegt im Interesse der beteiligten europäischen Mächte, vor allen Deutschlands. ') Christi. Orient 1918, S. 107.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/25>, abgerufen am 28.12.2024.