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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

Begriff, zu ihm hineinzugehen, wurde es ihr noch rechtzeitig klar, daß er am
Telephon mit jemandem sprach. Sie hörte den Namen Lolja. Wie festgebannt
Weh sie auf der Schwelle stehen, und eine fürchterliche Angst zwang sie, zu
lauschen. Durch die nur angelehnte Tür vernahm sie jedes seiner Worte. Der
russische Name verriet ihr den Zusammenhang. Also Lolja hieß die Unselige!
Und kein flüchtiger sündiger Rausch verband die beiden -- es war ein viel
stärkeres Gefühl. Edda hatte den Mut, sich zu gestehen, daß es nichts anderes
war -- als Liebe. "Und wenn ich Borküll darüber verlieren sollte!" hörte sie
Wolff Joachim sagen. Also war er bereit, aus seiner Neigung die letzte härteste
Konsequenz zu ziehen, und das bedeutete: er war für sie verloren.

Sie wußte es selber nicht, wie sie es fertig gebracht hatte, am Nachmittag
unter Menschen zu sein, mit ihnen zu plaudern und zu flirten und dabei noch
ihre Pflichten als Haustochter zu erfüllen.

Traumhaft lag der Tag hinter ihr. Nun kühlte sie ihre fieberheißen Wangen
in der Nachtluft.

"Jetzt reitet er heimwärts!" sprach sie zu sich selbst. "Alle seine Gedanken
werden bei der anderen sein. Aber vielleicht erinnert ihn mein Band einmal
an mich! Was hat er wohl gemeint? Er sei auf dem Wege, weise zu werden?"

Mit den letzten schwachen Flügelschlägen ihrer Hoffnung versetzte sie sich in
die Möglichkeit, daß er mit seinem Wort die Abkehr von seiner Leidenschaft
und die Rückkehr zur Pflicht, zu allem, was gut und edel war, gemeint haben
könne. Sicher hätte er sich dann auch zu ihr zurückgefunden.

In solchen Gedanken schritt sie über den Hof und traf in der Tür mit
Sandberg zusammen:

"Das ist doch Ihre Schleife, gnädiges Fräulein?" Er hielt ihr das blonde
Seitenhaut hin. "Ich habe sie vor dem Hoftor draußen gefunden."

So belanglos es war, daß Wolff Joachim das Band wieder verloren hatte --
Edda sah darin die grausame Vernichtung ihrer letzten leisen Hoffnung.

Jetzt sich unter die Gäste zu mischen, ihnen mit gleichgültigem oder gar
heiterem Gesicht den Tee anzurichten, bedeutete sür sie eine Unmöglichkeit.

Wie ein Schatten huschte sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer und warf
sich aufs Bett. Alles um sie herum war ausgelöscht für sie. Der Vater, die
Schwestern, Sternburg mit seinen Gästen, ebenso wie die Gefahr, die sich im
Dunkel der Nacht gleich finsterem Gewölk um den alten Herrensitz zusammenzog.

Edles entschuldigte die Schwester. Sie brauchte nicht erst zu fragen, warum
sich Edda nicht sehen ließ. War sie doch selbst im stillen über Wolff Joachims
Gleichgültigkeit empört. Wie hatte er der Schwester noch bei seinem letzten Be¬
such zu verstehen gegeben, daß sie ihm mehr als alle anderen gefiele! Auch
mußte er wissen, daß man sie beide auf Borküll wie auf Sternburg im Familien¬
kreise ganz offen und ernsthaft als zukünftiges Paar ansah. Und doch heute
dieses fremde und anscheinend von keiner Erinnerung berührte Benehmen --
arme Edda!


Sturm

Begriff, zu ihm hineinzugehen, wurde es ihr noch rechtzeitig klar, daß er am
Telephon mit jemandem sprach. Sie hörte den Namen Lolja. Wie festgebannt
Weh sie auf der Schwelle stehen, und eine fürchterliche Angst zwang sie, zu
lauschen. Durch die nur angelehnte Tür vernahm sie jedes seiner Worte. Der
russische Name verriet ihr den Zusammenhang. Also Lolja hieß die Unselige!
Und kein flüchtiger sündiger Rausch verband die beiden — es war ein viel
stärkeres Gefühl. Edda hatte den Mut, sich zu gestehen, daß es nichts anderes
war — als Liebe. „Und wenn ich Borküll darüber verlieren sollte!" hörte sie
Wolff Joachim sagen. Also war er bereit, aus seiner Neigung die letzte härteste
Konsequenz zu ziehen, und das bedeutete: er war für sie verloren.

Sie wußte es selber nicht, wie sie es fertig gebracht hatte, am Nachmittag
unter Menschen zu sein, mit ihnen zu plaudern und zu flirten und dabei noch
ihre Pflichten als Haustochter zu erfüllen.

Traumhaft lag der Tag hinter ihr. Nun kühlte sie ihre fieberheißen Wangen
in der Nachtluft.

„Jetzt reitet er heimwärts!" sprach sie zu sich selbst. „Alle seine Gedanken
werden bei der anderen sein. Aber vielleicht erinnert ihn mein Band einmal
an mich! Was hat er wohl gemeint? Er sei auf dem Wege, weise zu werden?"

Mit den letzten schwachen Flügelschlägen ihrer Hoffnung versetzte sie sich in
die Möglichkeit, daß er mit seinem Wort die Abkehr von seiner Leidenschaft
und die Rückkehr zur Pflicht, zu allem, was gut und edel war, gemeint haben
könne. Sicher hätte er sich dann auch zu ihr zurückgefunden.

In solchen Gedanken schritt sie über den Hof und traf in der Tür mit
Sandberg zusammen:

„Das ist doch Ihre Schleife, gnädiges Fräulein?" Er hielt ihr das blonde
Seitenhaut hin. „Ich habe sie vor dem Hoftor draußen gefunden."

So belanglos es war, daß Wolff Joachim das Band wieder verloren hatte —
Edda sah darin die grausame Vernichtung ihrer letzten leisen Hoffnung.

Jetzt sich unter die Gäste zu mischen, ihnen mit gleichgültigem oder gar
heiterem Gesicht den Tee anzurichten, bedeutete sür sie eine Unmöglichkeit.

Wie ein Schatten huschte sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer und warf
sich aufs Bett. Alles um sie herum war ausgelöscht für sie. Der Vater, die
Schwestern, Sternburg mit seinen Gästen, ebenso wie die Gefahr, die sich im
Dunkel der Nacht gleich finsterem Gewölk um den alten Herrensitz zusammenzog.

Edles entschuldigte die Schwester. Sie brauchte nicht erst zu fragen, warum
sich Edda nicht sehen ließ. War sie doch selbst im stillen über Wolff Joachims
Gleichgültigkeit empört. Wie hatte er der Schwester noch bei seinem letzten Be¬
such zu verstehen gegeben, daß sie ihm mehr als alle anderen gefiele! Auch
mußte er wissen, daß man sie beide auf Borküll wie auf Sternburg im Familien¬
kreise ganz offen und ernsthaft als zukünftiges Paar ansah. Und doch heute
dieses fremde und anscheinend von keiner Erinnerung berührte Benehmen —
arme Edda!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/235>, abgerufen am 28.12.2024.