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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die armenisch - kurdische Frage

Eine kürzlich erschienene englische Flugschrift "l'dis pliZKt ok ^rmenia"
saßt die Greueltaten der Kurden im elf Kapitel zusammen, von denen die
hauptsächlichsten sind: Straßenrand und Mordanfälle auf dem Lande und in
den Städten, Gelderpressung unter Anwendung von Grausamkeiten, Wegnahme
von Vieh und Ländereien, Zerstörung von Eigentum.

Der Regierung in Konstantinopel ist dieser Zustand der Dinge natürlich
nicht unbekannt. Für prompte telegraphische Berichterstattung über jeden Fall
an das armenische Patriarchat ist jetzt gesorgt, und dieses beeilt sich, ihn dem
Großwesir oder dem Minister des Innern zu melden. Das bei dieser Bericht¬
erstattung starke Übertreibungen vorkommen, wird nicht nur von hohen türkischen
Beamten und selbstverständlich auch von den Kurden^) behauptet; selbst der
Katholikos von Cilicien hat sich (freiwillig?) veranlaßt gesehen, die im Memo¬
randum des Patriarchats gegen den Maki von Adana erhobenen Beschuldigungen
zu dementieren2). Die Regierung leugnet auch die Übelstände nicht ab. Der
Thronfolger hat beim Empfang einer Deputation des armenischen Nationalrats
offen anerkannt, daß man den Armeniern gegenüber weitgehende Verpflichtungen
habeDer ermordete Großwesir hat derselben Deputation (am 14. Mai)
erklärt, daß die Armenier unter allen christlichen Nationen der Türkei sich als die
loyalsten bewährt haben und das feste Versprechen zu helfen gegeben. Diese Ver¬
sprechungen eines Mahmud Schewket anzuzweifeln und seine Erklärungen als
ungenügend zu bezeichnen, war der Nationalrat nicht berechtigt (21. Mai)°).
Auch der Minister des Innern hat die Malis von Bitlis und Wan aufge¬
fordert mit größerem Eifer für Ruhe und Sicherheit zu sorgen"). Daß gegen¬
wärtig die Landfrage die Gemüter am meisten beschäftigt, dürfte ein Beweis für das
Nachlassen der Gewaltätigkeiten sein. Diese Frage der Wiedererstattung der
den Armeniern während der Massaker entrissenen oder von ihnen verlassenen und
von den Kurden okkupierten Grundstücke ist eine sehr schwierige, die Kurden
sind natürlich nicht geneigt ihre Beute herauszugeben, und die Regierung hat
anscheinend nicht nur nicht die Macht, sie hierzu zu zwingen, sondern kapituliert
vor ihren Drohungen. Sie hatte z. B. den Maki von Bitlis beauftragt, in
seiner Provinz die Regelung der Landfrage in die Hand zu nehmen. Als der
Keimmakam (Landrat) des Kreises Tschartschandschak daraufhin versuchte, den
Armeniern einige ihnen entrissene Grundstücke zurückzuverschaffen, war die
Regierung schwach genug dem Drängen der kurdischen Aghas auf eine Absetzung
stattzugeben (Mai 1913)?).









-) Osmanischer Lloyd ISIS. Ur. 1S2, 133.
2) Osmanischer Lloyd Ur. 120, 133.
-> Osmanischer Lloyd Ur. 12ö.
4) Osmanischer Lloyd Ur. 130.
°) Osmanischer Lloyd Ur. 121.
Osmanischer Lloyd Ur. 132.
') Osmanischer Lloyd Ur. 122.
Die armenisch - kurdische Frage

Eine kürzlich erschienene englische Flugschrift „l'dis pliZKt ok ^rmenia"
saßt die Greueltaten der Kurden im elf Kapitel zusammen, von denen die
hauptsächlichsten sind: Straßenrand und Mordanfälle auf dem Lande und in
den Städten, Gelderpressung unter Anwendung von Grausamkeiten, Wegnahme
von Vieh und Ländereien, Zerstörung von Eigentum.

Der Regierung in Konstantinopel ist dieser Zustand der Dinge natürlich
nicht unbekannt. Für prompte telegraphische Berichterstattung über jeden Fall
an das armenische Patriarchat ist jetzt gesorgt, und dieses beeilt sich, ihn dem
Großwesir oder dem Minister des Innern zu melden. Das bei dieser Bericht¬
erstattung starke Übertreibungen vorkommen, wird nicht nur von hohen türkischen
Beamten und selbstverständlich auch von den Kurden^) behauptet; selbst der
Katholikos von Cilicien hat sich (freiwillig?) veranlaßt gesehen, die im Memo¬
randum des Patriarchats gegen den Maki von Adana erhobenen Beschuldigungen
zu dementieren2). Die Regierung leugnet auch die Übelstände nicht ab. Der
Thronfolger hat beim Empfang einer Deputation des armenischen Nationalrats
offen anerkannt, daß man den Armeniern gegenüber weitgehende Verpflichtungen
habeDer ermordete Großwesir hat derselben Deputation (am 14. Mai)
erklärt, daß die Armenier unter allen christlichen Nationen der Türkei sich als die
loyalsten bewährt haben und das feste Versprechen zu helfen gegeben. Diese Ver¬
sprechungen eines Mahmud Schewket anzuzweifeln und seine Erklärungen als
ungenügend zu bezeichnen, war der Nationalrat nicht berechtigt (21. Mai)°).
Auch der Minister des Innern hat die Malis von Bitlis und Wan aufge¬
fordert mit größerem Eifer für Ruhe und Sicherheit zu sorgen«). Daß gegen¬
wärtig die Landfrage die Gemüter am meisten beschäftigt, dürfte ein Beweis für das
Nachlassen der Gewaltätigkeiten sein. Diese Frage der Wiedererstattung der
den Armeniern während der Massaker entrissenen oder von ihnen verlassenen und
von den Kurden okkupierten Grundstücke ist eine sehr schwierige, die Kurden
sind natürlich nicht geneigt ihre Beute herauszugeben, und die Regierung hat
anscheinend nicht nur nicht die Macht, sie hierzu zu zwingen, sondern kapituliert
vor ihren Drohungen. Sie hatte z. B. den Maki von Bitlis beauftragt, in
seiner Provinz die Regelung der Landfrage in die Hand zu nehmen. Als der
Keimmakam (Landrat) des Kreises Tschartschandschak daraufhin versuchte, den
Armeniern einige ihnen entrissene Grundstücke zurückzuverschaffen, war die
Regierung schwach genug dem Drängen der kurdischen Aghas auf eine Absetzung
stattzugeben (Mai 1913)?).









-) Osmanischer Lloyd ISIS. Ur. 1S2, 133.
2) Osmanischer Lloyd Ur. 120, 133.
-> Osmanischer Lloyd Ur. 12ö.
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[0023] Die armenisch - kurdische Frage Eine kürzlich erschienene englische Flugschrift „l'dis pliZKt ok ^rmenia" saßt die Greueltaten der Kurden im elf Kapitel zusammen, von denen die hauptsächlichsten sind: Straßenrand und Mordanfälle auf dem Lande und in den Städten, Gelderpressung unter Anwendung von Grausamkeiten, Wegnahme von Vieh und Ländereien, Zerstörung von Eigentum. Der Regierung in Konstantinopel ist dieser Zustand der Dinge natürlich nicht unbekannt. Für prompte telegraphische Berichterstattung über jeden Fall an das armenische Patriarchat ist jetzt gesorgt, und dieses beeilt sich, ihn dem Großwesir oder dem Minister des Innern zu melden. Das bei dieser Bericht¬ erstattung starke Übertreibungen vorkommen, wird nicht nur von hohen türkischen Beamten und selbstverständlich auch von den Kurden^) behauptet; selbst der Katholikos von Cilicien hat sich (freiwillig?) veranlaßt gesehen, die im Memo¬ randum des Patriarchats gegen den Maki von Adana erhobenen Beschuldigungen zu dementieren2). Die Regierung leugnet auch die Übelstände nicht ab. Der Thronfolger hat beim Empfang einer Deputation des armenischen Nationalrats offen anerkannt, daß man den Armeniern gegenüber weitgehende Verpflichtungen habeDer ermordete Großwesir hat derselben Deputation (am 14. Mai) erklärt, daß die Armenier unter allen christlichen Nationen der Türkei sich als die loyalsten bewährt haben und das feste Versprechen zu helfen gegeben. Diese Ver¬ sprechungen eines Mahmud Schewket anzuzweifeln und seine Erklärungen als ungenügend zu bezeichnen, war der Nationalrat nicht berechtigt (21. Mai)°). Auch der Minister des Innern hat die Malis von Bitlis und Wan aufge¬ fordert mit größerem Eifer für Ruhe und Sicherheit zu sorgen«). Daß gegen¬ wärtig die Landfrage die Gemüter am meisten beschäftigt, dürfte ein Beweis für das Nachlassen der Gewaltätigkeiten sein. Diese Frage der Wiedererstattung der den Armeniern während der Massaker entrissenen oder von ihnen verlassenen und von den Kurden okkupierten Grundstücke ist eine sehr schwierige, die Kurden sind natürlich nicht geneigt ihre Beute herauszugeben, und die Regierung hat anscheinend nicht nur nicht die Macht, sie hierzu zu zwingen, sondern kapituliert vor ihren Drohungen. Sie hatte z. B. den Maki von Bitlis beauftragt, in seiner Provinz die Regelung der Landfrage in die Hand zu nehmen. Als der Keimmakam (Landrat) des Kreises Tschartschandschak daraufhin versuchte, den Armeniern einige ihnen entrissene Grundstücke zurückzuverschaffen, war die Regierung schwach genug dem Drängen der kurdischen Aghas auf eine Absetzung stattzugeben (Mai 1913)?). -) Osmanischer Lloyd ISIS. Ur. 1S2, 133. 2) Osmanischer Lloyd Ur. 120, 133. -> Osmanischer Lloyd Ur. 12ö. 4) Osmanischer Lloyd Ur. 130. °) Osmanischer Lloyd Ur. 121. Osmanischer Lloyd Ur. 132. ') Osmanischer Lloyd Ur. 122.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/23>, abgerufen am 28.12.2024.