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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren

Reihe Schriften, die ganz unverhüllt auf die geschlechtlichen Regungen des
Menschen berechnet sind, und es scheint, als wenn es dieser Art Bücher in
Ilmenau an Lesern nicht gefehlt hätte. Von 1826 bis 1838 hatte Brockhaus
die Erinnerungen Casanovas veröffentlicht. Es ist also nicht verwunderlich,
wenn wir in der Jlmenauer Bibliothek nicht nur eine Auswahl aus seinen
Memoiren, sondern auch eine kümmerliche Nachahmung: "Casanovas des Zweiten
Liebschaften" vorfinden. An Stoff hat es ja gerade auf diesem Gebiet zu
keiner Zeit gefehlt. Man schilderte die "Liebschaften einer Dame vom Stande",
offenbarte die "Bekenntnisse einer schönen Frau" oder ging in die noch nicht
allzufern liegende Zeit der fürstlichen Mätressenwirtschaft zurück. Dort fand
man des verlockendsten Stoffes genug und übergenug. Man erzählte die
"Galanterien und Liebesgeschichten Augusts des Starken", berichtete über den
"Hirschpark oder das Serail Ludwig des Fünfzehnten" oder vertiefte sich in
die "Geheime Geschichte der galanten Abenteuer und Liebesgeschichten des
Kaisers Napoleon und seiner vier Brüder". Daneben stehen einige Werke,
die eines gewissen literarischen Wertes nicht entbehren. So übersetzte Brnckbräu
unter dem Titel "Geheime Liebschaften von Pariser Hofdamen" die ttiswirs
Amouren8s etes Qaule8 des Grafen Roger von Bussy-Rabutin und veröffent-
lichte als Beitrag zur LKroniquö scAnckaleuZe am Hof Ludwig des Sechzehnten
die Erinnerungen des Grafen von Tilln, die seitdem verschollen waren und
erst neuerdings -- eben nach Bruckbräus Übersetzung -- in I. Blochs sexual-
psychologischer Bibliothek wieder herausgegeben morden sind.

Bei der großen Vorliebe, die man zu jener Zeit für alle erzählende
Literatur hatte, ist es zu verstehen, wenn auch die Reisebeschreibungen wie die
geschichtlichen Werke weniger den Zweck verfolgten, ihre Leser zu belehren als
zu unterhalten. In den Jahren 1828 und 1829 hatte Fürst Pückler-Muskau
die "Briefe eines Verstorbenen" veröffentlicht, die ein fragmentarisches Tagebuch
aus England, Wales, Irland und Frankreich darstellten und trotz ihres
wunderlich gezierten Stils den allergrößten Erfolg hatten. Einen so wirksamen
Schriftsteller konnte sich natürlich auch unsere Bibliothek nicht entgehen lassen,
und so hatte sie nicht weniger als 17 Bände der Schriften Pückler-Muskaus
aufgenommen. Dafür hielt sich der Besitzer aber auch sür berechtigt, mit Stolz
auf das große Opfer hinzuweisen, welches er zugunsten seiner Leser gebracht
hatte. Denn er fügt in einer Klammer hinzu: "Auf diese vortrefflichen Werke
des hohen Verfassers machen wir besonders aufmerksam, weil sie, des hohen
Preises halber, höchst selten in eine Leihbibliothek aufgenommen werden." Wer
liest wohl jetzt noch "die vortrefflichen Werke des hohen Verfassers?" Wie
schnell erlischt doch so manches Licht, an dessen Glanz sich einst so viele er¬
freuten! Das Vorbild Pücklers fand Nachahmung: es regnete bald wieder
Reisebilder, bei denen es weniger darauf ankam, was der Verfasser, als wie
er es gesehen und was er dabei gedacht und empfunden hatte, und auch unsere
Bibliothek bietet uicht weniger als 89 Bände dieser beliebten Literatur.


Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren

Reihe Schriften, die ganz unverhüllt auf die geschlechtlichen Regungen des
Menschen berechnet sind, und es scheint, als wenn es dieser Art Bücher in
Ilmenau an Lesern nicht gefehlt hätte. Von 1826 bis 1838 hatte Brockhaus
die Erinnerungen Casanovas veröffentlicht. Es ist also nicht verwunderlich,
wenn wir in der Jlmenauer Bibliothek nicht nur eine Auswahl aus seinen
Memoiren, sondern auch eine kümmerliche Nachahmung: „Casanovas des Zweiten
Liebschaften" vorfinden. An Stoff hat es ja gerade auf diesem Gebiet zu
keiner Zeit gefehlt. Man schilderte die „Liebschaften einer Dame vom Stande",
offenbarte die „Bekenntnisse einer schönen Frau" oder ging in die noch nicht
allzufern liegende Zeit der fürstlichen Mätressenwirtschaft zurück. Dort fand
man des verlockendsten Stoffes genug und übergenug. Man erzählte die
„Galanterien und Liebesgeschichten Augusts des Starken", berichtete über den
„Hirschpark oder das Serail Ludwig des Fünfzehnten" oder vertiefte sich in
die „Geheime Geschichte der galanten Abenteuer und Liebesgeschichten des
Kaisers Napoleon und seiner vier Brüder". Daneben stehen einige Werke,
die eines gewissen literarischen Wertes nicht entbehren. So übersetzte Brnckbräu
unter dem Titel „Geheime Liebschaften von Pariser Hofdamen" die ttiswirs
Amouren8s etes Qaule8 des Grafen Roger von Bussy-Rabutin und veröffent-
lichte als Beitrag zur LKroniquö scAnckaleuZe am Hof Ludwig des Sechzehnten
die Erinnerungen des Grafen von Tilln, die seitdem verschollen waren und
erst neuerdings — eben nach Bruckbräus Übersetzung — in I. Blochs sexual-
psychologischer Bibliothek wieder herausgegeben morden sind.

Bei der großen Vorliebe, die man zu jener Zeit für alle erzählende
Literatur hatte, ist es zu verstehen, wenn auch die Reisebeschreibungen wie die
geschichtlichen Werke weniger den Zweck verfolgten, ihre Leser zu belehren als
zu unterhalten. In den Jahren 1828 und 1829 hatte Fürst Pückler-Muskau
die „Briefe eines Verstorbenen" veröffentlicht, die ein fragmentarisches Tagebuch
aus England, Wales, Irland und Frankreich darstellten und trotz ihres
wunderlich gezierten Stils den allergrößten Erfolg hatten. Einen so wirksamen
Schriftsteller konnte sich natürlich auch unsere Bibliothek nicht entgehen lassen,
und so hatte sie nicht weniger als 17 Bände der Schriften Pückler-Muskaus
aufgenommen. Dafür hielt sich der Besitzer aber auch sür berechtigt, mit Stolz
auf das große Opfer hinzuweisen, welches er zugunsten seiner Leser gebracht
hatte. Denn er fügt in einer Klammer hinzu: „Auf diese vortrefflichen Werke
des hohen Verfassers machen wir besonders aufmerksam, weil sie, des hohen
Preises halber, höchst selten in eine Leihbibliothek aufgenommen werden." Wer
liest wohl jetzt noch „die vortrefflichen Werke des hohen Verfassers?" Wie
schnell erlischt doch so manches Licht, an dessen Glanz sich einst so viele er¬
freuten! Das Vorbild Pücklers fand Nachahmung: es regnete bald wieder
Reisebilder, bei denen es weniger darauf ankam, was der Verfasser, als wie
er es gesehen und was er dabei gedacht und empfunden hatte, und auch unsere
Bibliothek bietet uicht weniger als 89 Bände dieser beliebten Literatur.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/225>, abgerufen am 20.10.2024.