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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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setzte und sich in den führenden Geistern des jungen Deutschlands eine starke
Bewegung gegen die schwärmerische Versenkung der Romantik in Mittelalter
und Rittertum geltend machte. Schon war Heines "Buch der Lieder" erschienen,
Börne sandte seine zornigen "Briefe aus Paris", Gutzkow gab in holprigen
Deutsch seinen umstürzlerischen Gedanken über Ehe und Sitte Ausdruck, Grabbe
schuf seine genialisch maßlosen Dramen. Daneben liegen die Anfänge größerer
Geister, stehen Werke, die noch heute zu den edelsten Schätzen unserer Dichtung
rechnen. 1832 schrieb Mörike seinen "Maler Rollen", 1840 eröffnete Hebbel
mit "Judith" die glänzende Reihe seiner Dramen, 1849 erreichte Otto Ludwig
im "Erbförster" den Höhepunkt seiner Entwicklung, von 1851 bis 1855 schenkte
Gottfried Keller in seinem "Grünen Heinrich" der deutschsprachigen Welt den
bedeutendsten Roman seit Goethes Wilhelm Meister und den Wahlverwandt¬
schaften.

Da ist es denn bezeichnend genug, daß von all diesem neuen, frischen
Leben in unserer Bücherei kaum ein schwacher Hauch zu spüren ist. Heinrich
Heine ist überhaupt nicht vertreten, Gutzkow nur mit zwei Bänden belangloser
Dramen; all die anderen oben erwähnten großen Namen sucht man vergebens.
Allein Gustav Freytag hat noch mit seinem Roman "Soll und Haben" Auf¬
nahme gefunden. Vielleicht können wir diesen Mangel an neuerer Literatur
noch verstehen und entschuldigen. Denn bei der langsam schwerfälligen Art
abgelegener Landstädtchen wird es immer geraume Zeit dauern, bis dort neue
Werke nicht nur bekannt, sondern auch gelesen werden. Aber auch mit der
Literatur der klassischen Periode ist es nicht eben zum besten bestellt. Wohl
finden wir eine Anzahl Namen wenigstens durch Anthologien aus ihren Werken
vertreten, darunter gar manche, die uns heute etwas altväterisch anmuten wie
Gleim, Haller, Rabener, Ernst Schulze. Selbst Klopstock fehlt mit seinem
"Messias" nicht -- ob er wohl noch eifrig gelesen wurde? Jedoch begegnen
wir von Lessing nur drei Werken: Nathan, Emilia Galottc und Minna von
Barnhelm; Goethe und Schiller fehlen ganz. Nun werden wir allerdings auch
heute die Werke dieser beiden Großen vergebens in unseren Leihbibliotheken
suchen. Das ist aber immerhin etwas ganz anderes. Denn heute kann ein
jeder sich die Werke unserer Klassiker in trefflichen Ausgaben für ein billiges
erstehen, während sie in jener Zeit fast nur in privilegierten Ausgaben zu
haben und wegen ihres hohen Preises für bescheidenere Börsen nicht zu er¬
schwingen waren. Ganz besonders Goethes Werke hätte man in einer Jlme-
nauer Leihbibliothek wohl zu finden erwarten dürfen. Denn gerade um diese
Stadt hatte sich Goethe höchst verdient gemacht, in jahrzehntelanger Arbeit für
ihr Wohl und Gedeihen gewirkt, und noch gab es Leute genug, die den
Olympier bei seinem letzten Besuch persönlich gesehen und begrüßt hatten.

Statt dessen ist die Eigenart unserer Bibliothek völlig durch die unüberseh¬
bare Erzählungsliteratur jener Zeit, durch empfindsame Reisebeschreibungen und
jene Ritter- und Räuberromane bestimmt, in denen die Begeisterung der No-


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Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren

setzte und sich in den führenden Geistern des jungen Deutschlands eine starke
Bewegung gegen die schwärmerische Versenkung der Romantik in Mittelalter
und Rittertum geltend machte. Schon war Heines „Buch der Lieder" erschienen,
Börne sandte seine zornigen „Briefe aus Paris", Gutzkow gab in holprigen
Deutsch seinen umstürzlerischen Gedanken über Ehe und Sitte Ausdruck, Grabbe
schuf seine genialisch maßlosen Dramen. Daneben liegen die Anfänge größerer
Geister, stehen Werke, die noch heute zu den edelsten Schätzen unserer Dichtung
rechnen. 1832 schrieb Mörike seinen „Maler Rollen", 1840 eröffnete Hebbel
mit „Judith" die glänzende Reihe seiner Dramen, 1849 erreichte Otto Ludwig
im „Erbförster" den Höhepunkt seiner Entwicklung, von 1851 bis 1855 schenkte
Gottfried Keller in seinem „Grünen Heinrich" der deutschsprachigen Welt den
bedeutendsten Roman seit Goethes Wilhelm Meister und den Wahlverwandt¬
schaften.

Da ist es denn bezeichnend genug, daß von all diesem neuen, frischen
Leben in unserer Bücherei kaum ein schwacher Hauch zu spüren ist. Heinrich
Heine ist überhaupt nicht vertreten, Gutzkow nur mit zwei Bänden belangloser
Dramen; all die anderen oben erwähnten großen Namen sucht man vergebens.
Allein Gustav Freytag hat noch mit seinem Roman „Soll und Haben" Auf¬
nahme gefunden. Vielleicht können wir diesen Mangel an neuerer Literatur
noch verstehen und entschuldigen. Denn bei der langsam schwerfälligen Art
abgelegener Landstädtchen wird es immer geraume Zeit dauern, bis dort neue
Werke nicht nur bekannt, sondern auch gelesen werden. Aber auch mit der
Literatur der klassischen Periode ist es nicht eben zum besten bestellt. Wohl
finden wir eine Anzahl Namen wenigstens durch Anthologien aus ihren Werken
vertreten, darunter gar manche, die uns heute etwas altväterisch anmuten wie
Gleim, Haller, Rabener, Ernst Schulze. Selbst Klopstock fehlt mit seinem
„Messias" nicht — ob er wohl noch eifrig gelesen wurde? Jedoch begegnen
wir von Lessing nur drei Werken: Nathan, Emilia Galottc und Minna von
Barnhelm; Goethe und Schiller fehlen ganz. Nun werden wir allerdings auch
heute die Werke dieser beiden Großen vergebens in unseren Leihbibliotheken
suchen. Das ist aber immerhin etwas ganz anderes. Denn heute kann ein
jeder sich die Werke unserer Klassiker in trefflichen Ausgaben für ein billiges
erstehen, während sie in jener Zeit fast nur in privilegierten Ausgaben zu
haben und wegen ihres hohen Preises für bescheidenere Börsen nicht zu er¬
schwingen waren. Ganz besonders Goethes Werke hätte man in einer Jlme-
nauer Leihbibliothek wohl zu finden erwarten dürfen. Denn gerade um diese
Stadt hatte sich Goethe höchst verdient gemacht, in jahrzehntelanger Arbeit für
ihr Wohl und Gedeihen gewirkt, und noch gab es Leute genug, die den
Olympier bei seinem letzten Besuch persönlich gesehen und begrüßt hatten.

Statt dessen ist die Eigenart unserer Bibliothek völlig durch die unüberseh¬
bare Erzählungsliteratur jener Zeit, durch empfindsame Reisebeschreibungen und
jene Ritter- und Räuberromane bestimmt, in denen die Begeisterung der No-


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[0223] Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren setzte und sich in den führenden Geistern des jungen Deutschlands eine starke Bewegung gegen die schwärmerische Versenkung der Romantik in Mittelalter und Rittertum geltend machte. Schon war Heines „Buch der Lieder" erschienen, Börne sandte seine zornigen „Briefe aus Paris", Gutzkow gab in holprigen Deutsch seinen umstürzlerischen Gedanken über Ehe und Sitte Ausdruck, Grabbe schuf seine genialisch maßlosen Dramen. Daneben liegen die Anfänge größerer Geister, stehen Werke, die noch heute zu den edelsten Schätzen unserer Dichtung rechnen. 1832 schrieb Mörike seinen „Maler Rollen", 1840 eröffnete Hebbel mit „Judith" die glänzende Reihe seiner Dramen, 1849 erreichte Otto Ludwig im „Erbförster" den Höhepunkt seiner Entwicklung, von 1851 bis 1855 schenkte Gottfried Keller in seinem „Grünen Heinrich" der deutschsprachigen Welt den bedeutendsten Roman seit Goethes Wilhelm Meister und den Wahlverwandt¬ schaften. Da ist es denn bezeichnend genug, daß von all diesem neuen, frischen Leben in unserer Bücherei kaum ein schwacher Hauch zu spüren ist. Heinrich Heine ist überhaupt nicht vertreten, Gutzkow nur mit zwei Bänden belangloser Dramen; all die anderen oben erwähnten großen Namen sucht man vergebens. Allein Gustav Freytag hat noch mit seinem Roman „Soll und Haben" Auf¬ nahme gefunden. Vielleicht können wir diesen Mangel an neuerer Literatur noch verstehen und entschuldigen. Denn bei der langsam schwerfälligen Art abgelegener Landstädtchen wird es immer geraume Zeit dauern, bis dort neue Werke nicht nur bekannt, sondern auch gelesen werden. Aber auch mit der Literatur der klassischen Periode ist es nicht eben zum besten bestellt. Wohl finden wir eine Anzahl Namen wenigstens durch Anthologien aus ihren Werken vertreten, darunter gar manche, die uns heute etwas altväterisch anmuten wie Gleim, Haller, Rabener, Ernst Schulze. Selbst Klopstock fehlt mit seinem „Messias" nicht — ob er wohl noch eifrig gelesen wurde? Jedoch begegnen wir von Lessing nur drei Werken: Nathan, Emilia Galottc und Minna von Barnhelm; Goethe und Schiller fehlen ganz. Nun werden wir allerdings auch heute die Werke dieser beiden Großen vergebens in unseren Leihbibliotheken suchen. Das ist aber immerhin etwas ganz anderes. Denn heute kann ein jeder sich die Werke unserer Klassiker in trefflichen Ausgaben für ein billiges erstehen, während sie in jener Zeit fast nur in privilegierten Ausgaben zu haben und wegen ihres hohen Preises für bescheidenere Börsen nicht zu er¬ schwingen waren. Ganz besonders Goethes Werke hätte man in einer Jlme- nauer Leihbibliothek wohl zu finden erwarten dürfen. Denn gerade um diese Stadt hatte sich Goethe höchst verdient gemacht, in jahrzehntelanger Arbeit für ihr Wohl und Gedeihen gewirkt, und noch gab es Leute genug, die den Olympier bei seinem letzten Besuch persönlich gesehen und begrüßt hatten. Statt dessen ist die Eigenart unserer Bibliothek völlig durch die unüberseh¬ bare Erzählungsliteratur jener Zeit, durch empfindsame Reisebeschreibungen und jene Ritter- und Räuberromane bestimmt, in denen die Begeisterung der No- 14»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/223>, abgerufen am 20.10.2024.