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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Bedeutung der englischen Kinderausrvcmdernng

Tisch dreimal am Tage reichlich und mit sorgfältig zubereiteten Speisen bedeckt
zu sein. Aber ehe um 6 Uhr das Frühmahl mundet, ist schon ein gut Stück
Arbeit getan, bei der auch Kinder beizeiten mit angreifen, wenn es Kühe melken.
Schweine füttern, Hühner besorgen u. a. in. gilt. Die Gefahr der Über¬
arbeitung ist bei Knaben zweifellos vorhanden. Der Farmer stellt oft nur aus
Unbedacht an englische Stadtkinder Anforderungen, denen feine eigenen oder
andere kanadische Sprößlinge ohne weiteres gewachsen sind. Von Mädchen wird
in Kanada, wo man das weibliche Geschlecht, wie in den Vereinigten Staaten,
hochachtet und auf jede Weise schont, niemals schwere körperliche Arbeit verlangt.
Ihre Arbeit besteht in Kinderhüten und häuslicher Betätigung. Kontraktlich
wird sogar festgelegt, daß Mädchen nicht zur Feldarbeit herangezogen werden
dürfen.

Neben dem Arbeitsmaß bildet der Schulbesuch einen der strittigen Punkte,
deretwegen die Inspektion der Kinder unentbehrlich ist.

Das Schulwesen ist in Kanada theoretisch geradezu vorzüglich nach dem
Muster maßgebender europäischer Länder ausgearbeitet, und auch in dem Koloni¬
sationsplan der Dominion nimmt es eine wichtige Stelle ein. In den östlichen Pro¬
vinzen, die ja ausschließlich für die Kindereinwanderung in Betracht kommen,
herrscht sogar, wie bei uns, gesetzlicher Schulzwang. Er wird aber nicht
streng durchgeführt und es bedarf nachdrücklicher Kontrolle, um den Kindern
das nötige Maß an Schulweisheit zu sichern. Die Kinder gehen gern zur
Schule, denn hier zeigt sich, im Gegensatz zum Farmerleben, englische
Überlegenheit. Preise und Belobigungen werden mit Vorliebe von jungen
Briten eingeheimst und ihre Anwesenheit wirkt geistig anregend auf die ganze
Klasse.

Von großem Wert für die jungen Einwanderer ist der durch und durch
demokratische Sinn, der Leben und Gewohnheiten des kanadischen Volkes durch¬
zieht. Auf einer kanadischen Farm gibt es wohl Befehlen und Gehorchen, wie
es die Arbeit heischt, aber kein soziales Unterworfensein, keine soziale Scheide¬
wand zwischen dem. der befiehlt und dem, der gehorcht. Kein Knecht würde
zum Beispiel auf einer kanadischen Farm arbeiten, wo ihm der Platz an dem
Familientisch bei den Mahlzeiten verweigert würde. Ein Kind wird erst recht
in den Kreis der Familie völlig aufgenommen und sehr häufig entwickeln sich
Beziehungen, die den Vergleich mit den besten Eltern- und Kindesgefühlen
aushalten. Das kommt auch in Europa vor, aber selten und nie in so
natürlicher und selbstverständlicher Weise wie in Kanada, wo vielleicht die Ab¬
geschlossenheit des Farmerlebens das Jneinandereinleben besonders begünstigt.

Nicht jedem Kind gelingt es. in seinem neuen Heim Wurzel zu fassen.
Dann werden Kind und Heim gewechselt und eine neue Konstellation versucht.
Liegt Mißverhalten des Kindes vor, so kehrt es auf einige Zeit in das Empfangs¬
heim zurück, bevor der Versuch einer anderweitigen Unterbringung gemacht wird. Un¬
verbesserliche Kinder werden meist nach England zurückgebracht, ehe sie mit den


Die Bedeutung der englischen Kinderausrvcmdernng

Tisch dreimal am Tage reichlich und mit sorgfältig zubereiteten Speisen bedeckt
zu sein. Aber ehe um 6 Uhr das Frühmahl mundet, ist schon ein gut Stück
Arbeit getan, bei der auch Kinder beizeiten mit angreifen, wenn es Kühe melken.
Schweine füttern, Hühner besorgen u. a. in. gilt. Die Gefahr der Über¬
arbeitung ist bei Knaben zweifellos vorhanden. Der Farmer stellt oft nur aus
Unbedacht an englische Stadtkinder Anforderungen, denen feine eigenen oder
andere kanadische Sprößlinge ohne weiteres gewachsen sind. Von Mädchen wird
in Kanada, wo man das weibliche Geschlecht, wie in den Vereinigten Staaten,
hochachtet und auf jede Weise schont, niemals schwere körperliche Arbeit verlangt.
Ihre Arbeit besteht in Kinderhüten und häuslicher Betätigung. Kontraktlich
wird sogar festgelegt, daß Mädchen nicht zur Feldarbeit herangezogen werden
dürfen.

Neben dem Arbeitsmaß bildet der Schulbesuch einen der strittigen Punkte,
deretwegen die Inspektion der Kinder unentbehrlich ist.

Das Schulwesen ist in Kanada theoretisch geradezu vorzüglich nach dem
Muster maßgebender europäischer Länder ausgearbeitet, und auch in dem Koloni¬
sationsplan der Dominion nimmt es eine wichtige Stelle ein. In den östlichen Pro¬
vinzen, die ja ausschließlich für die Kindereinwanderung in Betracht kommen,
herrscht sogar, wie bei uns, gesetzlicher Schulzwang. Er wird aber nicht
streng durchgeführt und es bedarf nachdrücklicher Kontrolle, um den Kindern
das nötige Maß an Schulweisheit zu sichern. Die Kinder gehen gern zur
Schule, denn hier zeigt sich, im Gegensatz zum Farmerleben, englische
Überlegenheit. Preise und Belobigungen werden mit Vorliebe von jungen
Briten eingeheimst und ihre Anwesenheit wirkt geistig anregend auf die ganze
Klasse.

Von großem Wert für die jungen Einwanderer ist der durch und durch
demokratische Sinn, der Leben und Gewohnheiten des kanadischen Volkes durch¬
zieht. Auf einer kanadischen Farm gibt es wohl Befehlen und Gehorchen, wie
es die Arbeit heischt, aber kein soziales Unterworfensein, keine soziale Scheide¬
wand zwischen dem. der befiehlt und dem, der gehorcht. Kein Knecht würde
zum Beispiel auf einer kanadischen Farm arbeiten, wo ihm der Platz an dem
Familientisch bei den Mahlzeiten verweigert würde. Ein Kind wird erst recht
in den Kreis der Familie völlig aufgenommen und sehr häufig entwickeln sich
Beziehungen, die den Vergleich mit den besten Eltern- und Kindesgefühlen
aushalten. Das kommt auch in Europa vor, aber selten und nie in so
natürlicher und selbstverständlicher Weise wie in Kanada, wo vielleicht die Ab¬
geschlossenheit des Farmerlebens das Jneinandereinleben besonders begünstigt.

Nicht jedem Kind gelingt es. in seinem neuen Heim Wurzel zu fassen.
Dann werden Kind und Heim gewechselt und eine neue Konstellation versucht.
Liegt Mißverhalten des Kindes vor, so kehrt es auf einige Zeit in das Empfangs¬
heim zurück, bevor der Versuch einer anderweitigen Unterbringung gemacht wird. Un¬
verbesserliche Kinder werden meist nach England zurückgebracht, ehe sie mit den


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[0215] Die Bedeutung der englischen Kinderausrvcmdernng Tisch dreimal am Tage reichlich und mit sorgfältig zubereiteten Speisen bedeckt zu sein. Aber ehe um 6 Uhr das Frühmahl mundet, ist schon ein gut Stück Arbeit getan, bei der auch Kinder beizeiten mit angreifen, wenn es Kühe melken. Schweine füttern, Hühner besorgen u. a. in. gilt. Die Gefahr der Über¬ arbeitung ist bei Knaben zweifellos vorhanden. Der Farmer stellt oft nur aus Unbedacht an englische Stadtkinder Anforderungen, denen feine eigenen oder andere kanadische Sprößlinge ohne weiteres gewachsen sind. Von Mädchen wird in Kanada, wo man das weibliche Geschlecht, wie in den Vereinigten Staaten, hochachtet und auf jede Weise schont, niemals schwere körperliche Arbeit verlangt. Ihre Arbeit besteht in Kinderhüten und häuslicher Betätigung. Kontraktlich wird sogar festgelegt, daß Mädchen nicht zur Feldarbeit herangezogen werden dürfen. Neben dem Arbeitsmaß bildet der Schulbesuch einen der strittigen Punkte, deretwegen die Inspektion der Kinder unentbehrlich ist. Das Schulwesen ist in Kanada theoretisch geradezu vorzüglich nach dem Muster maßgebender europäischer Länder ausgearbeitet, und auch in dem Koloni¬ sationsplan der Dominion nimmt es eine wichtige Stelle ein. In den östlichen Pro¬ vinzen, die ja ausschließlich für die Kindereinwanderung in Betracht kommen, herrscht sogar, wie bei uns, gesetzlicher Schulzwang. Er wird aber nicht streng durchgeführt und es bedarf nachdrücklicher Kontrolle, um den Kindern das nötige Maß an Schulweisheit zu sichern. Die Kinder gehen gern zur Schule, denn hier zeigt sich, im Gegensatz zum Farmerleben, englische Überlegenheit. Preise und Belobigungen werden mit Vorliebe von jungen Briten eingeheimst und ihre Anwesenheit wirkt geistig anregend auf die ganze Klasse. Von großem Wert für die jungen Einwanderer ist der durch und durch demokratische Sinn, der Leben und Gewohnheiten des kanadischen Volkes durch¬ zieht. Auf einer kanadischen Farm gibt es wohl Befehlen und Gehorchen, wie es die Arbeit heischt, aber kein soziales Unterworfensein, keine soziale Scheide¬ wand zwischen dem. der befiehlt und dem, der gehorcht. Kein Knecht würde zum Beispiel auf einer kanadischen Farm arbeiten, wo ihm der Platz an dem Familientisch bei den Mahlzeiten verweigert würde. Ein Kind wird erst recht in den Kreis der Familie völlig aufgenommen und sehr häufig entwickeln sich Beziehungen, die den Vergleich mit den besten Eltern- und Kindesgefühlen aushalten. Das kommt auch in Europa vor, aber selten und nie in so natürlicher und selbstverständlicher Weise wie in Kanada, wo vielleicht die Ab¬ geschlossenheit des Farmerlebens das Jneinandereinleben besonders begünstigt. Nicht jedem Kind gelingt es. in seinem neuen Heim Wurzel zu fassen. Dann werden Kind und Heim gewechselt und eine neue Konstellation versucht. Liegt Mißverhalten des Kindes vor, so kehrt es auf einige Zeit in das Empfangs¬ heim zurück, bevor der Versuch einer anderweitigen Unterbringung gemacht wird. Un¬ verbesserliche Kinder werden meist nach England zurückgebracht, ehe sie mit den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/215>, abgerufen am 21.10.2024.