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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Freisinnige Aolonialpolitik unter Bismarck

freisinniger Redeweise bewilligten sie daher für die "Kinderkrankheit" der jüngsten
Großmacht praktisch nur soviel als notwendig war. um die Sympathien ihrer
Wähler nicht ganz zu verlieren; im Frühjahr 1885 erklärten sie aber durch
Stauffenberg theoretisch und offiziell nur zu dem von Bismarck in der denk¬
würdigen Budgetkommission vom 23. Juni 1884 eröffneten Kolonialprogramm
ihre Zustimmung, um sie freilich wieder von jedesmaliger genauer Vorprüfung
der innerhalb dieses Programms liegenden Vorlagen abhängig zu machen!

Ihr Haupt war Ludwig Bamberger*), der die Bismarcksche Kolonialpolitik
im Reichstage vor allem erschwerte und von allem Anfang an bekämpfte, wie
er allein schon die Samoavorlage tatsächlich zu Fall gebracht hatte. Die Art
seiner oft skrupellos konsequenten Dialektik, die nach einem Worte Stephans""')
seine Reden zur Hälfte richtig, zur anderen Hälfte aber doppelt falsch machte,
gestaltete seine Diskussionen mit der Regierung vielfach unerträglich. Denn er
verstand es nach Bismarcks Beobachtungen""') durch kleine Verdrehungen und
Verschiebungen sich deren Argumente derartig schußgerecht zu machen, daß sie
seine Anschauungen geradezu zu bestätigen schienen. Ihre Erklärung aber findet
seine zersetzend und pessimistisch erscheinende Kritik mit ihrer völligen Verständnis-
losigkeit für die Bedeutung einer nationalen Schutzzoll-, Flotten-, Kolonial- und
"Weltpolitik" (im modernen Sinne) in seiner völligen Abhängigkeit von tradi>
tionellen Zwangsvorstellungen. Mit seinem liberalen Ideal eines kosmopolitischen
Individualismus dünkte ihn eben nur der absolute Freihandel vereinbar, während
ihm jede nationale Schutzpolitik als Bindung der Kräfte erschien, sei es nun
auf sozialem oder wirtschaftlichem Gebiete. Aus manchesterlicher Überzeugung
und aus Furcht vor großen Ausgaben für Rüstungszwecke lehnte er darum
auch jede staatliche Kolonialpolitik ab. Denn er betrachtete als ehemaliger
vorsichtig spekulierender naturalisierter Pariser Bankier, den Bismarck als sujet
mixte und darum nicht gerade als einen Vertreter der Majontät ansah f),
staatliche Fragen mit privatwirtschaftlichen Augen. Er machte daher seine Zu¬
stimmung zu Regierungsvorlagen von der von Bismarck mit Recht (am
14. Juni 1884) ironisierten "Rollenverteilung" abhängig, nach der die Re¬
gierung zuvor die Rentabilität feststellen soll, obwohl es sich nach Bismarcks
Gegenbemerkungen bei volkswirtschaftlichen Fragen doch nur um organische Ent¬
wicklung handeln kann. Nach der treffenden Beobachtung des Kanzlers 1"I') sah
Bamberger eben das Reich als Finanzinstitut an, das sich rentieren müsse und
nicht als eine nationale Einrichtung, bei der es noch auf andere Faktoren und
Gesichtspunkte ankommt.







*) Vgl. Wippermann, Allgemeine deutsche Biographie 46 (1902), 188 und H, Oncken,
Preußische Jahrbücher 100 (1000), Seite 63 bis 84.
**) PeterSdorff, Allgemeine deutsche Biographie 64, 493.
Reden X 278, 432, XII 544.
Reden IX 417 ff., 430 ff.
ff) Reden XII 530.
Freisinnige Aolonialpolitik unter Bismarck

freisinniger Redeweise bewilligten sie daher für die „Kinderkrankheit" der jüngsten
Großmacht praktisch nur soviel als notwendig war. um die Sympathien ihrer
Wähler nicht ganz zu verlieren; im Frühjahr 1885 erklärten sie aber durch
Stauffenberg theoretisch und offiziell nur zu dem von Bismarck in der denk¬
würdigen Budgetkommission vom 23. Juni 1884 eröffneten Kolonialprogramm
ihre Zustimmung, um sie freilich wieder von jedesmaliger genauer Vorprüfung
der innerhalb dieses Programms liegenden Vorlagen abhängig zu machen!

Ihr Haupt war Ludwig Bamberger*), der die Bismarcksche Kolonialpolitik
im Reichstage vor allem erschwerte und von allem Anfang an bekämpfte, wie
er allein schon die Samoavorlage tatsächlich zu Fall gebracht hatte. Die Art
seiner oft skrupellos konsequenten Dialektik, die nach einem Worte Stephans""')
seine Reden zur Hälfte richtig, zur anderen Hälfte aber doppelt falsch machte,
gestaltete seine Diskussionen mit der Regierung vielfach unerträglich. Denn er
verstand es nach Bismarcks Beobachtungen""') durch kleine Verdrehungen und
Verschiebungen sich deren Argumente derartig schußgerecht zu machen, daß sie
seine Anschauungen geradezu zu bestätigen schienen. Ihre Erklärung aber findet
seine zersetzend und pessimistisch erscheinende Kritik mit ihrer völligen Verständnis-
losigkeit für die Bedeutung einer nationalen Schutzzoll-, Flotten-, Kolonial- und
„Weltpolitik" (im modernen Sinne) in seiner völligen Abhängigkeit von tradi>
tionellen Zwangsvorstellungen. Mit seinem liberalen Ideal eines kosmopolitischen
Individualismus dünkte ihn eben nur der absolute Freihandel vereinbar, während
ihm jede nationale Schutzpolitik als Bindung der Kräfte erschien, sei es nun
auf sozialem oder wirtschaftlichem Gebiete. Aus manchesterlicher Überzeugung
und aus Furcht vor großen Ausgaben für Rüstungszwecke lehnte er darum
auch jede staatliche Kolonialpolitik ab. Denn er betrachtete als ehemaliger
vorsichtig spekulierender naturalisierter Pariser Bankier, den Bismarck als sujet
mixte und darum nicht gerade als einen Vertreter der Majontät ansah f),
staatliche Fragen mit privatwirtschaftlichen Augen. Er machte daher seine Zu¬
stimmung zu Regierungsvorlagen von der von Bismarck mit Recht (am
14. Juni 1884) ironisierten „Rollenverteilung" abhängig, nach der die Re¬
gierung zuvor die Rentabilität feststellen soll, obwohl es sich nach Bismarcks
Gegenbemerkungen bei volkswirtschaftlichen Fragen doch nur um organische Ent¬
wicklung handeln kann. Nach der treffenden Beobachtung des Kanzlers 1"I') sah
Bamberger eben das Reich als Finanzinstitut an, das sich rentieren müsse und
nicht als eine nationale Einrichtung, bei der es noch auf andere Faktoren und
Gesichtspunkte ankommt.







*) Vgl. Wippermann, Allgemeine deutsche Biographie 46 (1902), 188 und H, Oncken,
Preußische Jahrbücher 100 (1000), Seite 63 bis 84.
**) PeterSdorff, Allgemeine deutsche Biographie 64, 493.
Reden X 278, 432, XII 544.
Reden IX 417 ff., 430 ff.
ff) Reden XII 530.
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[0206] Freisinnige Aolonialpolitik unter Bismarck freisinniger Redeweise bewilligten sie daher für die „Kinderkrankheit" der jüngsten Großmacht praktisch nur soviel als notwendig war. um die Sympathien ihrer Wähler nicht ganz zu verlieren; im Frühjahr 1885 erklärten sie aber durch Stauffenberg theoretisch und offiziell nur zu dem von Bismarck in der denk¬ würdigen Budgetkommission vom 23. Juni 1884 eröffneten Kolonialprogramm ihre Zustimmung, um sie freilich wieder von jedesmaliger genauer Vorprüfung der innerhalb dieses Programms liegenden Vorlagen abhängig zu machen! Ihr Haupt war Ludwig Bamberger*), der die Bismarcksche Kolonialpolitik im Reichstage vor allem erschwerte und von allem Anfang an bekämpfte, wie er allein schon die Samoavorlage tatsächlich zu Fall gebracht hatte. Die Art seiner oft skrupellos konsequenten Dialektik, die nach einem Worte Stephans""') seine Reden zur Hälfte richtig, zur anderen Hälfte aber doppelt falsch machte, gestaltete seine Diskussionen mit der Regierung vielfach unerträglich. Denn er verstand es nach Bismarcks Beobachtungen""') durch kleine Verdrehungen und Verschiebungen sich deren Argumente derartig schußgerecht zu machen, daß sie seine Anschauungen geradezu zu bestätigen schienen. Ihre Erklärung aber findet seine zersetzend und pessimistisch erscheinende Kritik mit ihrer völligen Verständnis- losigkeit für die Bedeutung einer nationalen Schutzzoll-, Flotten-, Kolonial- und „Weltpolitik" (im modernen Sinne) in seiner völligen Abhängigkeit von tradi> tionellen Zwangsvorstellungen. Mit seinem liberalen Ideal eines kosmopolitischen Individualismus dünkte ihn eben nur der absolute Freihandel vereinbar, während ihm jede nationale Schutzpolitik als Bindung der Kräfte erschien, sei es nun auf sozialem oder wirtschaftlichem Gebiete. Aus manchesterlicher Überzeugung und aus Furcht vor großen Ausgaben für Rüstungszwecke lehnte er darum auch jede staatliche Kolonialpolitik ab. Denn er betrachtete als ehemaliger vorsichtig spekulierender naturalisierter Pariser Bankier, den Bismarck als sujet mixte und darum nicht gerade als einen Vertreter der Majontät ansah f), staatliche Fragen mit privatwirtschaftlichen Augen. Er machte daher seine Zu¬ stimmung zu Regierungsvorlagen von der von Bismarck mit Recht (am 14. Juni 1884) ironisierten „Rollenverteilung" abhängig, nach der die Re¬ gierung zuvor die Rentabilität feststellen soll, obwohl es sich nach Bismarcks Gegenbemerkungen bei volkswirtschaftlichen Fragen doch nur um organische Ent¬ wicklung handeln kann. Nach der treffenden Beobachtung des Kanzlers 1"I') sah Bamberger eben das Reich als Finanzinstitut an, das sich rentieren müsse und nicht als eine nationale Einrichtung, bei der es noch auf andere Faktoren und Gesichtspunkte ankommt. *) Vgl. Wippermann, Allgemeine deutsche Biographie 46 (1902), 188 und H, Oncken, Preußische Jahrbücher 100 (1000), Seite 63 bis 84. **) PeterSdorff, Allgemeine deutsche Biographie 64, 493. Reden X 278, 432, XII 544. Reden IX 417 ff., 430 ff. ff) Reden XII 530.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/206>, abgerufen am 19.10.2024.