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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die armenisch-kurdische Frage

schlugen, für sie verderblich, obwohl schwer zu sehen ist, ob ein anderer besserer
ihnen offen gestanden hätte.

Auf dem Berliner Friedenskongreß verstanden es ihre Delegierten sich
Gehör zu verschaffen und in den Vertrag einen Paragraphen, Ur. 61, auf¬
nehmen zu lassen, der "die Pforte verpflichtete, die nach den Umständen er¬
forderlichen Verbesserungen und Reformen in den von Armeniern bewohnen
Provinzen ohne weiteren Verzug einzuführen und ihnen Sicherheit gegen die
Tscherkessen") und Kurden zu gewähren. Die Pforte wird von den ergriffenen
Maßregeln die Mächte informieren, die die Ausführung derselben überwachen
sollen."

Heuzutage darf man behaupten, daß dieser unglückliche Paragraph die
Ursache sür das kommende Unheil gewesen ist. Weder die Pforte noch und
namentlich die Kurden waren von dieser europäischen Einmischung in ihre
eigenen Angelegenheiten erbaut. Der ersteren fehlte es zur Erfüllung ihrer
Verpflichtung natürlich an gutem Willen, noch mehr aber an Macht. Die weniger
interessierten europäischen Mächte zeigten bald kein Interesse mehr; Rußland,
verstimmt, zog sich zurück und schließlich auch England, obwohl es für die Ab¬
tretung Cyperns die Reorganisation der asiatischen Türkei übernommen hatte.
Die Okkupation von Ägypten absorbierte sein Interesse an Reformen in Armenien.
Es hätte schon damals Rußland allein mit der Beaufsichtigung des Reform¬
werkes beauftragt werden sollen, aber das wollte England nichts.

So wurden die Armenier gedrängt, für die Ausführung der versprochenen
Reformen selbst Schritte zu tun. Von den zahlreichen jungen Leuten, die in
Frankreich, England und Amerika studierten, wurde seit etwa 1880 eine natio¬
nalistische Bewegung ins Leben gerufen, die zunächst wohl nur den Zweck hatte,
in der europäischen Presse Lärm zu schlagen, um die Mächte auf Armenien
aufmerksam zu machen und sie an ihre Verpflichtung zu erinnern, die Pforte
zur Ausführung der Reformen anzuhalten.

Allmählich nahm die Agitation schärferen Charakter an, es bildeten sich
namentlich in England und Amerika revolutionäre Komitees (1887 die Ge¬
sellschaft Hintschak, einige Jahre später Daschnakzutiun, das sich in einem
Memorandum resp. Ultimatum an die Botschafter 1894 als revolutionäre
Vereinigung bezeichnete), die eine Aufhetzung der bis dahin ruhigen armenischen
Bevölkerung"^*) durch Flugschriften. Emissäre (und Waffensendungenf) ins Werk






*) Die inzwischen ihre Rolle in Armenien ausgespielt haben.
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""*) Lepsius, "Armenien und Europa," S. 59, 12S, 231.
f) Daß die Armenier bewaffnet waren, bewies bei den Gemetzeln die Verlustziffer ihrer
Angreifer, etwa 1300.
Die armenisch-kurdische Frage

schlugen, für sie verderblich, obwohl schwer zu sehen ist, ob ein anderer besserer
ihnen offen gestanden hätte.

Auf dem Berliner Friedenskongreß verstanden es ihre Delegierten sich
Gehör zu verschaffen und in den Vertrag einen Paragraphen, Ur. 61, auf¬
nehmen zu lassen, der „die Pforte verpflichtete, die nach den Umständen er¬
forderlichen Verbesserungen und Reformen in den von Armeniern bewohnen
Provinzen ohne weiteren Verzug einzuführen und ihnen Sicherheit gegen die
Tscherkessen") und Kurden zu gewähren. Die Pforte wird von den ergriffenen
Maßregeln die Mächte informieren, die die Ausführung derselben überwachen
sollen."

Heuzutage darf man behaupten, daß dieser unglückliche Paragraph die
Ursache sür das kommende Unheil gewesen ist. Weder die Pforte noch und
namentlich die Kurden waren von dieser europäischen Einmischung in ihre
eigenen Angelegenheiten erbaut. Der ersteren fehlte es zur Erfüllung ihrer
Verpflichtung natürlich an gutem Willen, noch mehr aber an Macht. Die weniger
interessierten europäischen Mächte zeigten bald kein Interesse mehr; Rußland,
verstimmt, zog sich zurück und schließlich auch England, obwohl es für die Ab¬
tretung Cyperns die Reorganisation der asiatischen Türkei übernommen hatte.
Die Okkupation von Ägypten absorbierte sein Interesse an Reformen in Armenien.
Es hätte schon damals Rußland allein mit der Beaufsichtigung des Reform¬
werkes beauftragt werden sollen, aber das wollte England nichts.

So wurden die Armenier gedrängt, für die Ausführung der versprochenen
Reformen selbst Schritte zu tun. Von den zahlreichen jungen Leuten, die in
Frankreich, England und Amerika studierten, wurde seit etwa 1880 eine natio¬
nalistische Bewegung ins Leben gerufen, die zunächst wohl nur den Zweck hatte,
in der europäischen Presse Lärm zu schlagen, um die Mächte auf Armenien
aufmerksam zu machen und sie an ihre Verpflichtung zu erinnern, die Pforte
zur Ausführung der Reformen anzuhalten.

Allmählich nahm die Agitation schärferen Charakter an, es bildeten sich
namentlich in England und Amerika revolutionäre Komitees (1887 die Ge¬
sellschaft Hintschak, einige Jahre später Daschnakzutiun, das sich in einem
Memorandum resp. Ultimatum an die Botschafter 1894 als revolutionäre
Vereinigung bezeichnete), die eine Aufhetzung der bis dahin ruhigen armenischen
Bevölkerung"^*) durch Flugschriften. Emissäre (und Waffensendungenf) ins Werk






*) Die inzwischen ihre Rolle in Armenien ausgespielt haben.
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""*) Lepsius, „Armenien und Europa," S. 59, 12S, 231.
f) Daß die Armenier bewaffnet waren, bewies bei den Gemetzeln die Verlustziffer ihrer
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/20>, abgerufen am 28.12.2024.