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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Kämpfe unserer Lehrerschaft

Ehrfurcht gewinnen vor wissenschaftlichem Wollen und Streben, und so den
Antrieb mit ins Leben nehmen zu eigener echt wissenschaftlicher Tätigkeit -- der
wird, falls er überhaupt mit dem Leben der Gegenwart an unserer höheren Schule
vertraut ist, zugeben, daß diese heutzutage nicht von ihrer Höhe herabgesunken
ist. Die Ausgaben haben sich differenziert, neben das Gymnasium sind Real¬
gymnasium und Oberrealschule getreten, doch nur mit anderen Lehraufgaben,
nicht mit anderem Endziel. Und gerade Mathematik und Naturwissenschaften
haben in den letzten Jahren sich eifrig bestrebt, durch Vertiefung und Ver¬
besserung der Methoden ihren Anteil an der wissenschaftlichen Arbeit der höheren
Schule zu steigern, gerade sie sind weit davon entfernt, rein praktische, beruflich
verwertbare Kenntnisse vermitteln zu wollen -- im Gegenteil gerade sie betonen
gern, und mit Recht, die humanistischen Ziele und Erfolge ihrer Bildungs¬
weise. Der Unterricht in den einzelnen Fächern ist geschlossener, einheitlicher als
je zuvor, das Endziel beherrscht viel mehr als früher auch die Methode des
Anfangsunterrichtes, so daß die Forderung, daß nur wissenschaftlich geschulte Ober¬
lehrer auch den ersten Unterricht erteilen dürfen, besonders heute durchaus berechtigt
ist; man denke speziell an den mathematischen Anfangsunterricht, an die Neu¬
belebung der philosophischen Propädeutik u. a. Bei all diesen jedem Fachmann
bekannten erfolgreichen Bestrebungen ist es mir wirklich völlig unverständlich,
was der Verfasser eigentlich meint mit seinem Satze: "Von der .Wissenschaft'
ist im Laufe der Zeit doch gar zuviel gestrichen worden und wird trotz philo¬
logischer Entrüstung immer mehr gestrichen werden." Er scheint unter "Wissen¬
schaft" den formalen grammatischen Betrieb ältester Zeiten zu verstehen, dabei
aber vergessen zu haben, daß gerade die Grammatik heute auch in der höheren
Schule mehr denn je auf wissenschaftlicher Grundlage steht. Die "praktische,
tatsächliche Verwertung der höheren Bildung" hat hiermit nicht das mindeste zu
tun, und worin gar der "aussichtslose Kampf um die Erhaltung des Typus
Gelehrtenschule" bestehen soll, ist erst recht nicht abzusehen. Gerade das rasche
Aufblühen einzelner Wissenschaften war es vielmehr, welches den einheitlichen Lehr¬
plan der verschiedenen Anstalten gefährdete, indem manche Fächer, auf ihre wissen¬
schaftliche Bedeutung pochend, weiteren Raum beanspruchten. Als Ergebnis dieser
Bestrebungen blieb dann aber meist doch übrig ein der Wissenschaft entsprechenderer
Unterrichtsbetrieb und ein ebensolches Unterrichtsziel. Dies geschah etwa in Geo¬
graphie, Biologie, Geschichte, besonders aber in der Mathematik am Gymnasium.
So könnte man fast sagen, der Wissenschaft sei eher zu viel als zu wenig.

An Stelle der Gelehrtenschule soll nach Ansicht des Verfassers die Erziehungs¬
schule gesetzt werden. Damit tritt dann die höhere Schule in engste Beziehung zur
Volksschule; denn daß die "Standesverschiedenheit" einen dauernden Unterschied
aufrecht erhalten werde, wird ihm niemand glauben wollen. Hier liegt eine so
typische Verkennung des Begriffes "Erziehungsschule" vor, die Wandlung einer
an sich guten und richtigen Sache zum verderblichen Schlagwort, daß eine Ab¬
wehr unerläßlich wird.


Kämpfe unserer Lehrerschaft

Ehrfurcht gewinnen vor wissenschaftlichem Wollen und Streben, und so den
Antrieb mit ins Leben nehmen zu eigener echt wissenschaftlicher Tätigkeit — der
wird, falls er überhaupt mit dem Leben der Gegenwart an unserer höheren Schule
vertraut ist, zugeben, daß diese heutzutage nicht von ihrer Höhe herabgesunken
ist. Die Ausgaben haben sich differenziert, neben das Gymnasium sind Real¬
gymnasium und Oberrealschule getreten, doch nur mit anderen Lehraufgaben,
nicht mit anderem Endziel. Und gerade Mathematik und Naturwissenschaften
haben in den letzten Jahren sich eifrig bestrebt, durch Vertiefung und Ver¬
besserung der Methoden ihren Anteil an der wissenschaftlichen Arbeit der höheren
Schule zu steigern, gerade sie sind weit davon entfernt, rein praktische, beruflich
verwertbare Kenntnisse vermitteln zu wollen — im Gegenteil gerade sie betonen
gern, und mit Recht, die humanistischen Ziele und Erfolge ihrer Bildungs¬
weise. Der Unterricht in den einzelnen Fächern ist geschlossener, einheitlicher als
je zuvor, das Endziel beherrscht viel mehr als früher auch die Methode des
Anfangsunterrichtes, so daß die Forderung, daß nur wissenschaftlich geschulte Ober¬
lehrer auch den ersten Unterricht erteilen dürfen, besonders heute durchaus berechtigt
ist; man denke speziell an den mathematischen Anfangsunterricht, an die Neu¬
belebung der philosophischen Propädeutik u. a. Bei all diesen jedem Fachmann
bekannten erfolgreichen Bestrebungen ist es mir wirklich völlig unverständlich,
was der Verfasser eigentlich meint mit seinem Satze: „Von der .Wissenschaft'
ist im Laufe der Zeit doch gar zuviel gestrichen worden und wird trotz philo¬
logischer Entrüstung immer mehr gestrichen werden." Er scheint unter „Wissen¬
schaft" den formalen grammatischen Betrieb ältester Zeiten zu verstehen, dabei
aber vergessen zu haben, daß gerade die Grammatik heute auch in der höheren
Schule mehr denn je auf wissenschaftlicher Grundlage steht. Die „praktische,
tatsächliche Verwertung der höheren Bildung" hat hiermit nicht das mindeste zu
tun, und worin gar der „aussichtslose Kampf um die Erhaltung des Typus
Gelehrtenschule" bestehen soll, ist erst recht nicht abzusehen. Gerade das rasche
Aufblühen einzelner Wissenschaften war es vielmehr, welches den einheitlichen Lehr¬
plan der verschiedenen Anstalten gefährdete, indem manche Fächer, auf ihre wissen¬
schaftliche Bedeutung pochend, weiteren Raum beanspruchten. Als Ergebnis dieser
Bestrebungen blieb dann aber meist doch übrig ein der Wissenschaft entsprechenderer
Unterrichtsbetrieb und ein ebensolches Unterrichtsziel. Dies geschah etwa in Geo¬
graphie, Biologie, Geschichte, besonders aber in der Mathematik am Gymnasium.
So könnte man fast sagen, der Wissenschaft sei eher zu viel als zu wenig.

An Stelle der Gelehrtenschule soll nach Ansicht des Verfassers die Erziehungs¬
schule gesetzt werden. Damit tritt dann die höhere Schule in engste Beziehung zur
Volksschule; denn daß die „Standesverschiedenheit" einen dauernden Unterschied
aufrecht erhalten werde, wird ihm niemand glauben wollen. Hier liegt eine so
typische Verkennung des Begriffes „Erziehungsschule" vor, die Wandlung einer
an sich guten und richtigen Sache zum verderblichen Schlagwort, daß eine Ab¬
wehr unerläßlich wird.


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[0171] Kämpfe unserer Lehrerschaft Ehrfurcht gewinnen vor wissenschaftlichem Wollen und Streben, und so den Antrieb mit ins Leben nehmen zu eigener echt wissenschaftlicher Tätigkeit — der wird, falls er überhaupt mit dem Leben der Gegenwart an unserer höheren Schule vertraut ist, zugeben, daß diese heutzutage nicht von ihrer Höhe herabgesunken ist. Die Ausgaben haben sich differenziert, neben das Gymnasium sind Real¬ gymnasium und Oberrealschule getreten, doch nur mit anderen Lehraufgaben, nicht mit anderem Endziel. Und gerade Mathematik und Naturwissenschaften haben in den letzten Jahren sich eifrig bestrebt, durch Vertiefung und Ver¬ besserung der Methoden ihren Anteil an der wissenschaftlichen Arbeit der höheren Schule zu steigern, gerade sie sind weit davon entfernt, rein praktische, beruflich verwertbare Kenntnisse vermitteln zu wollen — im Gegenteil gerade sie betonen gern, und mit Recht, die humanistischen Ziele und Erfolge ihrer Bildungs¬ weise. Der Unterricht in den einzelnen Fächern ist geschlossener, einheitlicher als je zuvor, das Endziel beherrscht viel mehr als früher auch die Methode des Anfangsunterrichtes, so daß die Forderung, daß nur wissenschaftlich geschulte Ober¬ lehrer auch den ersten Unterricht erteilen dürfen, besonders heute durchaus berechtigt ist; man denke speziell an den mathematischen Anfangsunterricht, an die Neu¬ belebung der philosophischen Propädeutik u. a. Bei all diesen jedem Fachmann bekannten erfolgreichen Bestrebungen ist es mir wirklich völlig unverständlich, was der Verfasser eigentlich meint mit seinem Satze: „Von der .Wissenschaft' ist im Laufe der Zeit doch gar zuviel gestrichen worden und wird trotz philo¬ logischer Entrüstung immer mehr gestrichen werden." Er scheint unter „Wissen¬ schaft" den formalen grammatischen Betrieb ältester Zeiten zu verstehen, dabei aber vergessen zu haben, daß gerade die Grammatik heute auch in der höheren Schule mehr denn je auf wissenschaftlicher Grundlage steht. Die „praktische, tatsächliche Verwertung der höheren Bildung" hat hiermit nicht das mindeste zu tun, und worin gar der „aussichtslose Kampf um die Erhaltung des Typus Gelehrtenschule" bestehen soll, ist erst recht nicht abzusehen. Gerade das rasche Aufblühen einzelner Wissenschaften war es vielmehr, welches den einheitlichen Lehr¬ plan der verschiedenen Anstalten gefährdete, indem manche Fächer, auf ihre wissen¬ schaftliche Bedeutung pochend, weiteren Raum beanspruchten. Als Ergebnis dieser Bestrebungen blieb dann aber meist doch übrig ein der Wissenschaft entsprechenderer Unterrichtsbetrieb und ein ebensolches Unterrichtsziel. Dies geschah etwa in Geo¬ graphie, Biologie, Geschichte, besonders aber in der Mathematik am Gymnasium. So könnte man fast sagen, der Wissenschaft sei eher zu viel als zu wenig. An Stelle der Gelehrtenschule soll nach Ansicht des Verfassers die Erziehungs¬ schule gesetzt werden. Damit tritt dann die höhere Schule in engste Beziehung zur Volksschule; denn daß die „Standesverschiedenheit" einen dauernden Unterschied aufrecht erhalten werde, wird ihm niemand glauben wollen. Hier liegt eine so typische Verkennung des Begriffes „Erziehungsschule" vor, die Wandlung einer an sich guten und richtigen Sache zum verderblichen Schlagwort, daß eine Ab¬ wehr unerläßlich wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/171>, abgerufen am 20.10.2024.