Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die armenisch-kurdische Frage

einhalb Millionen zu schätzen haben. Dazu kommen noch eine Million in Ru߬
land und höchstens eine Viertelmillion über die ganze Erde zerstreuter, so daß
die gesamte armenische Nation auf zweidreiviertel Millionen zu veranschlagen ist.

Betreffs der Kurden ist man ausschließlich auf Schätzungen angewiesen, die -
zwischen zwei Millionen und einer halben Million variieren. Letztere Angabe
entstammt der armenischen Statistik, und auch diese halbe Million kommt nur
heraus, wenn man die Ziffern für die Sasa und Jestden (110000) zu der für
die Kurden angegebenen von 424000 hinzurechnet. Unter Berücksichtigung der
räumlichen Ausdehnung der Kurden und der Zahlen für die denselben Raum
bewohnenden Armenier wird man die Ziffer der kurdischen Bevölkerung in der
Türkei auf dreiviertel bis eine Million annehmen dürfen. Diese Schätzung
kommt der Statistik von Cuinet ziemlich gleich, der 735150 zählt, wozu noch
die Jesiden und kleinere Sekten mit 79915 zu nehmen sind, also im ganzen
815065.

Was die räumliche Verteilung der beiden Völker anlangt, so ist sie für
die Armenier, abgesehen natürlich von der erst im Mittelalter und zumal in
der neueren Zeit erfolgten Abwanderung nach Westen, wohl nie viel anders als
in der Gegenwart gewesen. Ihre Hauptmasse hat von jeher im östlichen Kleinasien
gesessen vom Araxes im Osten bis zum Euphrat im Westen (Groß > Armenien)
und über ihn hinaus bis zu den Quellen des Halys und zum Antitaurus,
weiter nach Südwesten zum Meerbusen von Issus (Klein - Armenien). Ohne
rechte natürliche Grenzen und zwischen den großen Reichen des Orients und
des Occidents gelegen, war Groß-Armenien stets Zankapfel und Kriegsschauplatz
zuerstzwischenRom und Persien, imMittelalter zwischen Byzanz und den Mohamme¬
danern, zunächst Arabern dann den seldschukischen Türken. Um 1079 wurde das
Land von beiden Parteien besetzt und aufgeteilt und damit seiner Unabhängigkeit
für immer ein Ende gemacht, obwohl kleinere Herrschaften sich noch fast zwei¬
hundert Jahre länger behaupteten*). Als Durchzugsland auf dem Wege der
türkischen, mongolischen und tatarischen Eroberer, welche letztere eine bis dahin
in der Welt unerhörte massenhafte Vernichtung der besiegten Völker ins Werk
setzten, muß Armenien eine Verminderung seiner nationalen Kräfte erlitten haben,
von der sich das Volk nicht mehr erholt hat. Als gegen Ende des dreizehnten
Jahrhunderts eine neue große Einwanderung türkischer Stämme erfolgte, wurde
Armenien wieder der Schauplatz von Kriegen zunächst zwischen ihnen, dann mit den



*) Um diese Zeit erfolgte die erste größere Auswanderung von Armeniern nach Westen,
nach Rußland und Polen. In Galizien erschienen sie vor 1060 und verbreiteten sich von dM
bis Litauen und Ungarn. 1344 und 1336 wurde ihnen von König Kasimir ihre eigene
Verfassung bestätigt. Ihr Zentrum war Lemberg, wo ein Erzbischof residierte. Durch neue
Einwanderungen ans tatarischen Gebieten seit 1S00 wurde die armenische Sprache allmählich
durch die tatarische verdrängt. 1606 erfolgte eine neue Einwanderung aus Persien, aber der
Übertritt des Erzbischofs zur römischen Kirche 1624 hatte eine Spaltung zur Folge. Damit
begann der Verfall und das Aufgehen in die polnische Bevölkerung.
Die armenisch-kurdische Frage

einhalb Millionen zu schätzen haben. Dazu kommen noch eine Million in Ru߬
land und höchstens eine Viertelmillion über die ganze Erde zerstreuter, so daß
die gesamte armenische Nation auf zweidreiviertel Millionen zu veranschlagen ist.

Betreffs der Kurden ist man ausschließlich auf Schätzungen angewiesen, die -
zwischen zwei Millionen und einer halben Million variieren. Letztere Angabe
entstammt der armenischen Statistik, und auch diese halbe Million kommt nur
heraus, wenn man die Ziffern für die Sasa und Jestden (110000) zu der für
die Kurden angegebenen von 424000 hinzurechnet. Unter Berücksichtigung der
räumlichen Ausdehnung der Kurden und der Zahlen für die denselben Raum
bewohnenden Armenier wird man die Ziffer der kurdischen Bevölkerung in der
Türkei auf dreiviertel bis eine Million annehmen dürfen. Diese Schätzung
kommt der Statistik von Cuinet ziemlich gleich, der 735150 zählt, wozu noch
die Jesiden und kleinere Sekten mit 79915 zu nehmen sind, also im ganzen
815065.

Was die räumliche Verteilung der beiden Völker anlangt, so ist sie für
die Armenier, abgesehen natürlich von der erst im Mittelalter und zumal in
der neueren Zeit erfolgten Abwanderung nach Westen, wohl nie viel anders als
in der Gegenwart gewesen. Ihre Hauptmasse hat von jeher im östlichen Kleinasien
gesessen vom Araxes im Osten bis zum Euphrat im Westen (Groß > Armenien)
und über ihn hinaus bis zu den Quellen des Halys und zum Antitaurus,
weiter nach Südwesten zum Meerbusen von Issus (Klein - Armenien). Ohne
rechte natürliche Grenzen und zwischen den großen Reichen des Orients und
des Occidents gelegen, war Groß-Armenien stets Zankapfel und Kriegsschauplatz
zuerstzwischenRom und Persien, imMittelalter zwischen Byzanz und den Mohamme¬
danern, zunächst Arabern dann den seldschukischen Türken. Um 1079 wurde das
Land von beiden Parteien besetzt und aufgeteilt und damit seiner Unabhängigkeit
für immer ein Ende gemacht, obwohl kleinere Herrschaften sich noch fast zwei¬
hundert Jahre länger behaupteten*). Als Durchzugsland auf dem Wege der
türkischen, mongolischen und tatarischen Eroberer, welche letztere eine bis dahin
in der Welt unerhörte massenhafte Vernichtung der besiegten Völker ins Werk
setzten, muß Armenien eine Verminderung seiner nationalen Kräfte erlitten haben,
von der sich das Volk nicht mehr erholt hat. Als gegen Ende des dreizehnten
Jahrhunderts eine neue große Einwanderung türkischer Stämme erfolgte, wurde
Armenien wieder der Schauplatz von Kriegen zunächst zwischen ihnen, dann mit den



*) Um diese Zeit erfolgte die erste größere Auswanderung von Armeniern nach Westen,
nach Rußland und Polen. In Galizien erschienen sie vor 1060 und verbreiteten sich von dM
bis Litauen und Ungarn. 1344 und 1336 wurde ihnen von König Kasimir ihre eigene
Verfassung bestätigt. Ihr Zentrum war Lemberg, wo ein Erzbischof residierte. Durch neue
Einwanderungen ans tatarischen Gebieten seit 1S00 wurde die armenische Sprache allmählich
durch die tatarische verdrängt. 1606 erfolgte eine neue Einwanderung aus Persien, aber der
Übertritt des Erzbischofs zur römischen Kirche 1624 hatte eine Spaltung zur Folge. Damit
begann der Verfall und das Aufgehen in die polnische Bevölkerung.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0016" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326186"/>
          <fw type="header" place="top"> Die armenisch-kurdische Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_21" prev="#ID_20"> einhalb Millionen zu schätzen haben. Dazu kommen noch eine Million in Ru߬<lb/>
land und höchstens eine Viertelmillion über die ganze Erde zerstreuter, so daß<lb/>
die gesamte armenische Nation auf zweidreiviertel Millionen zu veranschlagen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_22"> Betreffs der Kurden ist man ausschließlich auf Schätzungen angewiesen, die -<lb/>
zwischen zwei Millionen und einer halben Million variieren. Letztere Angabe<lb/>
entstammt der armenischen Statistik, und auch diese halbe Million kommt nur<lb/>
heraus, wenn man die Ziffern für die Sasa und Jestden (110000) zu der für<lb/>
die Kurden angegebenen von 424000 hinzurechnet. Unter Berücksichtigung der<lb/>
räumlichen Ausdehnung der Kurden und der Zahlen für die denselben Raum<lb/>
bewohnenden Armenier wird man die Ziffer der kurdischen Bevölkerung in der<lb/>
Türkei auf dreiviertel bis eine Million annehmen dürfen. Diese Schätzung<lb/>
kommt der Statistik von Cuinet ziemlich gleich, der 735150 zählt, wozu noch<lb/>
die Jesiden und kleinere Sekten mit 79915 zu nehmen sind, also im ganzen<lb/>
815065.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_23" next="#ID_24"> Was die räumliche Verteilung der beiden Völker anlangt, so ist sie für<lb/>
die Armenier, abgesehen natürlich von der erst im Mittelalter und zumal in<lb/>
der neueren Zeit erfolgten Abwanderung nach Westen, wohl nie viel anders als<lb/>
in der Gegenwart gewesen. Ihre Hauptmasse hat von jeher im östlichen Kleinasien<lb/>
gesessen vom Araxes im Osten bis zum Euphrat im Westen (Groß &gt; Armenien)<lb/>
und über ihn hinaus bis zu den Quellen des Halys und zum Antitaurus,<lb/>
weiter nach Südwesten zum Meerbusen von Issus (Klein - Armenien). Ohne<lb/>
rechte natürliche Grenzen und zwischen den großen Reichen des Orients und<lb/>
des Occidents gelegen, war Groß-Armenien stets Zankapfel und Kriegsschauplatz<lb/>
zuerstzwischenRom und Persien, imMittelalter zwischen Byzanz und den Mohamme¬<lb/>
danern, zunächst Arabern dann den seldschukischen Türken. Um 1079 wurde das<lb/>
Land von beiden Parteien besetzt und aufgeteilt und damit seiner Unabhängigkeit<lb/>
für immer ein Ende gemacht, obwohl kleinere Herrschaften sich noch fast zwei¬<lb/>
hundert Jahre länger behaupteten*). Als Durchzugsland auf dem Wege der<lb/>
türkischen, mongolischen und tatarischen Eroberer, welche letztere eine bis dahin<lb/>
in der Welt unerhörte massenhafte Vernichtung der besiegten Völker ins Werk<lb/>
setzten, muß Armenien eine Verminderung seiner nationalen Kräfte erlitten haben,<lb/>
von der sich das Volk nicht mehr erholt hat. Als gegen Ende des dreizehnten<lb/>
Jahrhunderts eine neue große Einwanderung türkischer Stämme erfolgte, wurde<lb/>
Armenien wieder der Schauplatz von Kriegen zunächst zwischen ihnen, dann mit den</p><lb/>
          <note xml:id="FID_4" place="foot"> *) Um diese Zeit erfolgte die erste größere Auswanderung von Armeniern nach Westen,<lb/>
nach Rußland und Polen. In Galizien erschienen sie vor 1060 und verbreiteten sich von dM<lb/>
bis Litauen und Ungarn. 1344 und 1336 wurde ihnen von König Kasimir ihre eigene<lb/>
Verfassung bestätigt. Ihr Zentrum war Lemberg, wo ein Erzbischof residierte. Durch neue<lb/>
Einwanderungen ans tatarischen Gebieten seit 1S00 wurde die armenische Sprache allmählich<lb/>
durch die tatarische verdrängt. 1606 erfolgte eine neue Einwanderung aus Persien, aber der<lb/>
Übertritt des Erzbischofs zur römischen Kirche 1624 hatte eine Spaltung zur Folge. Damit<lb/>
begann der Verfall und das Aufgehen in die polnische Bevölkerung.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0016] Die armenisch-kurdische Frage einhalb Millionen zu schätzen haben. Dazu kommen noch eine Million in Ru߬ land und höchstens eine Viertelmillion über die ganze Erde zerstreuter, so daß die gesamte armenische Nation auf zweidreiviertel Millionen zu veranschlagen ist. Betreffs der Kurden ist man ausschließlich auf Schätzungen angewiesen, die - zwischen zwei Millionen und einer halben Million variieren. Letztere Angabe entstammt der armenischen Statistik, und auch diese halbe Million kommt nur heraus, wenn man die Ziffern für die Sasa und Jestden (110000) zu der für die Kurden angegebenen von 424000 hinzurechnet. Unter Berücksichtigung der räumlichen Ausdehnung der Kurden und der Zahlen für die denselben Raum bewohnenden Armenier wird man die Ziffer der kurdischen Bevölkerung in der Türkei auf dreiviertel bis eine Million annehmen dürfen. Diese Schätzung kommt der Statistik von Cuinet ziemlich gleich, der 735150 zählt, wozu noch die Jesiden und kleinere Sekten mit 79915 zu nehmen sind, also im ganzen 815065. Was die räumliche Verteilung der beiden Völker anlangt, so ist sie für die Armenier, abgesehen natürlich von der erst im Mittelalter und zumal in der neueren Zeit erfolgten Abwanderung nach Westen, wohl nie viel anders als in der Gegenwart gewesen. Ihre Hauptmasse hat von jeher im östlichen Kleinasien gesessen vom Araxes im Osten bis zum Euphrat im Westen (Groß > Armenien) und über ihn hinaus bis zu den Quellen des Halys und zum Antitaurus, weiter nach Südwesten zum Meerbusen von Issus (Klein - Armenien). Ohne rechte natürliche Grenzen und zwischen den großen Reichen des Orients und des Occidents gelegen, war Groß-Armenien stets Zankapfel und Kriegsschauplatz zuerstzwischenRom und Persien, imMittelalter zwischen Byzanz und den Mohamme¬ danern, zunächst Arabern dann den seldschukischen Türken. Um 1079 wurde das Land von beiden Parteien besetzt und aufgeteilt und damit seiner Unabhängigkeit für immer ein Ende gemacht, obwohl kleinere Herrschaften sich noch fast zwei¬ hundert Jahre länger behaupteten*). Als Durchzugsland auf dem Wege der türkischen, mongolischen und tatarischen Eroberer, welche letztere eine bis dahin in der Welt unerhörte massenhafte Vernichtung der besiegten Völker ins Werk setzten, muß Armenien eine Verminderung seiner nationalen Kräfte erlitten haben, von der sich das Volk nicht mehr erholt hat. Als gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts eine neue große Einwanderung türkischer Stämme erfolgte, wurde Armenien wieder der Schauplatz von Kriegen zunächst zwischen ihnen, dann mit den *) Um diese Zeit erfolgte die erste größere Auswanderung von Armeniern nach Westen, nach Rußland und Polen. In Galizien erschienen sie vor 1060 und verbreiteten sich von dM bis Litauen und Ungarn. 1344 und 1336 wurde ihnen von König Kasimir ihre eigene Verfassung bestätigt. Ihr Zentrum war Lemberg, wo ein Erzbischof residierte. Durch neue Einwanderungen ans tatarischen Gebieten seit 1S00 wurde die armenische Sprache allmählich durch die tatarische verdrängt. 1606 erfolgte eine neue Einwanderung aus Persien, aber der Übertritt des Erzbischofs zur römischen Kirche 1624 hatte eine Spaltung zur Folge. Damit begann der Verfall und das Aufgehen in die polnische Bevölkerung.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/16
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/16>, abgerufen am 28.12.2024.