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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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verdeutschen und Verdeutschungen

Das mare die Antwort auf die Frage: was soll man übersetzen? Genauer
und bestimmter kann auf die Frage: wie soll man übersetzen? geantwortet
werden.

Wenn auch die heutigen Verdeutschungen sprachlich höher stehen als z. B.
die der neunziger Jahre und im Ausdruck und Gedanken sich besser mit den
Originalen decken, so spiegeln doch zahlreiche Übersetzungen den Eindruck des
Urbildes nur verzerrt und undeutlich wieder. Die Bedingung, daß die ur¬
sprüngliche Form rein, ohne Zusätze und Änderungen rekonstruiert werden muß,
erscheint unserer historischen Zeit selbstverständlich. Nur muß man sich davor
hüten, diese Bedingung rein äußerlich zu erfüllen.

Denn nicht jeder, der ein Wörterbuch besitzt, ist ein Übersetzer. Wörter
sind keine mathematischen Formeln, keine Klischees; sondern Bilder. Symbole,
durch die wir persönliche Beobachtungen. Schlüsse, Empfindungen. Beziehungen
von Dingen untereinander zum Ausdruck bringen; sie sind ein Abglanz seelischer
Vorgänge, der leicht getrübt werden kann. Die Bilder werden uns von
Tradition. Schule, Milieu dargeboten; sie sind aber auch besonders abhängig
von der individuellen Disposition des Dichters. Der Übersetzer hat nun eine
doppelte Aufgabe: Inhalt und Wert' von Empfindungen und Gedanken in den
fremden Bildern zu erkennen, und diese Empfindungen und Gedanken durch
Bilder seiner Sprache dem Leser zu suggerieren.

Die Übertragung aus einer fremden Sprache ist ein dichterisches Schaffen,
in dem der Gegenstand der Seele bereits unveränderlich vorliegt und die Kon¬
zeption durch das Leseerlebnis ersetzt wird. Der Übersetzer muß nun eine
psychische Begabung aufweisen -- wenn auch in geringerem Grade --, die den
Dichter macht: die Fähigkeit der Seele, die Außenwelt irgendwie zu verarbeiten.
Zwar wird beim Übersetzer die Suggestibilitüt alle anderen seelischen Aktionen,
Empfindung, Phantasie, Vorstellung, überragen; jedenfalls darf man aber
zwischen dem Dichter und dem idealen Übersetzer keinen qualitativen, sondern
nur einen quantitativen Unterschied machen.

Die Psychologie des Übersetzens ist noch nicht geschrieben, doch will es
mir scheinen, daß die Arbeit des Übersetzers genau so wie die des Dichters zum
Teil unbewußt ist. Das Hineinfühlen in das fremde Kunstwerk ist ein seelischer
Vorgang, der keineswegs gänzlich in das Gebiet des Bewußten gehört. Das
einzelne Wort und das Wörterbuch gibt uns nur die groben Umrisse. Erst
wenn man sich hineinversenkt in den ganzen Text, werden die Konturen der
Bilder schärfer. Man beginne niemals eine Übersetzung, bevor man die Lektüre
des Originals beendet hat. Erst wenn man das Kunstwerk als Ganzes in sich
aufgenommen hat, ahnt man etwas von der Seele, die es in sich entstehen
ließ. Dieses psychische Hineinleben wird dem am besten gelingen, dessen
individuelle Veranlagung der des Dichters am nächsten kommt. Experimenten
ließe sich diese Behauptung an einer hinreichenden Zahl von Übersetzungen be¬
weisen. Doch ist völlige innere Gleichheit der Persönlichkeiten nicht erforderlich,


verdeutschen und Verdeutschungen

Das mare die Antwort auf die Frage: was soll man übersetzen? Genauer
und bestimmter kann auf die Frage: wie soll man übersetzen? geantwortet
werden.

Wenn auch die heutigen Verdeutschungen sprachlich höher stehen als z. B.
die der neunziger Jahre und im Ausdruck und Gedanken sich besser mit den
Originalen decken, so spiegeln doch zahlreiche Übersetzungen den Eindruck des
Urbildes nur verzerrt und undeutlich wieder. Die Bedingung, daß die ur¬
sprüngliche Form rein, ohne Zusätze und Änderungen rekonstruiert werden muß,
erscheint unserer historischen Zeit selbstverständlich. Nur muß man sich davor
hüten, diese Bedingung rein äußerlich zu erfüllen.

Denn nicht jeder, der ein Wörterbuch besitzt, ist ein Übersetzer. Wörter
sind keine mathematischen Formeln, keine Klischees; sondern Bilder. Symbole,
durch die wir persönliche Beobachtungen. Schlüsse, Empfindungen. Beziehungen
von Dingen untereinander zum Ausdruck bringen; sie sind ein Abglanz seelischer
Vorgänge, der leicht getrübt werden kann. Die Bilder werden uns von
Tradition. Schule, Milieu dargeboten; sie sind aber auch besonders abhängig
von der individuellen Disposition des Dichters. Der Übersetzer hat nun eine
doppelte Aufgabe: Inhalt und Wert' von Empfindungen und Gedanken in den
fremden Bildern zu erkennen, und diese Empfindungen und Gedanken durch
Bilder seiner Sprache dem Leser zu suggerieren.

Die Übertragung aus einer fremden Sprache ist ein dichterisches Schaffen,
in dem der Gegenstand der Seele bereits unveränderlich vorliegt und die Kon¬
zeption durch das Leseerlebnis ersetzt wird. Der Übersetzer muß nun eine
psychische Begabung aufweisen — wenn auch in geringerem Grade —, die den
Dichter macht: die Fähigkeit der Seele, die Außenwelt irgendwie zu verarbeiten.
Zwar wird beim Übersetzer die Suggestibilitüt alle anderen seelischen Aktionen,
Empfindung, Phantasie, Vorstellung, überragen; jedenfalls darf man aber
zwischen dem Dichter und dem idealen Übersetzer keinen qualitativen, sondern
nur einen quantitativen Unterschied machen.

Die Psychologie des Übersetzens ist noch nicht geschrieben, doch will es
mir scheinen, daß die Arbeit des Übersetzers genau so wie die des Dichters zum
Teil unbewußt ist. Das Hineinfühlen in das fremde Kunstwerk ist ein seelischer
Vorgang, der keineswegs gänzlich in das Gebiet des Bewußten gehört. Das
einzelne Wort und das Wörterbuch gibt uns nur die groben Umrisse. Erst
wenn man sich hineinversenkt in den ganzen Text, werden die Konturen der
Bilder schärfer. Man beginne niemals eine Übersetzung, bevor man die Lektüre
des Originals beendet hat. Erst wenn man das Kunstwerk als Ganzes in sich
aufgenommen hat, ahnt man etwas von der Seele, die es in sich entstehen
ließ. Dieses psychische Hineinleben wird dem am besten gelingen, dessen
individuelle Veranlagung der des Dichters am nächsten kommt. Experimenten
ließe sich diese Behauptung an einer hinreichenden Zahl von Übersetzungen be¬
weisen. Doch ist völlige innere Gleichheit der Persönlichkeiten nicht erforderlich,


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[0147] verdeutschen und Verdeutschungen Das mare die Antwort auf die Frage: was soll man übersetzen? Genauer und bestimmter kann auf die Frage: wie soll man übersetzen? geantwortet werden. Wenn auch die heutigen Verdeutschungen sprachlich höher stehen als z. B. die der neunziger Jahre und im Ausdruck und Gedanken sich besser mit den Originalen decken, so spiegeln doch zahlreiche Übersetzungen den Eindruck des Urbildes nur verzerrt und undeutlich wieder. Die Bedingung, daß die ur¬ sprüngliche Form rein, ohne Zusätze und Änderungen rekonstruiert werden muß, erscheint unserer historischen Zeit selbstverständlich. Nur muß man sich davor hüten, diese Bedingung rein äußerlich zu erfüllen. Denn nicht jeder, der ein Wörterbuch besitzt, ist ein Übersetzer. Wörter sind keine mathematischen Formeln, keine Klischees; sondern Bilder. Symbole, durch die wir persönliche Beobachtungen. Schlüsse, Empfindungen. Beziehungen von Dingen untereinander zum Ausdruck bringen; sie sind ein Abglanz seelischer Vorgänge, der leicht getrübt werden kann. Die Bilder werden uns von Tradition. Schule, Milieu dargeboten; sie sind aber auch besonders abhängig von der individuellen Disposition des Dichters. Der Übersetzer hat nun eine doppelte Aufgabe: Inhalt und Wert' von Empfindungen und Gedanken in den fremden Bildern zu erkennen, und diese Empfindungen und Gedanken durch Bilder seiner Sprache dem Leser zu suggerieren. Die Übertragung aus einer fremden Sprache ist ein dichterisches Schaffen, in dem der Gegenstand der Seele bereits unveränderlich vorliegt und die Kon¬ zeption durch das Leseerlebnis ersetzt wird. Der Übersetzer muß nun eine psychische Begabung aufweisen — wenn auch in geringerem Grade —, die den Dichter macht: die Fähigkeit der Seele, die Außenwelt irgendwie zu verarbeiten. Zwar wird beim Übersetzer die Suggestibilitüt alle anderen seelischen Aktionen, Empfindung, Phantasie, Vorstellung, überragen; jedenfalls darf man aber zwischen dem Dichter und dem idealen Übersetzer keinen qualitativen, sondern nur einen quantitativen Unterschied machen. Die Psychologie des Übersetzens ist noch nicht geschrieben, doch will es mir scheinen, daß die Arbeit des Übersetzers genau so wie die des Dichters zum Teil unbewußt ist. Das Hineinfühlen in das fremde Kunstwerk ist ein seelischer Vorgang, der keineswegs gänzlich in das Gebiet des Bewußten gehört. Das einzelne Wort und das Wörterbuch gibt uns nur die groben Umrisse. Erst wenn man sich hineinversenkt in den ganzen Text, werden die Konturen der Bilder schärfer. Man beginne niemals eine Übersetzung, bevor man die Lektüre des Originals beendet hat. Erst wenn man das Kunstwerk als Ganzes in sich aufgenommen hat, ahnt man etwas von der Seele, die es in sich entstehen ließ. Dieses psychische Hineinleben wird dem am besten gelingen, dessen individuelle Veranlagung der des Dichters am nächsten kommt. Experimenten ließe sich diese Behauptung an einer hinreichenden Zahl von Übersetzungen be¬ weisen. Doch ist völlige innere Gleichheit der Persönlichkeiten nicht erforderlich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/147>, abgerufen am 19.10.2024.