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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

"Du wirst sterben, und ich bin nicht bei dir! Du hast mir verschwiegen,
in welcher Gefahr du heute warst. Du bist der Offizier, den sie aus dem
Wagen zerrten. Sie hätten dich totschlagen können. Jetzt gehe ich dir nicht
mehr von der Seite! Ich will mit dir sterben!"

Angesichts dieser elementaren Äußerung einer rückhaltlosen Hingabe regte
sich in dem Genußmenschen ein nie gekanntes Gefühl der Verantwortung.
Bisher nur das Objekt seiner Sinne, das sich scheinbar willenlos seine Liebe
gefallen ließ, war Lolja plötzlich zum Menschen erwacht, der Rechte forderte.

Die Stärke und Aktivität ihrer Empfindung überraschten Wolfs Joachim,
aber eine noch größere Offenbarung war ihm die Wandlung, die in seinem
eigenen Innern vorgegangen war. Er fühlte sich beglückt darüber, daß die
gleiche Leidenschaft, die ihn unterjocht hielt, seitdem er der schönen Frau be¬
gegnet war. auch in ihr selber glühte, und er gestand es sich offen, daß er
zum allerersten Male in seinem an Liebschaften überreichen Leben tief und
wahrhaft liebte.

Diese Erkenntnis brachte ihn alsbald zum Verzicht auf den egoistischen
Wunsch, Lolja auf seine gefahrvolle Reise mitzunehmen. Sie weinte:

"Wenn du mich so liebtest, wie ich dich liebe -- du würdest mich nicht
von dir lassen!"

Aber er blieb sest. Und der zielbewußte Ernst, mit dem er ihr die Gründe
auseinandersetzte, die eine Trennung zu einer Forderung der Vernunft, zu einer
Notwendigkeit machten, wirkte schließlich beruhigend auf ihre Angst und trocknete
ihre Tränen.

Binnen wenigen Stunden waren die Grundlagen seines Lebens total ver¬
ändert. Der künftige Majoratsherr von Bortull, der auf dem Wege war, die
bedrängte Scholle zu verteidigen, fühlte jetzt, wie locker das Band war, das
ihn an die Heimat fesselte. Er sah den Widerstand vor sich, den die Sippe
seiner Absicht, die Russin zu seiner Frau zu machen, entgegenbringen würde.
Der Verzicht auf das Majorat deuchte ihm in dieser Stunde erträglicher als
der Verzicht auf die geliebte Frau. Und doch zog er aus, um sein Leben für
das Erbe der Väter in die Schanze zu schlagen.

Während der Zug sich dem Ziel näherte, kämpfte der junge Baron mit
Anwandlungen von Schwäche und Gleichgültigkeit:

"Mag der Vater sich doch um sein Borküll kümmern! Das beste wäre:
umgehend zurück nach Reval fahren, Lolja holen und irgendwo im Ausland
mit ihr glücklich sein. ..."

Aber das verführerische Bild verblaßte in dem Moment, als er auf Station
Charlottenhof das sorgenvolle Gesicht des alten Maddis aus dem Dunkel auf¬
tauchen sah.

"Oh. Herr Baron!" sagte er mit zitternder Stimme. "Wir haben lange
auf den Jungherrn gewartet."

Während Maddis den Pferden die Schutzdecke abnahm, berichtete er:


Sturm

„Du wirst sterben, und ich bin nicht bei dir! Du hast mir verschwiegen,
in welcher Gefahr du heute warst. Du bist der Offizier, den sie aus dem
Wagen zerrten. Sie hätten dich totschlagen können. Jetzt gehe ich dir nicht
mehr von der Seite! Ich will mit dir sterben!"

Angesichts dieser elementaren Äußerung einer rückhaltlosen Hingabe regte
sich in dem Genußmenschen ein nie gekanntes Gefühl der Verantwortung.
Bisher nur das Objekt seiner Sinne, das sich scheinbar willenlos seine Liebe
gefallen ließ, war Lolja plötzlich zum Menschen erwacht, der Rechte forderte.

Die Stärke und Aktivität ihrer Empfindung überraschten Wolfs Joachim,
aber eine noch größere Offenbarung war ihm die Wandlung, die in seinem
eigenen Innern vorgegangen war. Er fühlte sich beglückt darüber, daß die
gleiche Leidenschaft, die ihn unterjocht hielt, seitdem er der schönen Frau be¬
gegnet war. auch in ihr selber glühte, und er gestand es sich offen, daß er
zum allerersten Male in seinem an Liebschaften überreichen Leben tief und
wahrhaft liebte.

Diese Erkenntnis brachte ihn alsbald zum Verzicht auf den egoistischen
Wunsch, Lolja auf seine gefahrvolle Reise mitzunehmen. Sie weinte:

„Wenn du mich so liebtest, wie ich dich liebe — du würdest mich nicht
von dir lassen!"

Aber er blieb sest. Und der zielbewußte Ernst, mit dem er ihr die Gründe
auseinandersetzte, die eine Trennung zu einer Forderung der Vernunft, zu einer
Notwendigkeit machten, wirkte schließlich beruhigend auf ihre Angst und trocknete
ihre Tränen.

Binnen wenigen Stunden waren die Grundlagen seines Lebens total ver¬
ändert. Der künftige Majoratsherr von Bortull, der auf dem Wege war, die
bedrängte Scholle zu verteidigen, fühlte jetzt, wie locker das Band war, das
ihn an die Heimat fesselte. Er sah den Widerstand vor sich, den die Sippe
seiner Absicht, die Russin zu seiner Frau zu machen, entgegenbringen würde.
Der Verzicht auf das Majorat deuchte ihm in dieser Stunde erträglicher als
der Verzicht auf die geliebte Frau. Und doch zog er aus, um sein Leben für
das Erbe der Väter in die Schanze zu schlagen.

Während der Zug sich dem Ziel näherte, kämpfte der junge Baron mit
Anwandlungen von Schwäche und Gleichgültigkeit:

„Mag der Vater sich doch um sein Borküll kümmern! Das beste wäre:
umgehend zurück nach Reval fahren, Lolja holen und irgendwo im Ausland
mit ihr glücklich sein. ..."

Aber das verführerische Bild verblaßte in dem Moment, als er auf Station
Charlottenhof das sorgenvolle Gesicht des alten Maddis aus dem Dunkel auf¬
tauchen sah.

„Oh. Herr Baron!" sagte er mit zitternder Stimme. „Wir haben lange
auf den Jungherrn gewartet."

Während Maddis den Pferden die Schutzdecke abnahm, berichtete er:


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[0144] Sturm „Du wirst sterben, und ich bin nicht bei dir! Du hast mir verschwiegen, in welcher Gefahr du heute warst. Du bist der Offizier, den sie aus dem Wagen zerrten. Sie hätten dich totschlagen können. Jetzt gehe ich dir nicht mehr von der Seite! Ich will mit dir sterben!" Angesichts dieser elementaren Äußerung einer rückhaltlosen Hingabe regte sich in dem Genußmenschen ein nie gekanntes Gefühl der Verantwortung. Bisher nur das Objekt seiner Sinne, das sich scheinbar willenlos seine Liebe gefallen ließ, war Lolja plötzlich zum Menschen erwacht, der Rechte forderte. Die Stärke und Aktivität ihrer Empfindung überraschten Wolfs Joachim, aber eine noch größere Offenbarung war ihm die Wandlung, die in seinem eigenen Innern vorgegangen war. Er fühlte sich beglückt darüber, daß die gleiche Leidenschaft, die ihn unterjocht hielt, seitdem er der schönen Frau be¬ gegnet war. auch in ihr selber glühte, und er gestand es sich offen, daß er zum allerersten Male in seinem an Liebschaften überreichen Leben tief und wahrhaft liebte. Diese Erkenntnis brachte ihn alsbald zum Verzicht auf den egoistischen Wunsch, Lolja auf seine gefahrvolle Reise mitzunehmen. Sie weinte: „Wenn du mich so liebtest, wie ich dich liebe — du würdest mich nicht von dir lassen!" Aber er blieb sest. Und der zielbewußte Ernst, mit dem er ihr die Gründe auseinandersetzte, die eine Trennung zu einer Forderung der Vernunft, zu einer Notwendigkeit machten, wirkte schließlich beruhigend auf ihre Angst und trocknete ihre Tränen. Binnen wenigen Stunden waren die Grundlagen seines Lebens total ver¬ ändert. Der künftige Majoratsherr von Bortull, der auf dem Wege war, die bedrängte Scholle zu verteidigen, fühlte jetzt, wie locker das Band war, das ihn an die Heimat fesselte. Er sah den Widerstand vor sich, den die Sippe seiner Absicht, die Russin zu seiner Frau zu machen, entgegenbringen würde. Der Verzicht auf das Majorat deuchte ihm in dieser Stunde erträglicher als der Verzicht auf die geliebte Frau. Und doch zog er aus, um sein Leben für das Erbe der Väter in die Schanze zu schlagen. Während der Zug sich dem Ziel näherte, kämpfte der junge Baron mit Anwandlungen von Schwäche und Gleichgültigkeit: „Mag der Vater sich doch um sein Borküll kümmern! Das beste wäre: umgehend zurück nach Reval fahren, Lolja holen und irgendwo im Ausland mit ihr glücklich sein. ..." Aber das verführerische Bild verblaßte in dem Moment, als er auf Station Charlottenhof das sorgenvolle Gesicht des alten Maddis aus dem Dunkel auf¬ tauchen sah. „Oh. Herr Baron!" sagte er mit zitternder Stimme. „Wir haben lange auf den Jungherrn gewartet." Während Maddis den Pferden die Schutzdecke abnahm, berichtete er:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/144>, abgerufen am 19.10.2024.