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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Reichstag und Reichsfinanzen

eine von der bürgerlichen Linken unterstützte Sozialdemokratie die Behandlung
der Reichsfinanzfrage noch einmal treiben werde, nachdem jetzt ein Präzedenzfall
geschaffen worden sei. Das klingt sehr bedrohlich, und man darf hinzufügen,
daß es anscheinend ein sehr wirkungsvolles Argument sein muß, denn diese
Beweisführungen erfreuen sich offenbar einer zunehmenden Beliebtheit. Als die
Konservativen im Jahre 1909 gegen die Erbschaftssteuer kämpften, hieß es
gleichfalls: wenn wir einer aus dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahl¬
recht hervorgegangenen Volksvertretung überhaupt erst einmal gestatten, in die
Besitzverhältnisse einzugreifen, dann werden wir sehr bald bei einer voll¬
ständiges Konfiskation der Privatvermögen angelangt sein; deshalb müssen
wir dem ersten Schritt Widerstand leisten.

Eine sehr merkwürdige Beweisführung! Als ob eine umstürzende oder
radikal vorwärtsdrängende Partei, wenn sie überhaupt die Macht hat, auf die
Beschlüsse der Volksvertretung entscheidend einzuwirken, viel danach fragen würde,
ob es Präzedenzfälle gegeben hat oder nicht! Hat sie aber nicht die Macht zur
Entscheidung, so brauchen wir auch nicht zu fürchten, daß ein Schritt, den wir
selbst freiwillig in einer entgegenkommenden Richtung tun, uns über den Punkt
weiter hinausdrängen könnte, den wir selbst bestimmen. Die Theorie von der
schiefen Ebene trifft nur zu, wenn es sich um Schritte handelte, von denen schon
der erste nicht aus voller Überzeugung und freiem Willen getan wird. Im
übrigen bezeugt die Weltgeschichte gerade die entgegengesetzte Erfahrung. Zu
schädlichen Umwälzungen ist es immer nur gekommen, wenn sich eine in Geltung
oder im formalen Recht befindliche Meinung allzu hartnäckig den Wahrheits¬
momenten verschloß, die in neuen, oppositionell auftretenden Richtungen ent¬
halten waren. Damit ist nicht gesagt, daß man sich allem Neuen blindlings
in die Arme stürzen soll, aber man soll sich auch nicht von einer politischen
Weisheit blenden lassen, die bei näherer Prüfung keine haltbare und greifbare
Idee enthält, sondern nur ein Schema bedeutet. Vor siebzig Jahren gab es
Leute, die die Verfassungen für den ersten Schritt zur Republik, den Konstitu¬
tionalismus für eine Lüge erklärten. Sie haben nur erreicht, daß das, was sie
verhindern wollten, dennoch kam, aber unter Kämpfen und beklagenswerten
Nebenerscheinungen, die nun erst allerlei Unheil im Gefolge hatten, nur gerade
nicht das, was prophezeit worden war. Wenn sich jetzt die Konservativen
klagend, die Sozialdemokraten triumphierend in der Behauptung begegnen, die ,
Beschlüsse des Reichstags in der Besitzsteuersrage und die zustimmende Haltung
der verbündeten Regierungen bedeute einen Sieg der Anschauung, daß man
nun nach Belieben den Besitz immer stärker belasten könne, so steht das auf
gleicher Höhe. Natürlich kann das so kommen, nämlich dann, wenn die bürger¬
lichen Parteien ihre Pflicht nicht tun. Aus der politischen Lage aber folgt es
nicht im geringsten.

Man komme uns also nicht mit allerlei hochklingenden Kassandrarufen,
sondern fasse diese ernsten Probleme fest, scharf und nüchtern ins Auge! Viel-


Reichstag und Reichsfinanzen

eine von der bürgerlichen Linken unterstützte Sozialdemokratie die Behandlung
der Reichsfinanzfrage noch einmal treiben werde, nachdem jetzt ein Präzedenzfall
geschaffen worden sei. Das klingt sehr bedrohlich, und man darf hinzufügen,
daß es anscheinend ein sehr wirkungsvolles Argument sein muß, denn diese
Beweisführungen erfreuen sich offenbar einer zunehmenden Beliebtheit. Als die
Konservativen im Jahre 1909 gegen die Erbschaftssteuer kämpften, hieß es
gleichfalls: wenn wir einer aus dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahl¬
recht hervorgegangenen Volksvertretung überhaupt erst einmal gestatten, in die
Besitzverhältnisse einzugreifen, dann werden wir sehr bald bei einer voll¬
ständiges Konfiskation der Privatvermögen angelangt sein; deshalb müssen
wir dem ersten Schritt Widerstand leisten.

Eine sehr merkwürdige Beweisführung! Als ob eine umstürzende oder
radikal vorwärtsdrängende Partei, wenn sie überhaupt die Macht hat, auf die
Beschlüsse der Volksvertretung entscheidend einzuwirken, viel danach fragen würde,
ob es Präzedenzfälle gegeben hat oder nicht! Hat sie aber nicht die Macht zur
Entscheidung, so brauchen wir auch nicht zu fürchten, daß ein Schritt, den wir
selbst freiwillig in einer entgegenkommenden Richtung tun, uns über den Punkt
weiter hinausdrängen könnte, den wir selbst bestimmen. Die Theorie von der
schiefen Ebene trifft nur zu, wenn es sich um Schritte handelte, von denen schon
der erste nicht aus voller Überzeugung und freiem Willen getan wird. Im
übrigen bezeugt die Weltgeschichte gerade die entgegengesetzte Erfahrung. Zu
schädlichen Umwälzungen ist es immer nur gekommen, wenn sich eine in Geltung
oder im formalen Recht befindliche Meinung allzu hartnäckig den Wahrheits¬
momenten verschloß, die in neuen, oppositionell auftretenden Richtungen ent¬
halten waren. Damit ist nicht gesagt, daß man sich allem Neuen blindlings
in die Arme stürzen soll, aber man soll sich auch nicht von einer politischen
Weisheit blenden lassen, die bei näherer Prüfung keine haltbare und greifbare
Idee enthält, sondern nur ein Schema bedeutet. Vor siebzig Jahren gab es
Leute, die die Verfassungen für den ersten Schritt zur Republik, den Konstitu¬
tionalismus für eine Lüge erklärten. Sie haben nur erreicht, daß das, was sie
verhindern wollten, dennoch kam, aber unter Kämpfen und beklagenswerten
Nebenerscheinungen, die nun erst allerlei Unheil im Gefolge hatten, nur gerade
nicht das, was prophezeit worden war. Wenn sich jetzt die Konservativen
klagend, die Sozialdemokraten triumphierend in der Behauptung begegnen, die ,
Beschlüsse des Reichstags in der Besitzsteuersrage und die zustimmende Haltung
der verbündeten Regierungen bedeute einen Sieg der Anschauung, daß man
nun nach Belieben den Besitz immer stärker belasten könne, so steht das auf
gleicher Höhe. Natürlich kann das so kommen, nämlich dann, wenn die bürger¬
lichen Parteien ihre Pflicht nicht tun. Aus der politischen Lage aber folgt es
nicht im geringsten.

Man komme uns also nicht mit allerlei hochklingenden Kassandrarufen,
sondern fasse diese ernsten Probleme fest, scharf und nüchtern ins Auge! Viel-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/112>, abgerufen am 28.12.2024.